Berlin. Experten deuten den verbalen Schlagabtausch zwischen Moskau und Berlin als Teil einer russischen Strategie

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist normalerweise ein Freund wattierter Worte. Es kommt selten vor, dass er schroff wird. In der Debatte über die angebliche Vergewaltigung einer russlanddeutschen Schülerin aus Marzahn-Hellersdorf fiel er nun doch aus seiner gewohnten Rolle. „Es gibt keinen Grund und keine Rechtfertigung, den Fall dieses 13-jährigen Mädchens, der bis zur Stunde nicht restlos aufgeklärt ist, für politische Propaganda zu nutzen“, polterte Steinmeier am Mittwoch. Er reagierte damit auf einen Querschuss seines russischen Amtskollegen Sergej Lawrow, der den deutschen Behörden Vertuschung angekreidet hatte. Russische Staatsmedien hatten zuvor tagelang berichtet, dass das Mädchen von Flüchtlingen verschleppt und missbraucht worden sei.

Ein einmaliger Ausrutscher? Von wegen. Gestern legte Lawrow nach. Die scharfe Reaktion aus Berlin sei eine Art Schuldeingeständnis. Er verbitte sich den Vorwurf der Einmischung, wetterte der Mann aus Moskau. Politische Beobachter reiben sich die Augen. Ist das nicht die aufgeheizte Rhetorik aus der Zeit des Kalten Krieges? „Die Einmischung Russlands ist bedenklich“, betonte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations. „Die russische Wirtschaft läuft schlecht. Der Bevölkerung soll vorgegaukelt werden, dass es woanders noch schlimmer ist.“ Dabei werde das Bild verbreitet, dass Deutschland im Zuge der Flüchtlingskrise ein „kollabierender Staat“ sei.

Auch aus der Politik kommt scharfe Kritik. „Manipulationen und Unwahrheiten sind gängige Methoden in der innerstaatlichen Feindbildpropaganda der russischen Führung“, rügte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU). Die Sprecherin für Osteuropapolitik der Grünen im Bundestag, Marieluise Beck, wurde noch deutlicher. „Tatsächlich geht es um eine Unterminierung der Europäischen Union, damit sie zerbröselt“, sagte sie. Schließlich gelten Homo-Ehe, Multikulti oder die Aufnahme von Migranten nach Kreml-Lesart als „Sodom und Gomorrha“.

Der Russlandexperte Boris Reitschuster sieht in der russischen Politik zwei Motive. „Zum einen will Präsident Wladimir Putin Bundeskanzlerin Angela Merkel an den Karren fahren – sie gilt als Schlüsselfigur der Sanktionen gegen Moskau“, sagte der Buchautor. „Zum anderen möchte er die EU schwächen. Er fordert eine Art Mitspracherecht in den großen politischen Fragen des Kontinents.“ Es gehe um einen „hybriden Krieg“ – nicht Panzer und Soldaten stünden im Vordergrund, sondern Propaganda und Einflussnahme.

Für diese These gibt es zumindest Belege. So hielt der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow Ende Januar 2013 eine Rede bei der Akademie für Militärwissenschaften in Moskau. „Die Rolle der nichtmilitärischen Mittel beim Durchsetzen von politischen und strategischen Zielen ist gewachsen“, erklärte Gerassimow. Und: Der Schwerpunkt bei der Wahl der Mittel liege „beim breit gestreuten Einsatz von Desinformation, politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nicht-militärischen Maßnahmen, die unter Zuhilfenahme des Protestpotenzials der Bevölkerung zu realisieren sind“.

Rechtsextreme aus ganz Europa trafen sich in St. Petersburg

Demonstrationen gegen die angebliche Vergewaltigung des deutsch-russischen Mädchens gab es in den vergangenen Wochen reichlich. In Berlin, aber auch in Bayern oder Baden-Württemberg gingen Hunderte auf die Straße. Mitglieder eines „Internationalen Konvents Russlanddeutscher“ waren ebenso darunter wie Anhänger von Pegida oder NPD. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die offizielle Vertretung der Russlanddeutschen, distanzierte sich allerdings von den Kundgebungen. Insgesamt leben rund vier Millionen Aussiedler oder deren Familienangehörige in Deutschland.

Es gibt Hinweise, dass Moskau die Verbindung zu rechtsextremen Parteien in Europa fördert und ausbaut. „Wir wissen, dass das Netzwerk sehr eng ist, was geknüpft wird, zur griechischen Morgenröte, zur UKIP nach England, zu Le Pen nach Frankreich, zu Jobbik nach Ungarn“, warnte die Grünenpolitikerin Beck. Nach verschiedenen Presseberichten bekamen sowohl der französische Front National als auch die AfD finanzielle Unterstützung aus Moskau. Auf Einladung der Putin nahestehenden Vaterlandspartei trafen sich im Frühjahr 2015 rund 150 Mitglieder rechtsextremer Parteien aus ganz Europa – darunter auch Udo Voigt, NPD-Abgeordneter im EU-Parlament.

Für einige Experten kommt der Klimasturz zwischen Berlin und Moskau nicht ganz überraschend. „Die deutsch-russischen Beziehungen haben sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert“, bilanzierte Sabine Fischer von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. „Das fing an mit Meinungsverschiedenheiten über autoritäre Entwicklungen in Russland nach den gefälschten Parlamentswahlen und den Massenprotesten in den Jahren 2011 und 2012 und setzte sich beschleunigt fort seit dem Beginn der Krise um die Ukraine sowie der gegenseitigen Verhängung von Sanktionen.“

Kein einfacher Fall für Schadensbegrenzung. Vielleicht ist ja ein Telefonat zwischen Steinmeier und Lawrow in den nächsten Tagen ein Anfang.