Der grosse Bruch: vier Endzeitszenarien für die Europäische Russlandpolitik

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Zusammenfassung

  • Trotz aller Schwierigkeiten hat Europa es seit Beginn der Krise in der Ukraine 2014 geschafft, in seiner Russlandpolitik einig und stark aufzutreten.  Welche Kräfte oder Entwicklungen könnten das untergraben und was wären die Konsequenzen? In diesem Papier präsentieren wir vier Schreckensszenarien, wie Europas Russlandpolitik kollabieren könnte.
  • Die hier entwickelten Szenarien sind 1) die EU entscheidet sich, die russische Vorstellung des Minsk-Abkommens umzusetzen, 2) die EU wird Ukraine-müde und akzeptiert den Status quo und somit einen weiteren „frozen conflict“ in der Nachbarschaft, 3) die USA ziehen sich aus der Ukrainepolitik zurück und beenden die Sanktionen gegenüber Russland, was die Europäer geschwächt hinterlässt, und 4-9 ein „Großmachtdeal” zwischen Putin und Trump erschüttert die EU und erlaubt es Russland die Ukraine in seine Einflusssphäre zu bringen.
  • Damit diese Schreckensszenarien nicht Realität werden, muss die EU weiter stark und einig auftreten. Das ist möglich, indem die Sanktionen fortgesetzt und auch die Lücken ausgefüllt werden, die die USA mit ihrem Rückzug hinterlassen. 

Introduction

In den drei Jahren seit dem Einmarsch in die Ukraine ist etwas Merkwürdiges geschehen: Europa zeigte Einigkeit in seiner Russlandpolitik. Die Frage nach dem richtigen Verhalten der Europäischen Union gegenüber Russland war lange umstritten – manchmal sogar Anlass für erbitterten Streit. Gegenwärtig besteht aber ein breiter Konsens hinsichtlich der Herausforderung, die Russland darstellt, zusammen mit einer Billigung – wenn auch in gewissen Gruppen etwas verhalten – der Maßnahmen, die Europa ergreifen sollte, um dieser Herausforderung zu begegnen. Dieser Konsens war stärker als die Flüchtlingskrise, die Brexit-Abstimmung und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und er hat diverse andere Wahlen und politische Umwälzungen sowie die europäischen Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Sanktionen und die Versuche Russlands, unter den Europäern Zwietracht zu säen, schadlos überstanden. Er hat auch die Vorhersagen der Experten widerlegt, dass die europäische Einheit zusammenbrechen würde. Letztendlich hat sich die Einheit Europas als stärker und widerstandsfähiger als weithin gedacht herausgestellt.

Was sind nun trotz dieser Einheit die Kräfte, welche die EU in ihrer Position gegenüber Russland und der Ukraine zu spalten drohen? Und was wäre die Konsequenz, wenn die geordnete Politik Europas gegenüber Russland und der Ukraine ins Wanken geriete? Diesen Fragen geht dieses Papier nach. Dabei soll aber nicht in erster Linie eine Beschreibung der politischen Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart im Vordergrund stehen, sondern es soll ausgelotet werden, was die Zukunft bringen könnte. Es werden verschiedene Szenarien beschrieben, unter welchen Umständen die EU-Politik gegenüber Russland und der Ukraine scheitern könnte. Der Zweck dieser Szenarien ist es, einerseits die politische Dynamik und das Wirken verschiedener politischer Kräfte, die die aktuelle Politik untergraben könnten, dezidiert darzustellen, und andererseits die Stärken und Schwächen der Haltung Europas klar aufzuzeigen. Sie weisen auch auf die Konsequenzen hin, die ein Abweichen von dem eingeschlagenen Kurs für Europa haben könnte.

Die vier Szenarien eines möglichen Zusammenbruchs sind:

  1. Eine erzwungene Umsetzung des Minsker Abkommens” indem Europa Kiew dazu zwingt, die Minsker Vereinbarungen zu den Konditionen Russlands anzunehmen;
  2. eine Normalisierung des Status quo, wenn Europa das Interesse an der Ukraine verliert und einen weiteren ungelösten Konflikt in Europa in Kauf nimmt;
  3. eine generelle Aufgabe der Sanktionen gegen Russland und der Unterstützung der Ukraine; und
  4. ein Kompromiss der „Großmächte” USA und Russland in Bezug auf die europäische Sicherheit.

Wie bei allen derartigen Szenarien, sind die betreffenden Überlegungen stark spekulativer Natur. Es geht nicht darum, die Zukunft vorauszusagen, sondern die möglichen Worst-Case-Szenarien zu betrachten, um zu zeigen, was auf dem Spiel steht, wo die Schwachstellen Europas sind, und hoffentlich eine Debatte über die Zukunft der europäischen Politik gegenüber Russland und der Ukraine anzuregen.
 

Szenario eins: Die„erzwungene Umsetzung des Minsker Abkommens”

Die deutschen Bundestagswahlen fanden am 24. September 2017 statt. Noch vor wenigen Monaten schien die Wiederwahl von Angela Merkel und eine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin eine Selbstverständlichkeit. Die Aussicht darauf, dass Donald Trump, Marine Le Pen und die Fünf-Sterne-Bewegung den Planeten regieren könnten, hatte viele Deutsche unruhig gemacht und eine gewisse Stabilität herbeigeführt. Aber bis zum Wahltag hatte sich die Stimmung verändert. Die Menschen hatten seit über einem Jahrzehnt die Kanzlerin im Fernsehen begleitet und es machte sich nun eine gewisse „Merkel-Müdigkeit” bemerkbar; die Menschen sehnten sich nach etwas Neuem und gaben den Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums ihre Stimme oder gingen erst gar nicht zur Wahl. Ein Terroranschlag, der eine Woche vor den Wahlen von einem Flüchtling begangen worden war, der unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz gestanden hatte, stürzte die Regierung in eine Vertrauenskrise – und verstärkte erneut die Ressentiments gegen die etablierte Politik.

Als die Wahlergebnisse am Abend des 24. September eingingen – übrigens der wärmste Tag in Deutschland in zwei Jahrhunderten – wurde es dem Fernsehpublikum langsam klar, dass die Wählerschaft von Merkels CDU und der Schwesterpartei CSU weggebrochen war. Die Parteien mussten gegenüber den Sozialdemokraten (SPD) einen zweistelligen Verlust hinnehmen. Noch am selben Tag gab Merkel einer verblüfften Nation bekannt, dass sie nach 12 Jahren als Kanzlerin zurücktreten werde. Am nächsten Tag erklärte der SPD-Vorsitzende Martin Schulz, dass bereits vereinbart worden sei, mit der Partei Die Linke und mit den Grünen eine Koalitionsregierung zu bilden.

Die Russlandpolitik Deutschlands änderte sich zwar nicht sofort, aber nach nur einer Woche lies sich ein tiefer Einschnitt erkennen. Führungspositionen im Kanzleramt wurden mit Quereinsteigern besetzt, die kein Verständnis für die taktischen Hindernisse hatten, die bei den Verhandlungen im Normandieformat oder im Rahmen der trilateralen Kontaktgruppe in Minsk zu überwinden waren. Nach einer hastigen Überarbeitung der bisherigen Politik verkündete das Kanzleramt eine Politik des „Neuanfangs mit Russland”. Man habe erkannt, dass Russland ungerecht behandelt worden sei, und dass vor allem Kiew für die Nichtumsetzung der Minsk-Vereinbarungen verantwortlich sei. Anonyme Quellen im Kanzleramt widersprachen heftig allen Vermutungen, dass der politische Richtungswechsel irgendetwas mit den negativen Effekten der Sanktionen auch auf die deutsche Wirtschaft zu tun habe. Die neue Außenministerin und Vorsitzende der Partei „Die Linke”, Sahra Wagenknecht, stellte sich in der Öffentlichkeit hinter diesen „Neuanfang”.

Der erste Schritt Berlins bestand darin, Kiew dazu zu zwingen, den Forderungen Russlands nach Kommunalwahlen in den Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) nachzugeben und ein Gesetz zu erlassen, welches den genannten Territorien einen Sonderstatus gewährte, ohne im Gegenzug einen nachhaltigen Waffenstillstand oder einen Truppenabzug zu verlangen. Diese neue Interpretation des Minsker Abkommens wurde von den baltischen und den skandinavischen Staaten sowie von Großbritannien und einigen osteuropäischen Staaten abgelehnt. Aber sie waren nicht in der Lage, eine handlungsfähige Koalition zu bilden, die der Macht Berlins etwas entgegenzusetzen hätte. Insbesondere, da die Regierung Trump sich in diesem Fall – und gänzlich unerwartet –  auf die Seite Berlins geschlagen hatte. Der noch junge und unerfahrene französische Präsident Emmanuel Macron hielt instinktiv an seiner Haltung gegenüber Russland fest, insbesondere wegen der Einmischung der Russen in die Präsidentschaftswahl seines Landes. Aber er scheute davor zurück, wegen Russland und der Ukraine einen Streit mit Berlin heraufzubeschwören, da er eine gute Arbeitsbeziehung zu Berlin benötigte, um seine Wirtschaftspläne umzusetzen.

Diejenigen Mitgliedsstaaten, die sich bereits schon länger für die Aufhebung der Sanktionen stark gemacht hatten – nämlich Italien, Ungarn und Österreich – waren von dem Richtungswechsel in Berlin begeistert und erklärten sich bereit, die neue Politik zu unterstützen. Sie verloren keine Zeit, die Ukraine als hoffnungslosen Fall und als einen gescheiterten Staat abzutun. Sie waren zwar so taktvoll, nicht offen für eine sofortige Aufhebung der Sanktionen einzutreten, aber sie argumentierten dahin gehend, dass Europa in der Ukraine einen härteren Kurs einschlagen und weitere Bedingungen stellen müsse, um Kiew zur Einhaltung seiner Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen zu zwingen.

