Ein neuer Aufbruch für europäische Verteidigung

Europa muss praktische europäische Sicherheitsfähigkeiten entwickeln und sich weniger auf institutionelle Integration konzentrieren.

Mark Leonard und Norbert Röttgen

Europa steht vor einer Vielzahl von sicherheitspolitischer Aufgaben. Russland untergräbt die europäische Sicherheitsordnung, und ist bereit, die Souveränität anderer Länder zu verletzen. Gleichzeitig baut Russland seine nukleare Schlagkraft weiter aus. Der Nahe Osten und Nordafrika stehen in Flammen, Terrorismus bedrohen die Straßen Europas, und Cyber- und Informationskrieg sind auf dem Vormarsch.

Die europäischen Staaten haben auf diese Bedrohungen keine Antwort. Gleichzeitig kann Europa sich nicht länger auf US-amerikanische Sicherheitsgarantien verlassen.

Bürger von Warschau bis Paris, von Lissabon bis Berlin erwarten, dass Europa stark genug ist, um sie vor Bedrohungen zu beschützen. Wenn die EU als legitimer politischer Akteur wahrgenommen werden möchte, ist es ihre zentrale Aufgabe, die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten und den Frieden auf dem Kontinent zu erhalten.

Ein begrenztes Zeitfenster für Fortschritt

Der französische Präsidenten Emmanuel Macron hat neuen Schwung in die europäische Zusammenarbeit gebracht. Durch diesen Umstand, und weil sich die Einstellung der Deutschen zu Sicherheitspolitik langsam wandelt,[1] eröffnet sich eine günstige Gelegenheit, um Fortschritte in Bereich der Sicherheitspolitik zu erzielen.

In Europa wächst zudem die Akzeptanz, kleineren Gruppen von EU-Mitgliedstaaten eine „flexible“ Integration zu ermöglichen und von einer einstimmigen Unterstützung für neue Integrationsinitiativen Abstand zu nehmen.

Die EU hat mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, kurz PESCO, einen Schritt in diese Richtung gemacht. Doch das kann noch nicht alles sein. PESCO ist auf kleine, technische Projekte ausgelegt, und ist keine politische Initiative mit Vision. Im Lichte der Regierungsbildung in Berlin ist nun der richtige Zeitpunkt, einen Wandel in der deutschen und europäischen Sicherheitszusammenarbeit einzuleiten. Unser Vorschlag füllt die Idee eines „Europa, das schützt“ mit Leben.

Der Vorschlag

Zu oft haben europäische Ansätze im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Fokus auf die institutionelle Integration gelegt, anstatt reale Verteidigungsfähigkeiten zu schaffen. Aber die europäische Verteidigungsintegration kann nur dann Legitimität besitzen, wenn sie dazu beiträgt, die Sicherheit der Bürger zu erhöhen.

Europa ist und bleibt ein Friedensprojekt. Aber es muss in der Lage sein, europäische Interessen mit europäischen Truppen zu schützen, wenn notwendig auch durch militärische Interventionen.

A) Mehr Investitionen

Es führ kein Weg daran vorbei: Europa muss mehr Geld in seine militärischen Fähigkeiten investieren. Das gilt auch für Deutschland. Um das zu erreichen sollte die EU Hindernisse für militärische Investments abbauen. Wir unterstützen daher die Idee, dass der nächste Mehrjährige Finanzrahmen (MFF) eine Verteidigungskomponente erhält.

Auf lange Sicht kann Europa mehr zum gleichen Preis erreichen, indem es seine Ressourcen zusammenlegt und Beschaffungen gemeinsam angeht. In der EU kommen sechs Mal so viele Waffenmodelle zum Einsatz wie in den USA: auf jedes amerikanische Fregattenmodell kommen sieben europäische.

Doch gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern kann aus zwei Gründen nicht ausreichen: Erstens bestehen heute Sicherheitsbedrohungen für Europa. Es ist ratsam, dass Europa Waffensysteme gemeinsam erforscht und entwickelt, aber solche Entwicklungen und Beschaffungen dauern Jahrzehnte. Zweitens machen vollständig integrierte Streitkräfte nur dann Sinn, wenn sie auch einem vereinten europäischen Kommando unterstehen. Eine solche vollständig integrierte Streitkraft, die berühmte „Europäische Armee“ steht im Moment nicht zur Debatte. Solange nationale Regierungen und Parlamente die Entscheidungsgewalt über den Einsatz ihrer Truppen behalten (was wir unterstützen), würden vollständig integrierte Streitkräfte nur die europäische Handlungsfähigkeit lähmen.

B) Neue Technologien

Es gibt allerdings einen Bereich, in dem gemeinsame Investitionen und Anschaffungen besonders vielversprechend erscheinen und zeitnah angegangen werden können: neue Technologien, einschließlich der Bereiche Cyber, Drohnen und Künstliche Intelligenz (KI). Wir begrüßen die vorgeschlagenen PESCO-Projekte in diesem Bereich und empfehlen die Entwicklung und Beschaffung von gemeinsam nutzbarem Material, beispielsweise einer europäischen Drohne[2] und anti-Drohnen Technologie.

