Europäische Solidarität jetzt, im Interesse aller Mitgliedstaaten

Gemeinsamer deutsch-italienischer Appell an die Regierungen aller Mitgliedsstaaten und an die EU-Institutionen

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Mit der Corona-Virus-Epidemie stehen wir in Europa vor einer noch nie dagewesenen Herausforderung für uns alle. Sie schränkt unsere Bewegungsfreiheit ein, belastet unsere Gesundheitssysteme enorm und verursacht enorme wirtschaftliche Schäden. Viele Bürger in Europa machen sich Sorgen um ihre Gesundheit, ihre Angehörigen und ihre wirtschaftliche Zukunft. Italien war das erste europäische Land, das hart getroffen wurde, und hat einen sehr hohen Preis in Form von Menschenleben bezahlt. Ärzte und Krankenschwestern arbeiten unter beispiellosen Bedingungen in modernen Gesundheitssystemen, retten Leben, riskieren aber ihr eigenes. Alle Italiener müssen eine lange Quarantäne mit großen persönlichen Opfern erdulden und sind mit der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Gleichzeitig hilft Italien anderen Ländern, ähnliches Leid zu verhindern, indem es das Bewusstsein für die Schwere der Bedrohung schärft.

Besonders zu Beginn der Krise haben nationale Exportbeschränkungen für dringend benötigte medizinische Geräte und einseitige Grenzschließungen die europäische Reaktion auf die Corona-Krise fragmentiert. Diese nationalen Reflexe schaden dem Ansehen des europäischen Projekts gerade zu einem Zeitpunkt, an dem die europäische Zusammenarbeit am dringendsten benötigt wird. Es gibt aber auch wichtige, inspirierende Beispiele europäischer Solidarität, wenn in Krankenhäusern in Sachsen, Köln oder Berlin italienische Leben gerettet werden. Europa bedeutet, trotz geschlossener Grenzen frische Lebensmittel aus den Nachbarländern zu bekommen. Europa bedeutet internationale Forschungsteams, die über die nationalen Grenzen hinweg nach einem Impfstoff suchen. Wir begrüßen, dass die Europäische Kommission beschlossen hat, ein strategisches „rescEU“-Lager für medizinische Ausrüstung anzulegen. Wir sind uns bewusst, dass sich die Mitgliedstaaten in der Vergangenheit geweigert haben, mehr Kompetenzen im Bereich der Gesundheit zu teilen, wodurch die verfügbaren Optionen für die Kommission eingeschränkt wurden.

Aber wir brauchen jetzt mehr europäische Solidarität. Dies ist ein entscheidender Moment für die Zusammenarbeit in Europa. Wir müssen beweisen, dass wir eine Wertegemeinschaft mit einem gemeinsamen Schicksal sind und in einer turbulenten, globalen Welt füreinander arbeiten. Es ist an der Zeit, mutige gemeinsame Schritte zu unternehmen, um die Angst zu überwinden. Es ist Zeit für die europäische Einheit, nicht für die nationale Spaltung. Wir fordern daher unsere Regierungen auf, die alten Muster der Spaltung in Europa und in der Eurozone zu überwinden. Wir müssen medizinische Nothilfe leisten, indem wir Patienten aus besonders betroffenen und überlasteten Ländern behandeln. Wenn wir unsere medizinischen Kapazitäten auf europäischer Ebene bündeln, können wir mehr Leben retten. Wir müssen auf europäischer Ebene die Herstellung und Verteilung von Schutzartikeln wie Masken, Kleidung und Desinfektionsmitteln sowie von Atemschutzgeräten, Arzneimitteln und Tests koordinieren, damit sie dort eingesetzt werden können, wo sie am dringendsten benötigt werden. Viele Unternehmen in Europa stellen ihre Produktion um. Wir müssen darüber hinausgehen und dafür sorgen, dass Europa bei kritischen medizinischen Geräten und Medikamenten einigermaßen autark ist.

Wir brauchen starke europäische Entscheidungen für die öffentliche Gesundheit und für die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität aller EU-Mitgliedsstaaten. Alle EU-Institutionen, die im Rahmen ihres jeweiligen Mandats handeln, sowie die Mitgliedstaaten müssen sich dringend an einer konvergenten Anstrengung beteiligen, die vier Schlüsselaktionen umfasst:

  1. Die EZB hat wichtige erste Maßnahmen ergriffen. Wir müssen den Finanzmärkten klare Signale senden, dass Spekulationen gegen einzelne Mitgliedstaaten sinnlos sind. Wir brauchen einen umfassenden finanziellen Schutzschild für Europa und den Euroraum.
  2. Dies ist nicht nur die Aufgabe der Geldpolitik der EZB, sondern gehört auch demokratisch entschieden im Rahmen der Finanzpolitik. Alle Mitgliedsstaaten der Eurozone müssen einen zuverlässigen und langfristigen Zugang zu den von der EZB ermöglichten Niedrigzinsfinanzierungen erhalten. Deshalb unterstützen wir die sofortige Eröffnung einer „Gesundheits“-Kreditlinie im ESM, mit gezielten Bedingungen, um sicherzustellen, dass die Kredite für genau definierte Kategorien von gesundheitsbezogenen Programmen verwendet werden, ohne dass zusätzliche Bedingungen gestellt werden.
  3. Aber wir brauchen auch eine Lastenteilung, da die Krise alle Länder gleichzeitig trifft und sich kein einziges Land aufgrund schlechter wirtschafts- oder finanzpolitischer Entscheidungen der Vergangenheit, sondern wegen einer schrecklichen Pandemie in dieser Krise befindet. Da wir gemeinsam in diese Krise geraten sind, werden wir sie nur gemeinsam gut überstehen. Wir brauchen eine Lastenteilung, weil einige Länder sonst Gefahr laufen könnten, nicht genug für Gesundheit und eine rasche Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Aktivitäten ausgeben zu können. Dies würde nicht nur dem betroffenen Land schaden, sondern den gesamten Binnenmarkt gefährden. Wir fordern daher die Ausgabe von Europäischen Gesundheitsanleihen mit einem klaren und definierten gemeinsamen Ziel und unter Einhaltung gemeinsam vereinbarter Richtlinien. Dies würde es ermöglichen, die Last gemeinsam und auf demokratische Weise zu schultern.
  4. Die Dringlichkeit besteht derzeit in der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie und ihrer unmittelbaren Folgen. Wir sollten jedoch damit beginnen, die Maßnahmen vorzubereiten, die notwendig sind, um zu einem normalen Funktionieren unserer Gesellschaften zurückzukehren und zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung überzugehen, indem wir unter anderem Klimaschutz und die digitale Transformation integrieren und alle Lehren aus der Krise ziehen. Dies erfordert eine koordinierte Ausstiegsstrategie, einen umfassenden Konjunkturplan und beispiellose Investitionen. Wir fordern den Präsidenten der Kommission und den Präsidenten des Europäischen Rates auf, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und in Absprache mit anderen Institutionen, insbesondere der EZB und der EIB, die Arbeit an einem entsprechenden Aktionsplan aufzunehmen.

Dies ist nicht der Zeitpunkt, um uns spalten zu lassen. Es ist die Zeit, vereint zu stehen und für eine gemeinsame, bessere Zukunft zu kämpfen.


Zu den UnterzeichnerInnen zählen die Council Mitglieder Emma Bonino, Franziska Brantner, Piero Fassino, Franco Frattini, Ulrike Guérot, Ruprecht Polenz, Michael Schwarz und Nathalie Tocci.

Alle UnterzeichnerInnen und die Petition finden Sie here.

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.