Die Sitzung des Europäischen Rates im Dezember 2017 war ein Wendepunkt. Während einer Nachtsitzung drängte Bundeskanzler Martin Schulz eine Gruppe nordeuropäischer Führungspersönlichkeiten energisch dazu, seine Strategie eines Neuanfangs mit Russland und insbesondere eine Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen gegen Russland zu unterstützen. Diese neue Politik sah vor, dass die Sanktionen gegen Russland nur dann erneuert würden, wenn Kiew das Gesetz über den Sonderstatus der Donbas-Region verabschiedete und Russland erlaubte, in DNR und LNR Regionalwahlen abzuhalten.

Dieser Richtungswechsel der EU traf in Kiew auf heftigen Widerstand und verursachte einen Aufschrei in der ukrainischen Zivilgesellschaft. Aber die ukrainische Regierung hatte kaum eine andere Wahl, als diese neue Realität zu akzeptieren. Auch auf dem Östlichen Partnerschaftsgipfel im November hatte Schulz bereits die Fortsetzung der Visa-Liberalisierung und des Abkommens über eine „Vertiefte und umfassende Freihandelszone” (DCFTA) mit der Umsetzung von Minsk verknüpft. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko befürchtete, dass eine Konfrontation mit Europa, die Reformen dreier Jahre in Gefahr bringen könnte, und er war sich dessen bewusst, dass die Ukraine ohne europäische Unterstützung kaum überlebensfähig war.

Twister: a Minsk Edition, caricature

Poroschenko stimmte den Forderungen der EU zu, um Kritik von seinen europäischen Kollegen zu vermeiden, hoffte aber heimlich, dass das Amt für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) den Wahlen letztlich die Anerkennung verweigern werde. Aber das BDIMR – das bereits vorher schon starkem Druck seitens verschiedener Autokraten Zentralasiens und „souveräner Demokratien” Europas ausgesetzt gewesen war – knickte angesichts der Forderungen Wagenknechts ein, und gab zu den Wahlen eine Erklärung ab, die auf eine offizielle Anerkennung der Wahlen als frei und demokratisch hinauslief.

Die Regionalwahlen im Donbas waren mehr oder weniger eine Farce. Während die Wähler die Wahllokale aufsuchten, war in der Ferne Maschinengewehrfeuer zu hören. Ukrainische politische Parteien waren von den Wahlen ausgeschlossen und den ukrainischen Medien war es verboten, den Donbas zu besuchen, um über die Wahlen zu berichten. Stattdessen übernahmen lokale „separatistische” Medien die Berichterstattung mit einer irreführenden Mischung aus Fakten und Märchen. Sondereinsatzgruppen des Geheimdienstes der russischen Armee versuchten Kandidaten einzuschüchtern und sogar auszuschalten, die sich gegen die russische Besetzung der Region aussprachen.

Eine kriegsähnliche Situation mit täglichem Beschuss und mit Feuergefechten an den separatistischen „Grenzen” sowie das Vorhandensein von Landminen machte die Durchführung einer Wahlkampagne so gut wie unmöglich und führte dazu, dass Wähler, die auf die von Kiew kontrollierte Seite geflüchtet waren, den gefährlichen Weg in die Wahllokale im Krisengebiet lieber nicht antreten wollten. Die wenigen BDIMR-Wahlbeobachter, die in die DNR- und LNR-Gebiete entsandt wurden, um ein Zeichen zu setzen, wurden von separatistischen Milizen eskortiert und nur zu vorher festgelegten Wahllokalen gebracht. Das Wahlergebnis war bereits vorherbestimmt und die Wahlen waren lediglich ein Schauspiel, um die Separatisten zu legitimieren.

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die separatistischen Regime bleiben würden, hatte fast die Hälfte der Bevölkerung der DNR- und LNR-Regionen ihre Sachen gepackt, und war in den von Kiew kontrollierten Teil des Donbas geflohen. Die, die blieben, waren meistens gebrächliche Rentner, oder Kriegsveteranen, denen bei Überquerung der Demarkationslinie Verhaftung drohen würde.

Wenige Tage nach den Wahlen forderten die neuen Behörden zusätzliche Mittel von Kiew, um die Volksrepubliken zu finanzieren. Insbesondere forderten sie Sozialzahlungen, da die Minsk-Vereinbarungen dies verlangten. Berlin und andere europäische Hauptstädte schienen dieser Interpretation von Minsk zu folgen, was die Ukrainer in Rage brachte. Die Haushaltssitzungen der Rada endeten in Faustkämpfen, weil die Parlamentarier nicht mit Gesetzesänderungen in Verbindung gebracht werden wollten, welche zur Finanzierung der russischen Stellvertreter in den umkämpften Regionen beitragen sollten.

Die Wahlen wurden in Moskau als großer Erfolg gefeiert. Als man im Kreml erkannte, dass man dem Ziel, die Ukraine in das eigene Einflussgebiet einzugliedern, wieder ein Stück nähergekommen war, wurden den Streitkräften in den DNR- und LNR-Regionen befohlen, den militärischen Druck auf die Ukraine zu verstärken. Russische Geheimdienstmitarbeiter in der DNR und der LNR nutzten ihre neu gewonnene Immunität, um mit pro-russischen Aktivisten in der Ukraine Verbindung aufzunehmen. In Odessa, Charkow, Dnipro und anderen Städten begannen die Mitglieder der subversiven Hooligan Clubs (titushki) Druck auf lokale Reformisten, Investigativjournalisten und Politiker auszuüben. Korrupte lokale Sicherheitsdienste taten nicht viel, um deren weitere Ausdehnung und Absprachen mit dem organisierten Verbrechen zu stoppen. Mit Hilfe dieser Personen wurden zum Zweck der Vorbereitung eines allgemeinen Volksaufstands pro-russische Frontorganisationen geschaffen, und die Ukraine als ein versagender Staat Europas dargestellt.  Wegen der zunehmend destabilisierten Lage in der Ukraine verschlechterten sich die Aussichten auf Wirtschaftswachstum und die Anleger begannen, das Land zu verlassen.[1]

Aber die Stimmung kippte, als die Separatisten versuchten, ihre Sitze in der Rada einzunehmen. Unter dem Vorwand der „Wiedereingliederung” des Donbas, wie sie letztlich in den Minsker Vereinbarungen vorgesehen war, nahmen separatistische Politiker an den Wahlen 2019 teil. Die Donbas-Kandidaten waren meist von Russland unterstützte Separatisten, die dort im Krieg gekämpft hatten. Die meisten Kandidaten wurden problemlos gewählt, was das Ende des normalen politischen Lebens in Kiew bedeutete. Die ukrainische Zivilgesellschaft organisierte massive Demonstrationen gegen die Abgeordneten, die als russische Trojanische Pferde gesehen wurden. Es dauerte nicht lange, bis die Demonstrationen gewalttätig wurden.

Der Ausbruch der Gewalt war das Signal für die „titushki”-Vereine in der Ukraine, große Antiregierungsproteste zu organisieren. Mit diesen orchestrierten Protesten gelang es, Ukrainer anzusprechen, die mit der Regierung in Kiew äußerst unzufrieden waren und die ihrem Zorn über den wirtschaftlichen Abschwung, die Korruption und den Krieg im Osten Ausdruck geben wollten. In mehreren Städten endeten Proteste und Gegenproteste in offenem Aufruhr und in Zusammenstößen mit der Polizei. Die Anzahl der Todesopfer war deutlich höher als während der Revolution im Jahr 2014. Der Kreml beobachtete genau, ob die laufenden Aufstände eine Gelegenheit boten, die Machtübernahme in Kiew einzuleiten.

Separatistische Kräfte, zu denen auch viele reguläre russische Soldaten zählten, wurden in „Volksmilizen” umgewandelt, wie sie in einer Fußnote zum zweiten Minsker Abkommen genannt wurden. Sie erhielten weiterhin materielle Unterstützung aus Russland, die aber nun als Teil der grenzübergreifenden Kooperation, die nach der Interpretation Moskaus im Einklang mit dem Minsker Abkommen stand, legitimiert war. Dies wurde durch die russische Kontrolle der Grenze erleichtert. Russland hatte erklärt, die Kontrolle der Grenze erst dann an die Ukraine zu übergeben, wenn diese ihren Pflichten aus dem Minsk-Abkommen vollumfänglich nachgekommen sei.

Als die Antiregierungsproteste stärker wurden, wurden diese Einheiten über die Kontaktlinie geschickt, um den Demonstranten Schutz zu gewähren. Separatistische Putschversuche in Odessa und Dnipro waren letztlich nicht erfolgreich. Ein weiterer Versuch gelang jedoch in Charkow. Unter diesen Umständen kam das politische Leben in Kiew vollständig zum Erliegen. Poroschenko erklärte den nationalen Notstand und ging dazu über, per Dekret zu regieren. Es wurde eine neue Regierung mit Premierminister Arsen Avakov an der Spitze gebildet. Nachdem er sich in seiner Zeit als Innenminister seinen eigenen „tiefen Staat” aufgebaut hatte, wurde er zum neuen starken Mann der Ukraine. Er stützte sich bei der Regierung des Landes auf den ukrainischen Nachrichtendienst, und verwendete die Erkenntnisse des Nachrichtendienstes für politische Zwecke.

