Europas Nachbarschaft: Krise als neuer Normalzustand

Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) muss drastisch reformiert werden, um auf die Krisen vor Europas Haustür angemessen reagieren zu können

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Die EU muss ihre Nachbarschaftspolitik überdenken

Laut eines neuen ECFR-Papiers muss die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) der EU drastisch reformiert werden. Im Angesicht von Konflikten, (Gegen-)Revolutionen und wiederaufflammendem Extremismus bedarf es einer Neuausrichtung, um angemessen reagieren zu können.

Der Essay Europe’s „Neighbourhood: Crisis as the new normal“ von Susi Dennison und Nick Witney, der auch als Beitrag zu den Beratungen der Europäischen Kommission über die ENP verfasst wurde, ist ein Weckruf an die Europäer. Diese müssen endlich anerkennen, dass obwohl die Nachbarschaftsregion zwar geografisch gesehen Europas Vorgarten ist, diese jedoch nicht von ihr kontrolliert werden kann. Die alte Idee durch Europas normativen Einfluss in den 16 Ländern, die von der Nachbarschaftspolitik erfasst werden, einen graduellen Wandel bewirken zu können, muss durch einen nüchterneren Ansatz ersetzt werden. Ein solcher Bewusstseinswandel würde die Grundlage für eine spezifischere und realitätsnähere Politik in dieser Region bilden.

Dennison und Witney setzen sich dafür ein, die europäische Nachbarschaftspolitik regional in Ost und Süd zu untergliedern und jeweils einem Kommissar zu unterstellen. Die Kommissare würden dann als Stellvertreter von Federica Mogherini, der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, fungieren.

Eine solche Unterteilung würde eine Neubewertung der europäischen Interessen in den beiden Regionen unterstützen. Die Autoren schlagen in diesem Sinne vor, dass sich die EU im Osten der Herausforderung durch Russland in der Ukraine stellen sollte, indem sie wirtschaftliche und finanzielle Hilfe an die Kiewer Regierung leistet. Im Süden sollte sie sich auf die Flüchtlingskrise konzentrieren. Hier gilt es die Sahelzone und das Horn von Afrika in eine breitere Strategie zu integrieren und gleichzeitig die verbleibenden Stabilitätsinseln in der Region, wie Tunesien, Jordanien und den Libanon, zu unterstützen. Ferner sollte Europa auch wieder auf die Türkei als regionale Macht zugehen.

Die Autoren rufen außerdem zu mehr Realismus und Offenheit zwischen den Mitgliedstaaten auf. Da die nationalen Interessenlagen stark divergieren, ist es wichtig, dass sie sich über ihre spezifischen Interessen und Prioritäten innerhalb der Nachbarschaftsregion austauschen.

Zuletzt warnen die Autoren vor übereilten Schritten: Bevor Entscheidungen über eine ENP-Reform getroffen werden, sollte der von der Hohen Vertreterin Mogherini für 2016 angekündigte Abschlussbericht des Reviewprozesses der außenpolitischen Strategie der EU abgewartet werden.

 

Nick Witney, Co-Autor von „Europe’s Neighbourhood: Crisis as the new normal“:

“Die ENP wurde von den Ereignissen in Europas Nachbarschaft überrannt und kann die an sie gestellten Aufgaben nicht länger erfüllen. Während Krisen in Europas Vorgarten zum Normalzustand geworden sind, geht die Zeit eines europäischen Paternalismus gegenüber den EU-Nachbarländern zu Ende.“

“Anstatt die ENP als Patentlösung für Europas gesamte Nachbarschaft zu betrachten, sollte sie als Werkzeugkoffer verstanden werden, dessen Instrumentarium flexibel angewendet werden kann. Dafür bedarf es einer stärkeren Differenzierung zwischen den östlichen und südlichen Nachbarn sowie einer offenen Diskussion darüber, wo die Mitgliedstaaten sich überschneidende Interessen und komplementäre Einflusschancen sehen und wo nicht.“

“Während es verlockend wäre zu schlussfolgern, die ENP könnte einfach ausrangiert werden, würde dies weder den politischen Gepflogenheiten entsprechen noch wäre es sonderlich wünschenswert. Vielmehr muss sie radikal reformiert werden.“

Mark Leonard, Direktor des ECFR:

“In der Eröffnungsrede zu den Beratungen über die Zukunft der ENP betonte die Hohe Vertreterin Mogherini das wachsende Ausmaß der Herausforderungen vor denen wir stehen: wirtschaftlicher Druck, Migration und Sicherheitsbedrohungen.“

“Die ENP – so wie sie im Moment konzipiert ist – ist ungeeignet, um mit diesen unterschiedlichen und gefährlichen Krisen fertig zu werden. Wir brauchen Policies die so robust sind, dass sich die EU in Krisenzeiten behaupten kann und die flexibel genug sind, um auf die große Bandbreite unterschiedlichster Herausforderungen reagieren zu können.“

Emma Bonino, frühere Außenministerin Italiens und Co-Vorsitzende des ECFR:

“Die Welt hat sich verändert. Die EU hat weder die Kapazität noch die Fähigkeit westliche Werte in unserer Nachbarschaft durchzusetzen. Daher brauchen wir eine realistische Vorstellung über das, was wir in der Lage sind zu tun.”

“Zuerst müssen wir anerkennen, dass wir im Süden und Osten vor unterschiedlichen, aber nicht weniger gravierenden Herausforderungen, stehen. Wenn die EU einen eigenen Kommissar für jede dieser Regionen hätte, wäre sie in der Lage besser an die jeweilige Situation angepasste Policies zu entwickeln und wirksamer zu handeln. Zwei Kommissare für die ENP würden auch die Stimmen innerhalb der Kommission stärken, die für eine stärkere Außenpolitik eintreten.“

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.