Forschung im Bereich der KI und autonomen Systemen sollte immer stärker auf der europäischen Ebene stattfinden und anteilig vom europäischen Verteidigungsfonds finanziert werden. Europa sollte auch eine gemeinsame Position zu letalen autonomen Waffensystemen entwickeln. Der Vorschlag zur Schaffung einer europäischen Agentur für disruptive Informationen, nach dem Vorbild der US-Agentur DARPA, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Mehr Austausch im Hinblick auf Cyberbedrohungen – wie etwa durch die Netzwerk-Informations-Sicherheits-Direktive (NIS Directive) – aber auch im Hinblick auf Cyberfähigkeiten ist notwendig. In diesem Bereich gibt es weniger nationale Eigenarten, da diese Technologien noch nicht so lange existieren, was die Chance für ein gemeinsames europäisches Handeln öffnet.

C) Einsatzbereite Fähigkeiten

Wir schlagen den Aufbau einer flexiblen europäischen Streitkraft vor. Emmanuel Macrons Vorschlag einer europäischen Interventionsinitiative ist ein vielversprechender Anfang. Dieser läuft allerdings Gefahr fehlzuschlagen, falls andere Mitgliedstaaten die Initiative als Vehikel französischer Interventionsziele, anstatt europäischer Ziele, begreifen. Sie sollte zu einer europäischen Sicherheitsinitiative ausgebaut werden, die explizit darauf ausgelegt ist, sich um die Sicherheitsbelange aller europäischen Staaten zu kümmern.

Dieser Vorschlag geht über die bestehenden EU-Kampfgruppen hinaus – diese Truppen würden gemeinsame Übungen organisieren (einschließlich einer jährlichen ‘train as you fight’-Übung) und gemeinsame Ausrüstung nutzen.

Die europäische Streitkraft soll eine schlagkräftige Armee werden – mit bis zu 100 000 Soldaten und amphibischen Fähigkeiten, um auch an den europäischen Küsten einsatzbereit zu sein.

Es ist wichtig, dass Staaten, die dieser Einheit beitreten möchten, ehrgeizige Beitrittskonditionen erfüllen müssen. Diese werden eine minimale Anzahl an Truppen und Verteidigungsausgaben einschließen. Die Schwellenwerte müssen ambitioniert sein und über die vergleichbar niedrigen Beitrittskonditionen von PESCO herausgehen. Nur so ist gesichert, dass alle Partner gleichsam am Gelingen der Initiative interessiert sind.

Keine EU-Armee, sondern eine Armee von Europäern

Anders als eine Europäische Armee, die nationale Streitmächte ersetzt, geht es hier um eine zusätzliche Fähigkeit, also eine Armee von Europäern.

Sie soll nur zu einem kleinen Teil aus vorhandenen Truppen und Ausrüstung bestehen, die mit neuen Kräften und Ressourcen kombiniert werden. Entscheidend ist, dass jedes Land seine bestehende, voll funktionsfähige, unabhängige Militärmacht behalten würde.

Umfragen zeigen, dass die europäische Öffentlichkeit solch ein Vorhaben unterstützen würde.[3] Es wäre wünschenswert, diese Streitkräfte mit einem zivilen Element zu komplementieren – inklusive Polizeikräften und Grenzschützern – das von PRISM oder einem Mitgliedstaat verwaltet werden könnte.

Natürlich muss die Entscheidung über den Einsatz dieser Truppe von den beteiligten Mitgliedstaaten getroffen werden und nicht von einer (EU-)Institution. Der Einsatz von Truppen würde ein einstimmiges Votum der teilnehmenden Länder erfordern, aber die ehrgeizigen Einreisebestimmungen sollten die oben beschriebene Gefahr der Lähmung minimieren.

Der Aufbau einer solchen Fähigkeit würde die NATO in keiner Weise untergraben. Im Gegenteil, die NATO hat in der Vergangenheit stets Anstrengungen begrüßt, die darauf abzielten, europäische Fähigkeiten zu stärken.

Auf lange Sicht wird diese Truppe das Vertrauen in die operativen Fähigkeiten der EU stärken, die Sicherheit Europas erhöhen und die Vorteile gemeinsamer Ausrüstung und integrierter Systeme demonstrieren. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die PESCO-Projekte, wie die Pläne zur Einrichtung eines europäischen medizinischen Kommandos, einem einsatzbereiten militärischen Katastrophenhilfswerk und mehrerer unbemannter maritimer Systeme.

Download PDF


[1] Laut einer aktuellen Umfrage befürworten 58% der Deutschen eine europäische Armee und ein größeres internationales Krisenengagement. Vgl. Berlin Pulse, Körber Stiftung, 2017 https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/berliner-forum-aussenpolitik/pdf/2017/The-Berlin-Pulse.pdf

[2] A European approach to military drones and artificial intelligence, ECFR 2017 https://ecfr.eu/article/essay_a_european_approach_to_military_drones_and_artificial_intelligence

[3] 75% der Befragten würden eine signifikante Kooperation zwischen nationalen Streitkräften in Europa begrüßen. Vgl. “More European, More Connected and More Capable”, Munich Security Conference Report 2018, p.20.

 

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.