Der internationale Aufschrei über die Aktionen Russlands begann erneut, aber diesmal konnte sich Europa auf keine gemeinsame Reaktion einigen. Mehrere Mitgliedsstaaten wiesen auf die politische Forderung eines „Neubeginns mit Russland” hin, und verweigerten die Beteiligung an weiteren Maßnahmen gegen Russland. Stattdessen konnte der Europäische Rat nicht mehr tun, als eine sorgfältig formulierte Schlusserklärung abzugeben, in der alle Seiten aufgefordert wurden, Zurückhaltung zu üben und auf eine friedliche Lösung hinzuarbeiten. Die US-Reaktion war gleichermaßen ausgewogen und zweideutig. Die Bereitschaft, nach den Regeln des Minsker Abkommens zu spielen und die Ukraine in einen Sumpf zu steuern, hatte Poroschenko nicht nur delegitimiert, sondern hatte das Vertrauen des ukrainischen Volkes in die nach dem Maidan entstandene politische Klasse und in die EU zerstört. Diejenigen Mitglieder der jungen innovativen Generation der Ukraine, die dies konnten, verließen die Ukraine in Richtung Europa.

Aufgrund der Entscheidung, Kiew die Minsk-Abkommen aufzuzwingen, entstand bei den mittel- und osteuropäischen Ländern in der EU eine gewisse Skepsis gegenüber der Führerschaft des Westens. Das Misstrauen in Europa und die darauffolgenden Konflikte brachten die EU-Politik zum Stillstand und behinderten die Reform der EU und der Eurozone. Die Bildung von projektspezifischen Koalitionen oder eine ständige strukturierte Zusammenarbeit, wie sie in den Verträgen dargelegt wurde, wurde aufgrund des Misstrauens gegenüber den alten Mitgliedern von den nord- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten blockiert. Der Glaubwürdigkeit der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik” der EU wurde ein schwerer Schlag zugefügt, insbesondere in Bezug auf die Fähigkeit dieser Politik, in der östlichen Nachbarschaft Stabilität und Reformen zu gewährleisten. Brüssels Unfähigkeit eine gemeinsame Politik gegenüber Russland zu vertreten, führte dazu, dass einige Mitgliedsstaaten bilaterale Abkommen in Erwägung zogen, um ihre eigene nationale Sicherheit zu gewährleisten. Am Ende griff das politische Chaos in Kiew auf Brüssel über.
 

Szenario zwei: Normalisierung des Status quo in der Ukraine

Der Östliche Partnerschaftsgipfel fand ohne viel Aufhebens aber mit vielen Fragen zur Zukunft der Region im November 2017 statt. Die Ukraine hatte ihre beiden Hauptziele, nämlich das Abkommen über eine „Tiefe und umfassende Freihandelszone” (DCFTA) und die Visa-Liberalisierung, erreicht, aber neue Flaggschiff-Projekte zur Förderung der Europäisierung der Ukraine oder zur Anregung weiterer Reformen waren nicht in Sicht. Europa war ganz mit internen Krisen und politischen Streitigkeiten im Rahmen der Brexit-Verhandlungen beschäftigt und hatte zum Ende des Jahres 2017 das Interesse an der Ukraine verloren. Obwohl einige Mitgliedsstaaten die Ukraine weiterhin als wichtig betrachteten, konnte der politische Wille für eine weitere Vertiefung der Beziehungen zur Ukraine in Europa nicht aufgebracht werden. Deutschland und einige andere Mitgliedsstaaten hatten sogar versucht, die Selbstverpflichtung der Europäischen Union zur Förderung europäischer Bestrebungen in der Ukraine zu widerrufen. 2018 war ein Jahr des Durchwurstelns.

In der Ukraine führte die mangelnde Aufmerksamkeit aus Europa und der Mangel an neuen Zielen zunächst zu einer Stagnation und dann zu einer Zurückentwicklung der Reformen. Petro Poroschenko bot den Oligarchen aus der Ära von Viktor Janukowitsch an, ihre wirtschaftlichen Gewinne im Austausch gegen politische Loyalität neu zu verteilen. Bei den Wahlen 2019 trat Poroschenko gegen den Oligarchen Victor Pinchuk an, der die Wahl mit Leichtigkeit für sich entschied. Brüssel war nicht unglücklich über das Ergebnis, aber dieser „Sieg” war auf Kosten der Delegitimierung und Isolierung alternativer pro-europäischer Kandidaten wie Serhiy Leshchenko errungen worden. Selektive Ermittlungen, politisch motivierte Prozesse und voreingenommene Fernsehberichterstattung waren wieder Teil der Innenpolitik der Ukraine. Bald sah die neue Ukraine wie die alte Ukraine aus, und die traditionellen Unterstützer von Kiew in Brüssel waren immer weniger geneigt, sich für das Land einzusetzen.

Bis 2019 waren aus den beiden Volksrepubliken in der Donbas-Region de facto dem Kreml hörige Militärdiktaturen geworden. Die lokale Wirtschaft – jenseits des Organisierten Verbrechens – war effektiv zusammengebrochen. Sobald die meisten Fabriken des Oligarchen Rinat Akhmetov verstaatlicht und nach Russland verlagert worden waren, wurden die separatistischen Streitkräfte zum Hauptarbeitgeber. Nachdem Europa „Fortschritte bei den Minsk-Vereinbarungen” angemahnt und nachdem man in Kiew erkannt hatte, dass die EU das Interesse an der Ukraine verloren hatte, verabschiedete die Rada eine kurzgefasste Verfassungsänderung, welche dem Donbas mehr Autonomie gewährte. Das Inkrafttreten dieser Änderung wurde aber von einem Abzug der russischen Streitkräfte und der Rückgabe der Grenzkontrolle an die Ukraine abhängig gemacht. Moskau wies dieses Ansinnen zurück und bestand auf der durch Militär und Geheimdienst ausgeübten Kontrollfunktion.

Die Sicherheitslage entlang der Kontaktlinie blieb unverändert, mit täglichem Artilleriebeschuss und Feuergefechten. Russland verfügte über eine ganze Reihe militärischer Optionen in der Region und zwang Kiew so, einen beträchtlichen Teil des Staatshaushalts und der Aufmerksamkeit der Regierung der Aufrechterhaltung seiner militärischen Präsenz im Osten zu widmen. Die andauernden Spannungen in der Region Donbas schreckten Investoren und Unternehmen ab, schufen wirtschaftliches Ungleichgewicht im Land und erhöhten die latenten Spannungen im Rest der Ukraine.

Angela Merkel trat im Sommer 2020 als Kanzlerin zurück. Ihr Nachfolger, der ehemalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière, war kein Freund Russlands, hatte aber wenig Erfahrung im Umgang mit Putin. Wegen des Gesetzes über den Sonderstatus der Regionen DNR und LNR – auch wenn dieses aufgrund der russischen Militärpräsenz nicht umsetzbar war – waren viele Beobachter in Europa zu der Überzeugung gelangt, dass die Minsker Vereinbarungen immer nur teilweise umgesetzt werden würden. Eine vollständige Umsetzung, argumentierten sie, sei unrealistisch und man sollte einfach mit dem zufrieden sein, was erreicht werden könne. Im Herbst 2020, nach einer weiteren Bankenkrise in Italien, wurde Südeuropa von einer Rezession betroffen. Die Streitigkeiten zwischen den nördlichen Mitgliedsstaaten und dem „Olivengürtel” wegen der fiskalischen Stabilität und wegen den Arbeitsmarktreformen flammten erneut auf. Für Emmanuel Macron war diese Rezession besonders bitter, da seine Wirtschaftsreformen gerade begonnen hatten, Wirkung zu zeigen. Pro-russische Populisten von links und rechts beschuldigten ihn, ein „Werkzeug des internationalen Kapitalismus” zu sein, als er versuchte, den französischen Finanzsektor zu retten. Einstmals ein „Falke“ in seiner Einstellung gegenüber Russland, fand sich Macron nun in einer Rolle wieder, in der er Russland aus innenpolitischem Kalkül beschwichtigen musste. Da er die Position Macrons nicht untergraben wollte, stellte sich de Maizière auf mehr „Flexibilität” gegenüber Russland und der Ukraine ein.

Nach einem halbherzigen Versuch Frankreichs und Deutschlands, dem Minsk-Prozess neues Leben einzuhauchen, entschied sich die EU für eine teilweise Aufhebung der Sanktionen, da Russland bei der Umsetzung der Vereinbarungen „einige Fortschritte” erzielt habe. Man argumentierte, dass dies den Kreml zu weiteren Umsetzungsmaßnahmen veranlass en werde. Die Sanktionen in Bezug auf Waffen und Güter mit doppeltem Gebrauch wurden aufgehoben, und die finanziellen Beschränkungen für Staatsbetriebe wurden ebenfalls aufgehoben. Die Aufhebung dieser Sanktionen – übrigens diejenigen, unter denen Russland am meisten gelitten hatte – signalisierte Moskau, dass Europa die östlichen Nachbarstaaten aufgegeben habe und dass die Beziehungen zu Russland erneut Priorität genießen würden. Die Enttäuschung der italienischen und französischen Unternehmen war groß, als Russland nicht in vollem Umfang nachzog, sondern nur die gegen Einzelpersonen gerichteten eigenen Gegensanktionen aufhob. Die strengen Handelsbeschränkungen waren zu einer – für manche sogar sehr lukrativen – Dauereinrichtung und einer Besonderheit der russischen Wirtschaft geworden.

