Die verborgenen Beziehungsnetze in der EU
Der Policy Brief zum EU Coalition Explorer
Expertenbefragung in 28 Hauptstädten veranschaulicht erstmals das komplexe Beziehungsgeflecht der EU-Mitgliedstaaten.
Welche Hauptstädte haben den größten Einfluss in der EU und welche EU-Staaten gelten als wichtigste Partner? Welche Länder haben dieselben Interessen und kooperieren am häufigsten und engsten mit wem? Welche Regierungen gelten als besonders einfach in der Zusammenarbeit? Europa-Profis in Regierung und Denkfabriken eines Landes wissen genau wie sie selbst denken und was sie von anderen halten. Was sie nicht wissen ist, was in den anderen Hauptstädten über sie gesagt und gedacht wird.
Klarheit über das unsichtbare Beziehungsnetz der EU-Mitgliedstaaten bringt der European Council on Foreign Relations (ECFR) mit einem interaktiven Datenatlas: Der EU Coalition Explorer präsentiert die Ergebnisse einer Befragung von Regierungsvertretern und Europaexperten aus allen 28 Mitgliedstaaten der EU.
Zum ersten Mal werden hier die Ansichten der Praktiker und Experten zur Koalitionsbildung in Europa grafisch veranschaulicht. Mit dem Atlas stehen die Daten vollständig den Regierungen und Forschungseinrichtungen, aber zeitgleich auch der breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung.
Die wichtigsten Ergebnisse der Expertenumfrage fassen Josef Janning und Christel Zunneberg in diesem Policy Brief zusammen.
Bei der Verbundenheit der Staaten untereinander sowie zu deren wahrgenommenen Einfluss auf die EU-Politik zeichnet sich die Schlüsselrolle Deutschlands und Frankreichs deutlich ab. Daneben wird die Bedeutung der anderen großen Staaten (Großbritannien – auch nach dem Austritt –, Italien, Polen und Spanien) und kleinerer Staaten, nämlich die Niederlande und Schweden sichtbar, die im Kreis aller EU-Staaten durch die enge Verflechtung mit anderen auffallen und hohe Wertschätzung erfahren. Der gleiche Kreis von acht Staaten steht auch im Ranking des Einflusses auf die EU-Politik im Mittelpunkt und befindet sich unter den Staaten die am häufigsten als “wichtige Partner“ genannt werden.
Auf dem Weg zu einem Europa der mehr Geschwindigkeiten
Das Gesamtergebnis der europäischen Expertenumfrage zeigt eine ausgeprägte Bereitschaft zu differenzierter EU-Integration. Die Praktiker und Experten wurden gebeten, in 16 verschiedenen Politikfeldern die von ihren Regierungen bevorzugte Handlungsebene zu benennen. Mehr als ein Drittel der Befragten aus allen EU-Staaten bevorzugt entweder das Voranschreiten in Kerngruppen mit eigener Rechtsgrundlage oder informelle Koalitionen der Willigen gegenüber dem Gemeinsamen Handeln aller Mitgliedstaaten oder rein nationaler Politik.
Je nach Politikfeld unterscheidet sich jedoch das Koalitionszentrum, so dass es mehrere politische Zentren gibt. Die deutsch-französische Achse bildet zwar oft den Kern, erfolgreiche Koalitionsinitiativen setzen aber das Mitwirken anderer Partner voraus, vor allem in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sowie der Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik. Länder im Zentrum solcher Initiativen werden versuchen, den Kreis der Partner auszuweiten, und ihnen verbundene Staaten einzubringen und Mehrheiten zu bauen. Aus Berliner Perspektive wäre es zum Beispiel sinnvoll, Partnerländer aus der Visegrád-Gruppe zu gewinnen, um die Reichweite der Koalition nach Osten zu sichern.
„Der Europäischen Union fehlt ein Kreis an Staaten, die bereit sind, gemeinsam zu handeln und die europäische Integration voranzutreiben,“ stellt Josef Janning, Leiter des Berliner Büros es ECFR fest. „Um den aktuellen Fliehkräften entgegenzuwirken, werden die EU-Mitgliedstaaten künftig verstärkt durch strukturierte Gruppen oder informelle Koalitionen der Willigen für „mehr Europa“ zusammenarbeiten müssen.“
Christel Zunneberg, Research Assistentin im Rethink: Europe Projekt des ECFR fügt hinzu: „Es stellt sich heraus, dass das Koalitionszentrum sich je nach Politikfeld unterscheidet, so dass es mehrere politische Kraftfelder gibt. Dies wird den Weg zu einem Europa der mehr Geschwindigkeiten prägen.“
Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.