Berlin/Athen. . Die Anschuldigungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Deutschland betreibe wegen der Absage von Wahlkampf-Auftritten türkischer Politiker „Nazi-Praktiken“, hat zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst. „Eine Gleichsetzung der Politik des demokratischen Deutschlands mit der des Nationalsozialismus weisen wir entschieden zurück“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte die Äußerungen als „deplatziert“, bemühte sich aber um Entspannung. Auch Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) mahnte zur Besonnenheit: „Ich glaube, unsere Aufgabe ist es, das wieder zu normalisieren.“ In allen politischen Lagern ist die Sorge vor einem Abbau des Rechtsstaats bei dem Nato-Partner groß. Viele fragen sich: Ist die Türkei bereits nah an einer Diktatur?

Die Anschuldigungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Deutschland betreibe wegen der Absage von Wahlkampf-Auftritten türkischer Politiker „Nazi-Praktiken“, hat zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst. „Eine Gleichsetzung der Politik des demokratischen Deutschlands mit der des Nationalsozialismus weisen wir entschieden zurück“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte die Äußerungen als „deplatziert“, bemühte sich aber um Entspannung. Auch Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) mahnte zur Besonnenheit: „Ich glaube, unsere Aufgabe ist es, das wieder zu normalisieren.“ In allen politischen Lagern ist die Sorge vor einem Abbau des Rechtsstaats bei dem Nato-Partner groß. Viele fragen sich: Ist die Türkei bereits nah an einer Diktatur?

Unabhängige Justiz

Kurz nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 startete die türkische Regierung eine flächendeckende Verhaftungswelle. Die Justiz stand als erstes im Visier der Behörden. Nach Angaben der regierungskritischen Website Turkey Purge wurden seit Mitte Juli 4070 Richter und Staatsanwälte entlassen oder vom Dienst suspendiert. Insgesamt traf es 128 625 Staatsbedienstete. Die Begründung der Regierung: Alle hätten in Kontakt mit dem mutmaßlichen Drahtzieher des gescheiterten Putsches gestanden, dem islamischen Prediger Fethullah Gülen. Der 75-Jährige lebt in den USA im Exil.

Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass die auf Linie gebrachte Justiz nur noch wunschgemäße Urteile fällt. So bezeichnete Erdogan den sich in Untersuchungshaft befindenden deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel als „deutschen Agenten“. Dass der Staatsanwalt Einspruch gegen diese Vorverurteilung erhebt, darf bezweifelt werden.

Presse- und Meinungsfreiheit

Laut Amnesty International wurden seit dem Putschversuch 184 Medienunternehmen per Dekret des Präsidenten dauerhaft geschlossen. Nach Einschätzung der Website Turkey Purge sitzen 191 Journalisten hinter Gittern. Einer von ihnen ist „Welt“-Korrespondent Yücel. Ihm werden Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung vorgeworfen. Yücel hatte, wie andere Medienvertreter auch, über kompromittierende E-Mails des Energieministers und Erdogan-Schwiegersohns Berat Albayrak berichtet, die bei Wikileaks frei zugänglich sind.

Versammlungsfreiheit

Das Demonstrationsrecht ist im Ausnahmezustand weitestgehend eingeschränkt. Bereits vor dem Putschversuch ging die Regierung rabiat gegen Proteste vor. Bei den Kundgebungen im Mai 2013 gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks kam es zu gewaltsamen Polizeieinsätzen.

Regieren im Ausnahmezustand

Kurz nach dem Putschversuch verhängte Erdogan den Ausnahmezustand. Der Präsident kann damit per Dekret durchregieren.

Referendum: Noch mehr Macht für den Präsidenten

Mit der geplanten Verfassungsänderung soll die parlamentarische Demokratie in der Türkei durch ein Präsidialsystem ersetzt werden. Die Nationalversammlung wird zwar von 550 auf 600 Abgeordnete erweitert, verliert aber viele ihrer Befugnisse. So kann der Präsident künftig das Land im Alleingang mit Dekreten regieren, die auch ohne Zustimmung des Parlaments Gesetzeskraft haben. Das Parlament hat zwar nach wie vor das Recht, Gesetze vorzuschlagen, der Präsident kann sie aber mit seinem Veto blockieren. Das Amt des Premierministers wird abgeschafft, seine Kompetenzen gehen an den Staatschef über. Der kann eigenmächtig Ministerien einrichten oder abschaffen, Minister berufen oder entlassen. Der Präsident bestimmt die Rektoren der Universitäten und hat weitgehende Befugnisse bei der Ernennung leitender Richter und Staatsanwälte. Er kann den Notstand ausrufen und das Parlament nach Gutdünken auflösen.

Fazit

Politik-Experten bezeichnen die Türkei zwar noch nicht als Diktatur, sehen aber eine Zunahme autoritärer Tendenzen. „Nach der Entwicklung der letzten Jahre – insbesondere nach dem Putschversuch – entwickelt sich das Land de facto in Richtung Ein-Mann-Herrschaft“, sagt der Berliner Politikberater Martin Weiss dieser Redaktion.

Josef Janning, Direktor der Berliner Denkfabrik Council on Foreign Relations, wertet die Nazi-Vorwürfe Erdogans als „intellektuelle Einigelung“ der türkischen Politik. „Die Türkei ist heute ein autoritärer Staat, auf dem Weg in eine andere Republik. Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und eine unabhängige Justiz sind nicht mehr gewährleistet.“ Erdogan sehe sich als „zweiter Republikgründer“ in den Fußstapfen von Staatsgründer Kemal Atatürk. „Während Atatürk das Land zur Modernisierung zwingen wollte, will Erdogan das Land mit Macht in eine islamisch-konservative Richtung drängen“, so Janning.