Der Kreml nahm den allmählichen Rückzug Europas als de facto Anerkennung der Berechtigung von Russlands Interessen und Ambitionen in der östlichen Nachbarschaft wahr. Europas Handlungsweise stärkte die Überzeugung Moskaus, dass die Europäer, auch wenn es Zeit brauchte, immer irgendwann nachgeben würden, wenn Russland nur lange genug auf seinen Positionen beharrte. Europa hielt an der Ukraine länger als an Georgien fest, gab aber am Ende auch dort auf.

Bald nach der teilweisen Aufhebung der Sanktionen verstärkte Moskau seine Aktivitäten in der Ukraine. Es wurde Befehl gegeben, Verbindungen zwischen den Banden der organisierten Kriminalität, den gegen die Regierung gerichteten Oppositionsparteien, den Titushki-Hooligan-Clubs und den russischen Geheimdiensten herzustellen, die im Donbas operativ tätig waren. Die Volksrepubliken wurden zu Fluchtburgen krimineller Banden, die Drogenschmuggel, Menschenhandel, Geldwäsche, Produktfälschung und Cyberkriminalität betrieben. Die Ausbreitung dieser Aktivitäten führte nicht nur zu einer Destabilisierung der Ukraine, sondern auch zu ständigen Spannungen zwischen Brüssel und Kiew, da Brüssel von Kiew verlangte, die Ausbreitung der organisierten Kriminalität im Donbas einzudämmen. Korruption unter einigen politischen Akteuren, Oligarchen und inländischen Sicherheitsdiensten war die zweite Stufe der Destabilisierung. Sie verstärkte den dysfunktionalen Zustand der Regierung der Ukraine, verstärkte innenpolitische Spaltungen und zögerte die Umsetzung der DCFTA hinaus.

Die Pattsituation bei den Reformen behinderte die Diversifizierung der Handelsbeziehungen und die Ukraine blieb vom russischen Markt abhängig. Auf diese Weise konnte Moskau seinen Einfluss auf die wichtigsten Oligarchen geltend machen. Die europäischen Unternehmen hatten wegen der weit verbreiteten Korruption und der ineffizienten Justiz das Interesse am ukrainischen Markt verloren. Die Ukraine litt unter der starken Abwanderung von Fachkräften, einem Mangel an Investitionen, unter der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Stagnation.

Obwohl Russland nicht über die Ressourcen verfügte, um für die abwandernden europäischen Unternehmen Ersatz zu schaffen, bedeutete der Status quo, dass Kiew sich nicht in Richtung Westen orientieren konnte. Diese Art von kontrollierter und unklarer Instabilität war für den Kreml sehr vorteilhaft, da man die Ukraine nicht direkt verwalten musste und andererseits nicht Gefahr lief, vom Westen wegen der Unterdrückung des Landes kritisiert zu werden. Dennoch könnte sie die EU als stabilisierende Kraft in der Nachbarschaft und darüber hinaus delegitimieren und die Europäer davon abhalten, sich in anderen Ländern an der russischen Peripherie weiter zu engagieren.

Der Kreml kam zu dem Schluss, dass kontrollierte Instabilität ein ideales Instrument zur Kontrolle der Nachbarschaft war und damit auch der Kontrolle Europas und des Westens. Das so geschaffene Chaos, verhinderte das weitere Wachstum der euro-atlantischen Institutionen und machte die europäische Stabilisierung der unmittelbaren Nachbarschaft zu einer kostspieligen Angelegenheit, die den Westen daran hinderte, seine Ressourcen anderswo einzusetzen. Mit der allgemeinen Anerkennung des Donbas-Konflikts als zunächst unlösbares Problem hatte Russland kurzfristig das für das Land bestmögliche Ergebnis erzielt.
 

Szenario drei: Zusammenbruch der Sanktionen und Ende der Unterstützung für die Ukraine

Die täglich neuen Enthüllungen über Kontakte des Trump-Teams mit Russland nahmen den US-Präsidenten im Jahr 2017 mehr oder weniger ständig in Anspruch. Trotzdem behielt die Trump-Regierung im Kampf mit dem Kongress wegen der Einschnitte im Haushalt für die Auslandshilfe die Oberhand. Das war aber nur einer der Handlungsstränge zur Umsetzung des allgemeinen Ziels der Trump-Administration, nämlich der Abschaffung der „Erbringung kostenloser Leistungen für undankbare Alliierte”, wie sich Donald Trump in einem seiner Tweets ausgedrückt hatte. Genauer gesagt, spiegelt dieser Vorstoß der Regierung die Absicht wieder, die Unterstützung der Ukraine einzustellen und die Sanktionen gegen Russland aufzuheben. Diese Absicht war an Hand von öffentlich gemachten Niederschriften von Telefongesprächen zwischen dem Trump-Team und russischen Beamten während des Wahlkampfes deutlich geworden.[2]

Die EU-Mitgliedsstaaten reagierten zunächst auf die US-Kürzungen, indem sie von der EU eine „Verdoppelung” der Unterstützung der Ukraine verlangten. Trumps Mätzchen während seiner ersten sechs Monate im Amt hatten ihn in Europa politisch toxisch gemacht und tatsächlich zur Stärkung der europäischen Einheit beigetragen. Die europäischen Politiker hatten schnell erkannt, dass Angriffe auf Trump und das Vertreten von Positionen, die dem was Trump sagte oder tat, zuwiderliefen, schnell und auf breiter Ebene Wählerstimmen einbrachte. Sogar in Italien ließen sich Aufrufe zur Unterstützung der Ukraine hören. An einem gewissen Punkt stellte die Trump-Gegnerschaft unbestreitbar eine einigende Kraft in der europäischen Politik dar.

Aber diese Einheitsdividende erwies sich als kurzlebig. Nachdem die Vereinigten Staaten das Interesse an der Ukraine verloren hatten, verlagerte sich das Gleichgewicht der Macht innerhalb der EU zu den südlichen Mitgliedsstaaten, die gegenüber dem Engagement der EU in der Ukraine weitgehend eine eher skeptische Haltung eingenommen hatten. Italien, Österreich, Griechenland und Ungarn nutzten die Gelegenheit, die sich durch Washingtons drastische Einschnitte bei der Hilfe ergeben hatte, und verlangten, dass die EU dasselbe tun müsse. In Deutschland regte sich Widerstand dagegen. Das Land verstärkte zusammen mit Schweden und einigen osteuropäischen Staaten die humanitäre Hilfe für die Ukraine. Das Vereinigte Königreich verstärkte ebenfalls seine bilaterale Unterstützung für die Ukraine. Dies geschah aber ganz diskret, um den Gleichschritt mit den Vereinigten Staaten möglichst nicht zu stören. Polen und einige andere Länder zögerten jedoch, dem Vorbild Berlins zu folgen, um nicht in dem wachsenden transatlantischen Zerwürfnis Partei nehmen zu müssen. Andere Staaten – vor allem Frankreich, das sich immer noch auf innenpolitische Reformen konzentrierte – blieben vielsagend still.

Als sich die europäischen und ukrainischen Staats- und Regierungschefs im Juli 2017 auf dem EU-Ukraine-Gipfel in Kiew trafen, gab es unter den Europäern für eine „Erhöhung der Einsätze”, in welcher Form auch immer, nicht genügend politischen Willen oder Konsens. Die transatlantische Koordination war für die Aufrechterhaltung der strategischen Reaktion des Westens auf das russische Handeln in der Ukraine unerlässlich gewesen. Sie war auch der Leim, der die Europäer zusammenhielt und eine entschiedene Unterstützung der Ukraine gewährleistete. Die Tatsache, dass Trump kein offenes Bekenntnis zum Artikel 5 des NATO-Vertrags abgab, der den Bündnisfall regelt, hatte auch viele Europäer nervös gemacht; sie fürchteten, sich in der Ukraine zu stark engagiert zu haben und gegenüber Russland zu angriffslustig aufgetreten zu sein. Das Gruppenfoto vom Gipfel zeigte eine Handvoll schlechtgelaunter europäischer Politiker, die sich mühten ein tapferes Gesicht aufzusetzen; die führenden europäischen Zeitungen schrieben ausführlich über die Bedeutung der mangelnden Bereitschaft zu enthusiastischem Händeschütteln auf dem Gipfel.

Da die EU in Bezug auf das weitere Vorgehen in der Ukraine gespalten war, konnten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs nur auf eine strategische Überprüfung der aktuellen Unterstützungsmaßnahmen einigen. Anfang 2018 wurden die Hilfsprogramme für die Ukraine vorerst eingestellt, um die Ergebnisse der Überprüfung der bisherigen Maßnahmen und die Vereinbarung einer neuen politischen Position abzuwarten. Die durch die einstweilige Einstellung der Hilfsprogramme entstandene Lücke konnte durch die verstärkte bilaterale Unterstützung aus Deutschland, Polen, Großbritannien, den skandinavischen und den baltischen Ländern nicht vollständig geschlossen werden. Die Unterstützung für die Ukraine wurde auch zu einem Thema der innenpolitischen Debatte in mehreren europäischen Staaten; besonders die populistischen Parteien gingen damit auf Stimmenfang. Mitte 2018 versuchte Federica Mogherini, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die unterschiedlichen Positionen der Mitgliedsstaaten in Einklang zu bringen, aber diese Anstrengung war letztlich vergeblich. Als die europäischen Regierungschefs schließlich die Frage erörterten, konnten sie sich nicht auf eine gemeinsame Politik einigen und somit war die bis dahin nur vorläufige Einstellung der Hilfsmaßnahmen zu einem Dauerzustand geworden.

