Hannover . Der US-Präsident lobt die von Selbstzweifeln geplagte EU in den höchsten Tönen und fordert mehr Geld für die Nato

Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger soll in den 70er- Jahren einmal gefragt haben: „Welche Telefonnummer hat Europa eigentlich?“ Er machte sich damals über die fehlende gemeinsame Außenpolitik Europas lustig und bemängelte, dass es keine Persönlichkeit von Gewicht gebe.

Ganz anders gestern Mittag. US-Präsident Barack Obama steht in der Halle 35 der Hannover Messe. Hinter ihm prangen die deutsche, die europäische und die amerikanische Flagge. Die USA und die gesamte Welt bräuchten „ein starkes, wohlhabendes und geeintes Europa“, sagt er in einer knapp 50-minütigen Grundsatzrede. Eine integrierte EU bleibe entscheidend für die Weltordnung. Er schaut von links nach rechts, als wolle er jeden der rund 500 geladenen Gäste in den Blick nehmen. „Mit mehr als 500 Millionen Menschen mit mindestens 24 Sprachen ist Europa eine der größten politischen Leistungen der Neuzeit“, lobt er.

Hier redet Obama, der Europa-Versteher, der Seelentröster eines geschundenen Kontinents. Flüchtlingskrise, Wirtschaftskrise, Aufstieg der Rechtspopulisten, das Brexit-Gespenst: Angesichts der Erschütterungen der Gegenwart unterstreicht Obama die Leistungen der Vergangenheit. Er verteilt kleine Psychoinjektionen, appelliert an das eigene Selbstbewusstsein. „Vergessen Sie nicht, wer Sie sind und was Sie geleistet haben.“ Es sei kein Zufall, dass Millionen Flüchtlinge nach Europa strömten, weil sie sich dort ein besseres Leben erhofften.

Ein bisschen erinnert die Situation an einen völlig verzweifelten Menschen, der beim Psychiater landet. Der Präsident richtet auf, gibt Halt. Ein Hauch von „Yes we can“ weht durch Halle 35. Jenem Wahlkampfslogan, mit dem Obama 2008 eine durch Finanzkrise und Irak-Krieg darniederliegende Nation wieder aufgerichtet hatte. Als Obama den Nachkriegskanzler Konrad Adenauer zitiert, brandet Applaus auf: „Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle.“

Doch der Präsident ist nicht nur der Motivationstrainer für eine von Selbstzweifeln zerrissene EU. Er fordert auch, warnt vor der wachsenden Terrorgefahr in einer unsicheren Welt. Und erklärt seinem unbeugsamen Willen, die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) zu zerstören. „Wir brauchen auch ein starkes Europa, um die Last der gemeinsamen Sicherheit zu teilen.“ Obamas Blick wird ernst, seine Stimme verliert das heitere Timbre. „Europa und die Nato können noch mehr tun.“ Er erwähnt Beiträge für die Luftschläge der US-geführten Koalition in Syrien und im Irak sowie das Training örtlicher Truppen. Und: „Europa war in der Vergangenheit manchmal zu selbstgefällig, wenn es um die eigene Verteidigung ging.“ Er mahnt die Umsetzung der Ziele des Nato-Gipfels von Wales 2014 an, wonach jedes Mitglied zwei Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung stecken soll. Fast alle Staaten der Allianz sind unterhalb dieser Messlatte, auch Deutschland.

Der Präsident kündigt an, bis zu 250 zusätzliche Soldaten nach Syrien zu schicken. Sie sollen lokale Kräfte im Kampf gegen den IS unterstützen, hatte zuvor der stellvertretende US-Sicherheitsberater Ben Rhodes mitgeteilt. Die kleinen Teams seien sehr effektiv darin, moderate Rebellen zu unterstützen. „Das Leiden des syrischen Volkes muss ein Ende haben“, betont Obama.

Gegenüber Kremlchef Wladimir Putin gibt sich der Präsident unversöhnlich. Mehrmals bezeichnet er Russland als „aggressiv“. Die Sanktionen müssten aufrechterhalten bleiben, bis Moskau das Minsker Abkommen erfülle und der Ukraine-Konflikt entschärft werde. Man solle die Sorgen der Osteuropäer und der Balten ernst nehmen. Der Nato-Gipfel im Juli in Warschau werde die Aufstockung der Militärverbände an der Ostflanke des Bündnisses festzurren.

Libyen befindet sich ganz obenauf der Agenda

Doch so entschlossen Obama auftritt, so scharf seine Rhetorik gegen die „Feinde der Freiheit“ ausfällt: Worüber Obama nicht redet, sind die eigenen Versäumnisse. So engagierte er sich in Libyen, in Syrien und in der Ukraine-Krise nur halbherzig. Der Satz „Führen von hinten“ („leading from behind“) wurde zum Motto von Obamas Außenpolitik. In der Flüchtlingskrise pries er zwar die Willkommenspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel in den höchsten Tönen. Die USA selbst wollen in diesem Jahr aber nur rund 20.000 Migranten aus Syrien aufnehmen – auch, weil die Republikaner heftigen Widerstand angekündigt haben. „Merkels größte Herausforderung, die Flüchtlingskrise, lässt die Amerikaner kalt“, lautet die Erklärung von Josef Janning, Chef der Berliner Denkfabrik Council on Foreign Relations.

Die turbulente Weltlage macht jedoch aus Amerika und Europa eine Notgemeinschaft. Es ist kein Zufall, dass sich Obama beim Fünfer-Gipfel am Nachmittag mit den Regierungschefs aus dem Kern Europas trifft. Auf dem Barockschloss Herrenhausen beraten Obama und Merkel mit dem Franzosen François Hollande, dem Briten David Cameron und dem Italiener Matteo Renzi. Merkel sagt nach dem Fünfer-Gipfel, diese Runde sei ein gutes Format, um auch künftig die wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Fragen gemeinsam zu lösen.

Libyen befindet sich ganz oben auf der Agenda. Man wolle „alles gemeinsam unternehmen“, um die neue Einheitsregierung in dem Bürgerkriegsland zu unterstützen, erklärt Merkel nach dem Treffen. Es gehe um die Kontrolle der Flüchtlingsströme und die Aushebung der Terrornester des IS, heißt es. Der Wüstenstaat im Norden Afrikas droht zunehmend zur neuen Ausweichroute der Migranten zu werden. Die Spitzenpolitiker beraten über die Ausbildung von Polizei und Militär, falls die neuen Machthaber das anfordern. Ein Nato-Einsatz vor der libyschen Küste sei hingegen nicht im Gespräch, so Merkel. Auch die sich wieder verschärfende Syrienkrise, der Ukraine-Konflikt sowie das Freihandelsabkommen TTIP sind Thema.

Obama dürfte dem Mini-Euro-Gipfel ähnliche Optimismus-Pillen verabreicht haben wie seinem Publikum zuvor. Am Ende seiner Rede am Mittag sagt er mit einem Anflug von Pathos: „Sie können sich darauf verlassen, dass Ihr größter Verbündeter und Freund, die Vereinigten Staaten von Amerika, an Ihrer Seite stehen. Schulter an Schulter. Jetzt und für immer.“ Dann wummert Andreas Bouranis Hit „Auf uns“ aus den Lautsprecherboxen. Die Menge klatscht frenetisch Beifall. Obama lächelt, winkt und geht.