Das Ende der Hilfe für die Ukraine führte zu einem erneuten Aufflammen der innereuropäischen Diskussion über den Minsk-Prozess und das Normandieformat. Führende Politiker Italiens, Griechenlands und Österreichs traten lautstark dafür ein, dass im Donbas unabhängig von der Sicherheitslage Regionalwahlen abgehalten werden müssten, wenn Kiew weiter europäische Unterstützung erhalten wolle. Merkel und einige wenige andere führende Politiker widersprachen dieser Haltung, und befürworteten eine auf den Vorrang der Sicherheit setzende Position. Aber als Washington sich deutlich für die Position Italiens einsetzte – vor allem um Hebelwirkung in Fragen des Handels mit Deutschland zu gewinnen – löste sich der europäische Konsens erneut auf. Die Forderung nach Wahlen ohne Vorbedingungen in Bezug auf die Sicherheit machte Kiew und die ukrainische Gesellschaft wütend.

Eine Mehrheit der Ukrainer betrachtete Minsk als Verrat an den ukrainischen Frontsoldaten, da das Abkommen die Anwesenheit der russischen Stellvertreterstreitkräfte legitimierte. Dass nun aber Wahlen ohne vorherigen Waffenstillstand abgehalten werden sollten, wurde als doppelter Verrat aufgefasst. Während der innenpolitische Druck auf Poroschenko wuchs, Europa die Stirn zu bieten und die Interessen der Ukraine zu schützen, schrumpfte der Handlungsspielraum auf beiden Seiten.

Der wirkliche Schock kam jedoch nur wenige Tage nach den Zwischenwahlen im November 2018 in den Vereinigten Staaten, als die republikanische Partei einen Erdrutschsieg errang. Minuten vor Mitternacht am 15. November unterschrieb ein von seinem Sieg beflügelter und nun unanfechtbarer Präsident Trump ein Dekret, das alle Sanktionen gegen Russland mit sofortiger Wirkung aufhob. Nach der Unterzeichnungszeremonie twitterte der Präsident: „Sanktionen gegen Russland sind ENDLICH Vergangenheit. Riesenerfolg! Zeit, gemeinsam mit Russland den Terrorismus zu bekämpfen.”

Die europäischen Politiker, die die Neuigkeit über Twitter erfahren hatten, führten hektische Telefonate mit einander, um einen gemeinsamen Standpunkt zu finden. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erhielt einen gewissen Rückhalt von den Kollegen in Nordeuropa für ihre Position, hier handle es sich um ein weiteres Beispiel dafür, dass Europa umso mehr Festigkeit und Einheit zeigen müsse, wenn man den USA nicht mehr vertrauen könne. Es war eine Gelegenheit zu zeigen, dass die Sanktionspolitik der EU unabhängig von der der USA war. Aber Südeuropa hielt dagegen und argumentierte, dass eine Fortsetzung der EU-Sanktionen ohne die Sanktionen der USA sinnlos sei. Nachdem man in der Vergangenheit mit Russland gute Geschäfte gemacht und aktuell mit Wirtschaftskrisen zu kämpfen hatte, fragte man sich: Warum soll Europa den Preis von Sanktionen zahlen, während US-Unternehmen von den guten Geschäften mit Russland profitieren? Am Ende wurde die Kluft innerhalb der EU zu breit und man konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen. Die Sanktionen wurden eingestellt.

Auf dem 20. EU-Ukraine-Gipfel im Dezember 2018 wurde deutlich, dass eine gemeinsame Vision und Politik nicht vorhanden war. Die Einstellung der Sanktionen und das Ende der Hilfen für die Ukraine hatten die Glaubwürdigkeit der EU untergraben und der EU jede Möglichkeit der Einflussnahme auf die Ukraine genommen. Der Gipfel endete vorzeitig, da eine Versöhnung der extrem gegensätzlichen Positionen nicht möglich schien. Führende europäische Zeitungen spekulierten über die Bedeutung der mangelnden Bereitschaft zum Händeschütteln.

Beim Verlassen des Gipfels versprachen einige Regierungschefs aus Nordeuropa, ihre Sanktionen gegen Russland fortzusetzen oder sogar zu verschärfen. Aber Experten wiesen schnell darauf hin, dass dies die Spaltung Europas und das Ende jeglichen Konsenses nur noch stärker hervortreten lassen würde. Die Regierungschefs Polens, Estlands, Lettlands, Litauens und des Vereinigten Königreichs versprachen Poroschenko ebenfalls, dass die Ukraine Unterstützung in Form von militärischen Ausbildern und Beratern sowie von Kriegswaffen erhalten würde.

Trotz dieser verstreuten Bemühungen, den Zusammenbruch der Politik zu kompensieren, hatte das Ende der EU-Sanktionen gegen Russland der Ukraine einen verheerenden Schlag versetzt. In der Ukraine war man nun der Auffassung, dass erst die USA und dann auch die EU das Land aufgegeben hätten und dass es nun allein mit Russland fertig werden müsse. Ein isolierter aber dennoch kämpferischer Poroschenko erklärte das Normandie-Format und den Minsk-Prozess für tot.

Als die Präsidentschaftswahl in der Ukraine näher rückte und die stärkste politische Gegnerin, Julia Timoschenko, in den Umfrageergebnissen zulegte, bekamen die Äußerungen Poroschenkos zunehmend einen nationalistischen und gegen die EU gerichteten Charakter. Diese Botschaft hörten die Ukrainer gerne, da sich viele von ihnen von der EU verraten fühlten, obwohl sie auf dem Maidan und im Donbas große Opfer gebracht hatten. Historiker würden später biblische Begriffe verwenden, um die Bedeutung der Aufhebung der Sanktionen für die europäischen Bestrebungen in der Ukraine zu würdigen.

Große Teile der ukrainischen politischen Elite kehrten schnell zu „alten Gewohnheiten” zurück und warfen die strengen Transparenzvorschriften und die Regeln zur Korruptionsbekämpfung, die auf internationalen Druck eingeführt worden waren, über Bord. Die Parlamentswahl 2019 führte zu einer noch stärker zersplitterten Rada und zu einem Erstarken der populistischen Parteien. In den folgenden Jahren begann in der Ukraine eine Zeit der innenpolitischen Turbulenzen und häufiger Regierungswechsel.

Mittlerweile wurde in Moskau die Behauptung, die russische Ukrainepolitik sei ein Riesenerfolg gewesen, in den Rang einer biblischen Wahrheit erhoben. Kreml-Insider glaubten, dass sie es ganz allein geschafft hätten, den Westen aus der Nachbarschaft Russlands herauszudrängen und gleichzeitig die transatlantische Allianz aufzubrechen und die EU zu spalten. Als die Ukraine tiefer in die Krise stürzte, verstärkte Moskau seine Aktivitäten im Donbas und nutzte politische Unruhen, um im ganzen Land weitere Aufstände zu provozieren. Der Kreml brachte sein ganzes Arsenal destabilisierender und subversiver Maßnahmen zum Einsatz: Propaganda und Desinformation, Korruption, Cyber-Attacken, Angriffe von „Ukrainischen Nationalisten” unter falscher Flagge, Finanzierung illegaler, bewaffneter Gruppen und Unterstützung der Organisierten Kriminalität.

Ziel dieser Maßnahmen war es nicht nur, die Ukraine zu destabilisieren, sondern sie als „gescheiterten Staat” zu diskreditieren und Brüssel davon abzuhalten, Unterstützungsprogramme in der Ukraine wieder aufzunehmen. Pro-russische Parteien in Europa, vor allem Frankreichs Front National und Deutschlands Alternative für Deutschland (AfD) schlugen hier in die gleiche Kerbe. Sie forderten sogar Sanktionen gegen die Ukraine und machten dafür eine „demokratische Rückentwicklung” aufgrund der unsicheren politischen Lage geltend. Zusätzlich zu den subversiven Maßnahmen versuchte Moskau, die wirtschaftliche Isolation der Ukraine zu verschärfen, indem es eine Seeblockade der verbleibenden ukrainischen Schwarzmeerhäfen befahl, um so die Versuche Kiews zu behindern, sich Exportmärkte außerhalb der EU zu erschließen. Obwohl Moskau letztlich darauf abzielte, die Ukraine in seinen Einflussbereich zu bringen, hätte man – als zweitbeste Lösung – auch eine schwache und dysfunktionale Ukraine akzeptieren können, die keinerlei Möglichkeit hatte, sich nach Westen zu orientieren.

In der Ukraine konnte eine gelähmte Rada weder Reformen anstoßen noch eine stabile Regierung gewährleisten. Immer wieder hatte sich die ukrainische Armee als die einzige stabile und funktionierende Institution im Lande erwiesen, und war somit dafür prädestiniert, ein „Staat im Staate” zu werden. Nachdem die Ukraine die internationale Unterstützung verloren hatte, wandten sich einige Akteure der Zivilgesellschaft mit ihren Forderungen nach Reformen an die Armee. Trotz der Reformfortschritte ähnelte die sich langsam herauskristallisierende Ukraine nicht so sehr einer europäischen Demokratie als einer kemalistischen Republik mit den Streitkräften als wahre Hüter der politischen Ordnung.

Nicht nur in der Ukraine zeigte sich Moskaus Entschlossenheit, das Sicherheitssystem nach dem Kalten Krieg nach den Vorstellungen Russlands zu formen, und seinen Einfluss auf weitere Regionen auszudehnen, zumal das Ende der Sanktionen der Wirtschaft einen Schub gegeben hatte. Aber die Kosten weiterer Konflikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wurden letztlich von Moskau als zu hoch angesehen. Russland war also versucht, andere Fronten aufzumachen. Es fand gute Voraussetzungen auf dem Balkan. Dort war man unzufrieden mit der EU, mit der dort vorhandenen Korruption, mit politischer Unfähigkeit und der Flüchtlingskrise, was zu erneuten nationalistischen Spannungen führte und wieder einmal den Ruf nach einer Infragestellung des aktuellen territorialen Status quo ertönen ließ. Russlands enger Kontakt mit serbischen Nationalisten und ultrakonservativen orthodoxen Kräften in Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro, Mazedonien und Kosovo bedeutete, dass es natürliche Verbündete vor Ort hatte. Innenpolitisch wurde die Auflösung der politischen Ordnung auf dem Balkan in Moskau als Rache Russlands für das „Jahrzehnt der Erniedrigung”, welches das Land in den 90er Jahren erleiden musste, angesehen. Nachdem Russland die Ukraine als „Testfall” verwendet hatte, setzte Russland seine bewährten Methoden der Subversion ein, um mehr „kontrollierte Instabilität” in einer für viele EU-Mitgliedsstaaten heimatnahen Region zu schaffen.[3]

Szenario 4: Kompromiss der „Großmächte”

Am Rande der 72. Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im September 2017 trafen sich der russische Präsident Wladimir Putin und sein amerikanischer Amtskollege Donald Trump in den vergoldeten Hallen des Trump Towers zu einem Gespräch über bilaterale Beziehungen. Für Trump war der US-Russland-Antagonismus schon immer ein lästiges Hindernis auf dem Weg zum übergeordneten Ziel der Vereinigung aller weißen christlichen Mächte im Kampf gegen den radikalen Islam. Als der Ton des Gesprächs freundschaftlicher wurde, zog Putin ein vollständig vorbereitetes Dokument mit dem Titel „Vertrag über die strategische Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation” heraus. Das zweiseitige Dokument beschrieb in kurzen Sätzen, wie die USA und Russland den Mittleren Osten und Europa in verschiedene „Bereiche der besonderen Verantwortung” aufteilen und unter dem Schirm des Krieges gegen den Terror zusammenarbeiten würden. Die östliche Nachbarschaft fiel ohne Weiteres in die russische Sphäre. Glücklich darüber, endlich einen Deal mit Russland machen zu können, und unter dem enthusiastischen Jubel seines Adjutanten, Steve Bannon, unterzeichnete Trump den Vertrag, ohne zu zögern. Bei seiner Rückkehr nach Washington unterschrieb er eine Reihe von Dekreten. Diese betrafen den Rückzug des gesamten US-Militärs aus der Region, die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und die Streichung aller US-finanzierter Hilfsprogramme für die Ukraine und Georgien.

Für den Kreml war der Trump-Putin-Pakt ein wichtiger strategischer Sieg. Das Ersetzen der derzeitigen europäischen Sicherheitsordnung durch ein System genau abgegrenzter Einflusssphären war für Moskau weitaus wichtiger als ein territorialer Zugewinn in der unmittelbaren Nachbarschaft. Seit Jahren hatte Moskau versucht, dieses Ziel in jeweils unterschiedlichen Verpackungen zu verkaufen: Angefangen bei dem neuen Vertrag über die europäische Sicherheit ging dies bis hin zu formalisierten Beziehungen zwischen der EU und der EEU (Eurasische Wirtschaftsunion), und schließlich versuchte man, die Organisation für die Sicherheitskooperation in Europa zum Mittelpunkt der europäischen Sicherheit zu machen. Aber niemand im Westen hatte sich jemals darauf eingelassen – bis jetzt.[4]

Als die Öffentlichkeit Wind von dem Abkommen bekommen hatte, war die Reaktion des Washingtoner Establishments ebenso lautstark wie vorhersehbar und unwirksam. Bemühungen der Senatoren John McCain und Joe Lieberman, einen  Zwei-Parteien-Caucus zustande zu bringen und gegen das Abkommen ein Veto einzulegen scheiterten, da die meisten Republikaner befürchteten, dass sie von Trumps Unterstützerbasis bei den Zwischenwahlen 2018 bestraft würden, wenn sie sich gegen ihn wandten. Einige linke Demokraten unterstützten Trump in der Russlandfrage als Gegenleistung für eine stärker protektionistische Außenhandelspolitik und eine Beschneidung der politischen Lobbyaktivitäten in Washington.

In Europa war der politische Mainstream schockiert. Trumps bewusste Nichtbeachtung der NATO-Bündnisfallklausel auf dem NATO-Gipfel im Mai hatte die Europäer mit ihren Annahmen über die europäische Sicherheitsordnung gehörig aufgeschreckt. [5]   Nun verursachte Trumps Vorhaben, über die Köpfe der Europäer hinweg einen Deal zu schmieden, einen Nachhall auf dem gesamten Kontinent. Die erneut wiedergewählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron hielten eine gemeinsame Pressekonferenz und teilten der gesamten Weltöffentlichkeit mit, dass der Westen in seiner bisherigen Form nicht mehr existierte, und dass Europa für sich selbst einstehen müsse. Die Meinungsführer schrieben Gastkommentare und erklärten das Ende der Nachkriegsordnung für gekommen, und Mitarbeiter von Denkfabriken schrieben denkwürdige Artikel, in denen sie entweder argumentierten, dass wir uns ein neues Modell für die europäische Sicherheit schaffen müssten, oder sie behaupteten, dass ein moderner Molotow-Ribbentrop-Pakt geschlossen worden war.

Dies führte unmittelbar zu einer weiteren Stärkung der europäischen Einheit. Das Argument, dass man den USA nicht mehr vertrauen könne und dass Europa auf sich selbst gestellt sei, fand in einem wie unter Schockstarre stehenden Europa einen kräftigen Widerhall. Die Außenminister Deutschlands und Frankreichs stellten ein inoffizielles Arbeitspapier vor, in dem sie beschrieben, was sie eine „Roadmap für die Etablierung robuster Mechanismen und Strukturen zur Landesverteidigung” nannten. Dieses Konzept fand bei den anderen EU-Außenministern schnell Unterstützung – auch bei den Skeptikern, die nicht wollten, dass die EU-Verteidigungsintegration zur NATO in Konkurrenz trat oder die ihre heimische Waffenindustrie schützen wollten. Es wurden auch Versprechen einer verstärkten Unterstützung für die Ukraine abgegeben, um die Folgen der Tatsache abzumildern, dass die Ukraine aufgrund der Handlungsweise Washingtons unter die Räder gekommen war. Die Notwendigkeit zusammenzuhalten, sollte angesichts der Tatsache, dass die USA die Nachbarschaft aufgegeben hatte, zumindest für ein paar Monate Vorrang haben.

Ende 2017 begann sich die Einigkeit aufzulösen. Der Trump-Putin-Pakt hatte Europa in Einflusssphären aufgeteilt, hatte aber auch die Grundannahmen der NATO als Allianz in Frage gestellt. Mehrere Verbündete kamen zu dem Schluss, dass sie bilaterale Sicherheitsvorkehrungen treffen mussten, da das System der kollektiven Verteidigung nicht mehr zuverlässig funktionierte. Polen und die baltischen Staaten traten in geheime Verhandlungen mit den USA ein, um bilaterale Sicherheitsvereinbarungen zu treffen. Ungarn und Österreich traten ebenfalls in Geheimverhandlungen ein, aber mit Moskau und mit dem Ziel eines Nichtangriffspakts. Andere EU-Mitgliedsstaaten folgten dem, was später als „DC Track” oder auch „Moskau-Track” bekannt werden sollte. Merkel und Macron erkannten die historische Herausforderung, mit der Europa konfrontiert war und taten was sie konnten, um die Europäer zusammenzuhalten. Aber trotz der Empörung über den Trump-Putin-Pakt war kein europäischer Führungspolitiker bereit, auf zuverlässige Sicherheitsgarantien für das eigene Land zu verzichten oder gar die Sicherheit des eigenen Landes für die der Ukraine oder Georgiens aufs Spiel zu setzen.

In Kiew versuchte Poroschenko vergeblich, seine wenigen verbliebenen internationalen Unterstützer zu mobilisieren, während er gleichzeitig den Ausnahmezustand erklärte und eine teilweise Mobilisierung der Truppen anordnete. Der Kreml handelte schnell, um den Trump-Putin-Pakt umzusetzen und um insbesondere einem möglichen Widerruf ihrer Zusagen durch die Trump-Regierung zuvorzukommen. Moskau hatte gelernt, mit Trumps Unberechenbarkeit umzugehen und versuchte dieser aktiv zu begegnen. Der führende Kreml-Berater Vladislav Surkov wurde mit einem versiegelten Brief Putins an Poroschenko nach Kiew geschickt. Darin wurden die folgenden grundlegenden Forderungen gestellt:

  • Formeller Verzicht auf das Assoziationsabkommen mit der EU und Aufgabe des Ziels, die Ukraine in die EU und die NATO zu führen;
  • Beitritt zur EEU und zur Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS);
  • Vereinbarung über eine Zusammenarbeit mit Russland auf dem Gebiet der Sicherheit und der Geheimdienste sowie über die Stationierung russischer Truppen in der Ukraine;
  • Offizielle Anerkennung der Krim als russisches Territorium und Amnestie für alle in den Donbas-Konflikt verwickelten Personen.

Putin glaubte, dass diese Ziele in greifbare Nähe gerückt seien, da der Kreml die westliche Orientierung der Ukraine als ein Problem auf der Ebene der Eliten anstatt der Menschen betrachtete. Sobald die gegenwärtig herrschenden Eliten durch andere Eliten ersetzt würden, würden die Ukrainer den Widerstand gegen die Forderungen Moskaus aufgeben und sich an ihre brüderlichen Bindungen an Russland erinnern. Aber dies stellte sich bald als weitere schwere Fehlkalkulation Moskaus in Bezug auf die Ukraine heraus. Wie die Maidan-Revolution gezeigt hatte, war eigentlich das Gegenteil richtig. Die revolutionäre Stimmung richtete sich in erster Linie gegen die herrschende Klasse in der Ukraine, die sich Russland zuneigte, und sich nur dann gegen Moskau aussprach, wenn die russische Unterstützung für die korrupten alten Eliten gar zu offensichtlich wurde. Große Teile der ukrainischen Bevölkerung waren in den letzten Jahren ihres Präsidenten und seines Regierungsstils müde geworden. Der Kreml missverstand diese, gegen die Regierung gerichtete, Stimmung aber als Ausdruck einer pro-russischen Grundhaltung.

Poroschenko las den Brief im Beisein von Surkov und wies die Forderungen umgehend zurück. Er erklärte, die Ukraine habe sich niemals an Verhandlungen über einen „Grundvertrag” beteiligt und dass keine ausländische Macht das Recht habe, die Zukunft der Ukraine zu bestimmen. Trotz der Drohung mit „gravierenden Konsequenzen” musste Surkov mit leeren Händen nach Moskau zurückkehren und Putin berichten. Nach einem kurzen Gespräch befahl Putin seinen Mitarbeitern, die Operation „Fall der Ukraine” einzuleiten. Dies war ein Plan, um Poroschenko im Zuge einer angeblichen Palastrevolution abzusetzen und den pro-russischen Politiker Viktor Medvedchuk als Präsident zu installieren.

Putin befahl auch die Mobilisierung der westlichen und südlichen Militärbezirke. Diese Entwicklung erlangte nur wenig internationale Aufmerksamkeit, da sich die internationalen Medien ganz auf den gerade ablaufenden Putschversuch in Kiew konzentrierten. Seit 2014 hatte die Verstärkung der militärischen Infrastruktur an der Grenze zur Ukraine auch dazu beigetragen, die russische Mobilisierung in dem Gebiet zu verbergen.

Trump hatte nicht verstanden, dass der US-Russland-Pakt Putin das Recht gab, in der Ukraine militärisch zu intervenieren. Alle Diskussionen über die genaue Bedeutung des Paktes erwiesen sich aber als rein akademisch, als Putin am 1. Januar 2018 eine umfassende Invasion der Ukraine anordnete. Die erste Angriffswelle bestand aus Amphibienfahrzeugen, die an den Schwarzmeerstränden nahe Odessa an Land gingen. Eine Kampftruppe wandte sich von Rostow-am-Don in Richtung Dnipro und eine andere von Woronesch nach Charkow. Im Rahmen eines Präventivschlags und unter Ausnutzung des in Kiew herrschenden Chaos hatte die russische Luftwaffe in den ersten 24 Stunden des Konflikts die ukrainische Luftwaffe überwältigt und ausgeschaltet. Um die Hauptstadt von westlicher Unterstützung abzuschneiden, landeten russische Fallschirmjäger westlich von Kiew.

Nach einer Notfall-Tagung des Europäischen Rates erklärte Präsident Donald Tusk vor den versammelten Journalisten, dass die Führungspolitiker der EU zusammengekommen waren, nachdem die erneute Aggression Russlands in der Ukraine bekannt geworden war. Er sagte, dass die EU das Handeln Russlands verurteilt habe und er forderte Moskau auf, seine Truppen zurückzuziehen. Die EU werde, abhängig von der sich ergebenden Lage, weitere Maßnahmen in Betracht ziehen. Als er von einem politischen Korrespondenten gefragt wurde, ob die EU Strafmaßnahmen gegen Russland plane, sagte Tusk, dass es keine gemeinsame Haltung in Bezug auf derartige Maßnahme gebe, da die Mitgliedsstaaten auf bilaterale Sicherheitsabkommen gesetzt hatten.

Mitten in der Pressekonferenz begannen die Handys zu klingeln. Die Medien berichteten über eine Alarmierung der russischen Nuklearstreitkräfte, über landgestützte Interkontinentalraketen, die in Abschussposition gebracht wurden, und über die Entsendung strategischer Bomber auf Erkundungsflüge entlang der deutschen und französischen Küste. Merkel und Macron telefonierten mit Trump, um ihn von der Gefahr und von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich gegen diese Zurschaustellung der Nuklearmacht zu verwehren, aber ihre Bemühungen waren umsonst. Für sich allein würde Europa keine nukleare Konfrontation mit Russland wegen der Ukraine riskieren.

Die russischen Militäroperationen in der Ukraine verliefen zunächst reibungslos. Aber nach einer Woche kam die Offensive zum Stehen. Ukrainische Streitkräfte hatten es geschafft, alle Brücken über den Dnjepr zu zerstören und den russischen Vormarsch zu stoppen. Einige ukrainische Einheiten in Donezk und Luhansk gelang es, den Vormarsch der russischen Truppen auf den Dnjepr zu verzögern, indem sie Inseln des ukrainischen Widerstandes auf dem östlichen Flussufer errichteten. Ehemalige ukrainische Freiwilligenformationen und zerstreutes ukrainisches Armeepersonal bildeten Widerstandstruppen, welche die landgebundenen Versorgungslinien der russischen Streitkräfte angriffen. Gemeinsam mit der örtlichen Bevölkerung gelang es den ukrainischen Streitkräften auch, die russischen Fallschirmjäger im Westen des Landes effektiv zu isolieren.

Überraschend schwere Verluste in den ersten Monaten des Konflikts veranlassten Russland, seine Vorgehensweise zu ändern. Anstatt auf einen schnellen Sieg zu setzen, verlegten sich die russischen Streitkräfte auf eine langfristige Strategie, indem sie auf die überlegene Feuerkraft ihrer Artillerie und Luftwaffe vertrauten, die früher oder später jeden Widerstand brechen würden. Trotz der ukrainischen Versuche, die russischen Streitkräfte aufzuhalten, bewegten sich diese nach und nach in Richtung Westen und Kiew.

Die Zahl der Binnenvertriebenen stieg in Millionenhöhe, wobei die Mehrheit versuchte, sich nach Polen oder in die Slowakei durchzuschlagen. Ein Großteil der westlichen Ukraine hielt den russischen Streitkräften stand, da das bergige Gelände die russische Militärmaschinerie behinderte und der Kreml dort noch stärkeren Widerstand befürchtete. Die bisher schon ärmlichen Westprovinzen der Ukraine mussten zwar nicht mit dem Vormarsch des russischen Militärs fertig werden, hatten aber stattdessen einen großen Flüchtlingsstrom aus dem Osten des Landes zu bewältigen. Die westliche humanitäre Hilfe konnte nur die schlimmsten Auswüchse dieser humanitären Katastrophe verhindern.

Die europäische Zivilgesellschaft beschäftigte sich mit humanitären Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge in der westlichen Ukraine und in Europa. Dies führte zu negativen Reaktionen aus Moskau, da selbst ein Engagement in der Ukraine aus humanitären Gründen von Moskau als illegale Einmischung in seinen Einflussbereich wahrgenommen wurde. Einige der Flüchtlinge kehrten zurück, um dem ukrainischen Widerstand beizutreten, nachdem sie ihre Familien im Westen des Landes in Sicherheit gebracht hatten. Sie wurden von europäischen Freiwilligentruppen begleitet, vor allem aus Polen, den baltischen Staaten und den skandinavischen Ländern.

Um Europa von einem weiteren Engagement in der Ukraine abzubringen, verstärkte Russland seine militärischen Provokationen an der Ostflanke der NATO. Der Kreml konnte sich neben seinem Abenteuer in der Ukraine keinen weiteren Krieg leisten, befahl aber die Durchführung von Vorbeiflügen”, Luftraumverletzungen und von simulierten Atomangriffen, um die „Europäer zur Vernunft zu bringen”. Aber gerade als die Mobilisierung der russischen Gesellschaft beginnen sollte, berichteten die Medien permanent über die toten Soldaten, die aus der Ukraine nach Russland zurückgebracht wurden, sodass es in Russland zu ersten Protesten gegen den Krieg in der Ukraine kam. Als die Kriegsveteranen und das Sicherheitspersonal anfingen, sich den Protesten anzuschließen, verstärkte der Kreml seine gegen die baltischen Länder und Polen gerichteten Provokationen und behauptete, dass eigentlich Russland angegriffen worden sei und sich faktisch mit der NATO im Krieg befinde.

Die osteuropäischen Staaten fühlten sich direkt von den russischen Provokationen bedroht und begannen, darauf zu reagieren. Finnland und Schweden beschlossen, dass es an der Zeit sei, Volksabstimmungen über den Beitritt zur NATO abzuhalten. Das wichtigste Argument aus dem „Nein”-Lager war, dass ein Beitritt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Sinn habe, da die NATO überholt sei. Aber der Spielzug in Richtung einer Mitgliedschaft veranlasste Russland, seine Versuche diese Länder einzuschüchtern noch weiter zu verstärken. Angesichts des Rückzugs der USA aus ihrer Rolle als Garant der europäischen Sicherheit hatte Polen öffentlich erwogen, aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) auszutreten und eine eigene Nuklearstreitmacht aufzubauen, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Schließlich stimmte die EU einer gemeinsamen Finanzierung der französischen Atomwaffen zu und unterzeichnete einen Vertrag über die Beteiligung am französischen Nuklearwaffenprogramm. Moskau nahm diesen Schritt als Vorwand für den Ausstieg aus den INF-Verträgen, die am Ende des Kalten Krieges geschlossen worden waren, und die ein Verbot von Mittelstreckenraketen und einer Stationierung von Nuklearwaffen in Weißrussland, auf der Krim und in Kaliningrad beinhalteten. Während die Situation nach der Annexion der Krim noch als ein „Cold War Lite” durchgehen konnte, sah sich Europa nun mit der Aussicht auf eine wirkliche und gefährliche Neuauflage des Kalten Krieges konfrontiert.
 

Schlussfolgerung

Dieser Aufsatz präsentiert eine Reihe von pessimistischen Endzeitszenarien. Die Einheit Europas ist stabiler und die Fähigkeit Europas Probleme gemeinsam zu bewältigen ist größer, als hier dargestellt. Aber dennoch sind einige der beschriebenen Ereignisse bereits Wirklichkeit geworden. Das Verschwinden des Interesses der USA an der Ukraine und des Einflusses der USA auf die Ukraine seit dem Amtsantritt von Donald Trump (und der fehlende Druck der USA auf Kiew, um die Durchführung von Reformen zu erzwingen) führten zu einer partiellen Rücknahme der Reformgesetzgebung, zu einer Zunahme von Polizeiwillkür und zu selektiven Strafverfolgungsmaßnahmen gegen kritische Politiker in der Ukraine. Trumps erklärte Absicht, mit Russland zu einem Deal zu kommen, seine Andeutungen, dass die USA die Sanktionen aufheben könnten, und seine unklare Haltung in Bezug auf die Sicherheitsgarantien für Europa hatten die Europäer dazu veranlasst, näher zusammenzurücken und sich selbst um die Sicherheit Europas zu kümmern. Aber diese Einigkeit könnte schnell zerbröckeln, sollte die USA tatsächlich Schritte unternehmen, um mit Russland einen Grundvertrag zu schließen oder sich von der NATO loszusagen.

Die europäischen Regierungschefs haben kaum eine andere Wahl, als zu versuchen, die nun nicht mehr vorhandene Führerschaft der USA in der Ukraine zu kompensieren. Diese Aufgabe fällt in erster Linie Deutschland zu. Es scheint zunehmend wahrscheinlich, dass Berlin den Stock in die Hand nehmen muss, mit dem die Obama-Regierung die Ukraine angetrieben hat. Berlin schenkt der Umsetzung der Minsk-Vereinbarungen besonders große Aufmerksamkeit, aber die eigentlich wichtigen Auseinandersetzungen werden um die vielen Detailfragen der Umsetzung von Reformen geführt. An dieser Stelle muss sich Berlin noch stärker und für alle deutlich sichtbar durchsetzen. Emmanuel Macron könnte sich dabei als ein starker Verbündeter erweisen.

Die EU sollte in aller erster Linie auf die Fortsetzung der Reformen drängen. Dennoch bleibt der Minsk-Prozess wichtig, denn er ermöglicht es, den Konflikt besser zu bewältigen und ihn einzudämmen, und er verschafft der Ukraine die für Reformen benötigte Zeit. Das Problem der Minsk-Vereinbarungen besteht darin, dass eine fehlerhafte Umsetzung die Ukraine zu einem nicht mehr funktionsfähigen Staat machen, die Demokratie in der Ukraine zerstören und das Land auf dem Weg zur Modernisierung um einige Schritte zurückwerfen würde. Europa muss sich in Bezug auf den Minsk-Prozess vor schnellen Lösungen und Abkürzungen hüten.

Moskau weiß um die potenziell zerstörerische Macht der Minsker Vereinbarungen für die Ukraine und besteht deshalb auf der Einhaltung der Vereinbarungen durch Kiew, ohne aber den eigenen Verpflichtungen nachzukommen. Letztlich hat Moskau nicht die Absicht, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen. Vielmehr werden die Minsker Vereinbarungen dort lediglich als ein nützliches Werkzeug betrachtet, um Kiew zu bedrängen, die Separatisten zu legitimieren und diese formal in den politischen Prozess in der Ukraine einzugliedern. Aber die enormen mit der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen verbundenen Probleme – und die geringe Wahrscheinlichkeit, dass diese überhaupt jemals umgesetzt werden können – sind kein Grund, Minsk aufzugeben. Sie sind aber sehr wohl ein Grund, den Druck auf Russland noch weiter zu verstärken, damit das Land seine eigenen Verpflichtungen einhält, und zwar ohne dabei die Ukraine zu untergraben.

Die Sanktionen sind das wichtigste Druckmittel, welches die EU gegen Russland in Anschlag bringen kann. Aber die Wirksamkeit dieses Drucks liegt nicht so sehr in den negativen Auswirkungen auf die russische Wirtschaft, sondern in der symbolischen Bedeutung dieser Maßnahme, welche deutlich zum Ausdruck bringt, dass für Europa eine Anerkennung der russischen Handlungen in der Ukraine als legitim nicht in Frage kommt. Die Sanktionen stehen für die Verpflichtung Europas, für den Schutz der territorialen Integrität der Ukraine und für eine Lösung des Donbas-Konflikts einzutreten. Die Aufhebung der Sanktionen ohne vorherige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen würde signalisieren, dass Europa die Ukraine aufgegeben hat – und genau das ist es, was Moskau anstrebt.

Wer die Sanktionen deshalb kritisiert, weil sie bisher nicht zu einer Einstellung der russischen Kriegshandlungen im Osten geführt haben, wird dem Problem nicht gerecht. Eine Konsequenz aus der aktuellen Lage müsste eine weitere Verschärfung der Sanktionen sein, nicht aber ihre Aufhebung. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind die politischen Voraussetzungen für eine Verschärfung der Sanktionen nicht gegeben, aber die EU sollte mindestens die Verlängerungsfrist von sechs auf zwölf Monate heraufsetzen oder eine automatische Verlängerung der Sanktionen einführen. Dies würde der Forderung nach einer vollständigen Umsetzung der Minsker Vereinbarungen als politischer Vorbedingung für die Aufhebung der Sanktionen noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen und Moskau die Gelegenheit nehmen, im halbjährlichen Turnus zu versuchen, die EU zu spalten. Es würde auch eine gesündere und eher strategisch ausgerichtete Diskussion innerhalb der EU darüber ermöglichen, was mit Russland zu tun sei. Wenn man sich permanent mit Sanktionen beschäftigt, bleibt wenig Raum für eine breiter angelegte Debatte über eine europäische Strategie gegenüber Russland. Eine stärkere Verpflichtung zur Konditionalität der Sanktionen würde es auch den Falken unter den Mitgliedsstaaten leichter machen, nach Möglichkeiten einer selektiven Verständigung mit Russland Ausschau zu halten.

Falls Washington eine Aufhebung der Sanktionen wirklich beschließen sollte, wird sich aber die EU größeren Problemen gegenübersehen.  Sie könnte dann gezwungen sein, zu prüfen, ob ihre Politik noch sinnvoll ist und ohne die USA überhaupt wirksam sein kann. Dies könnte dazu führen, dass sich die Einheit der EU in Bezug auf die Sanktionen in nichts auflöst und in der Folge die gesamte Russlandpolitik der EU zusammenbricht, so wie es in Szenario drei beschrieben wurde.

Europa muss der russischen These entgegentreten, die Ukraine sei ein gescheiterter Staat. Obwohl Teile der politischen Klasse Kiews immer noch korrupt sind, hat das Land unerwartete Fortschritte gemacht. Ohne eine nachhaltige europäische Unterstützung wird der Kampf der Ukraine noch schwieriger und die bösen Folgen dieses Kampfes noch schlimmer werden. Ermutigt durch den Erfolg in der Ukraine, hat Russland erkannt, was auch in anderen Teilen der Welt möglich sein könnte. Angesichts dieser Situation ist es ironischer Weise gerade der Westen, der dabei ist, die Ukraine in einen gescheiterten Staat zu verwandeln.

Alle hier skizzierten Szenarien basieren auf Extrapolationen, die von Fehlern des Westens ausgehen. Aber es muss nicht so enden. Europa könnte den Kurs halten und bei Russland und der Ukraine wachsam bleiben. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass eine Transformation der Ukraine und der anderen östlichen Nachbarschaftsstaaten auf lange Sicht nicht möglich sein sollte. Aber der Weg dorthin wird sicherlich lang und mühsam werden.

 


[1] Es gibt bereits Hinweise darauf, dass dies geschieht. „Dnipro crackdown resurgence of police brutality „, Kiew Post, 12. Mai 2017, verfügbar hier.

[2] Im April 2017 kürzte die US-Regierung die Entwicklungshilfe um 68 Prozent. Siehe: Bryant Harris, Robbie Gramer und Emily Tamkin, „The End of Foreign Policy aid as we know it“, Foreign Policy, 24. April 2017, verfügbar hier.

[3] Eine Beschreibung der aktuellen Haltung gegenüber Russland auf dem westlichen Balkan findet sich unter: Francisco de Borja Lasheras, Vessela Tcherneva und Fredrik Wesslau, „Return to instability: How migration and great power politics threaten the Western Balkans“, ECFR, 21. März 2016, verfügbar hier.

[4] Zu weiteren Informationen über den lange gehegten Wunsch Russlands, die internationale Ordnung neu zu gestalten, siehe: Steven Pifer, „The growing Russian military threat in Europe. Assessing and addressing the challenge: The case of Ukraine“, Brookings Institution, 17. Mai 2017, verfügbar hier; Kadri Liik, „What does Russia want?“, ECFR, 26. Mai 2017, verfügbar hier.

[5] Susan B Glasser, „Trump National Security Team Blindsided by NATO Speech“, Politico, 5. Juni 2017, erhältlich hier.

 

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.