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Ausland OSZE-Mission

Protokoll einer Überforderung in der Ukraine

Der Frieden ist brüchig: Ein ukrainischer Soldat in der Nähe von Schirokine Der Frieden ist brüchig: Ein ukrainischer Soldat in der Nähe von Schirokine
Der Frieden ist brüchig: Ein ukrainischer Soldat in der Nähe von Schirokine
Quelle: dpa
Die Beobachter der OSZE stehen in der Ukraine zwischen den Fronten, um den Frieden zu fördern. Dabei stoßen sie an ihre Grenzen. Denn für die wirklich wichtigen Aktionen fehlt ihnen häufig das Mandat.

In Schirokine, einem kleinen Dorf östlich der Hafenstadt Mariupol, ist kein Haus unbeschädigt. Dächer sind eingestürzt, Fenster zerschlagen, Zäune von Schrapnellen durchlöchert. Hier und da stecken Minen, die noch nicht explodiert sind, im Asphalt. Tagsüber sind Salven aus Maschinengewehren und dumpfe Explosionen zu hören. Abends wird heftiger geschossen, erzählen die Einwohner, die hiergeblieben sind. Dann feuere aus der Ferne auch schwere Artillerie. Nach dem Abkommen von Minsk dürfte das nicht passieren – denn der Friedensvertrag legt fest, dass beide Seiten ihre großkalibrigen Geschütze abziehen.

„Es reicht nicht, hier zu einer Feuerpause aufzurufen. Die hat einmal immerhin 67 Stunden gedauert, aber nicht länger“, sagt Alexander Hug. Er ist stellvertretender Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). In der Ukraine sollen sie über den Frieden wachen. Einen Frieden, den es in Schirokine nicht gibt. „Die Kampfseiten sind einfach zu nah aneinander, teilweise nur 50 Meter entfernt, die Soldaten können einander in die Augen schauen,“ sagt Hug.

Seine Mission ist schwierig: Frieden zu fördern, mitten in einem Krieg, an dem Russland zwar offiziell nicht beteiligt ist, der aber ohne russische Unterstützung nicht möglich wäre. Kritiker der OSZE sagen deswegen: Der Einsatz war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Alexander Hug (r.) bei den Ermittlungen zum Abschuss der Boeing 777 der Malaysia Airlines
Alexander Hug (r.) bei den Ermittlungen zum Abschuss der Boeing 777 der Malaysia Airlines
Quelle: dpa

„Die Erwartungen an uns gehen oft über unser Mandat hinaus“, sagt Hug. „Wir sind keine Friedenstruppen. Wir können nichts erzwingen – außer mit Ideen und Informationen aushelfen.“ Ob das reicht, um den dauerhaften Frieden in der Ukraine durchzusetzen? Hug will es in Schirokine ausprobieren. Sein Vorschlag: Beide Seiten ziehen ihre Truppen um fünf bis acht Kilometer zurück.

Über diesen Vorschlag wird nun in Schirokine hart verhandelt. Alexander Hug fährt mit seinen Beobachtern persönlich dorthin, um zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln. Kurz nachdem die weißen Geländewagen der OSZE im Dorf geparkt haben, kommen zwei weitere Autokorsos an. Im einen sitzt der ukrainische General Andrej Taran, der andere begleitet den Vertreter der russischen Streitkräfte, General Alexander Lenzow.

Sie gehören einem russisch-ukrainischen Gremium an, das sich Zentrum für Kontrolle und Koordination nennt. Sie müssen jetzt einen Plan zum Rückzug ausarbeiten. Die beiden Generäle gehen in ein ziviles Haus, ein Dorfeinwohner hat sein Wohnzimmer für die Verhandlungen zur Verfügung gestellt. Die Militärs setzen sich an einen Tisch, an der Wand hängen Ikonen. Unter den Heiligenbildern nimmt Alexander Hug am selben Tisch Platz.

Quelle: Infografik Die Welt

Als Hug vor einem Jahr mit seinen Leuten in die Ukraine flog und sein Mandat aufnahm, landete er im glänzend neuen Flughafen von Donezk. Niemand dachte damals an Panzerwagen, Helme und Schutzwesten. Die Beobachter fuhren in ungeschützten Golfs durch die Gegend. Heute liegt der Donezker Flughafen in Schutt und Asche. Immer noch wird hier jeden Tag gekämpft. Und genauso oft stößt die Mission der OSZE an die eigenen Grenzen. Auch in Schirokine. „Die Seiten müssen selbst untereinander entscheiden, welche Linie sie als Ausgangspunkt für den Abzug nehmen“, erklärt Hug. Doch genau das ist der größte Streitpunkt. Der Separatisten-Anführer Alexander Sachartschenko nannte den Abzugsplan „schizophren“. Das ukrainische Freiwilligen-Bataillon Asow erklärte ebenfalls, sich nicht zurückziehen zu wollen.

Dazu kommt, dass die Kriegsparteien es der OSZE nicht leicht machen. Ein Teil des Kampfgebiets ist für die Beobachter geschlossen. Die Mission hat keinen Zugang zu der russisch-ukrainischen Grenze, nur an wenigen Grenzübergängen ist sie präsent. Auch in die Gebiete zwischen Donezk und Lugansk, die von Kosaken kontrolliert sind, kann die OSZE nicht fahren. Im vergangenen Jahr wurden dort bereits acht Beobachter entführt und als Geiseln gehalten. Die Sicherheit der OSZE-Mitarbeiter hat Priorität. „Falls jemand ums Leben kommt, werden wir die ganze Operation abbrechen müssen“, sagt Hug. Deshalb müssen sie meistens im Vorfeld mit den Kommandeuren sprechen, wenn sie ins Kampfgebiet fahren, und sie vorwarnen, damit der Beschuss eingestellt wird.

So ist die aktuelle Lage an der Frontlinie

Trotz Waffenstillstand zwischen ukrainischer Armee und Separatisten ist es erneut zu Gefechten gekommen. OSZE-Beobachter versuchen an der Front zu vermitteln.

Quelle: N24

Die Gespräche in Schirokine dauern mehr als eine Stunde. „Es ist schwierig wie immer“, sagt ein russischer Offizier, als er das Haus verlässt. Hug erklärt, dass sich die beiden Generäle darauf geeinigt hätten, die Truppen abzuziehen. „Aber es bleiben noch Streitigkeiten: Wie weit werden die Soldaten abgezogen? Und wer soll den Prozess kontrollieren?“ Das Wichtigste aber: Kiew und Moskau müssen dem Abzug noch zustimmen. Der russische General Rosmasnin habe „sichtbaren Einfluss“ auf Separatisten, sagt Hug. „Russland spielt eine gewisse Rolle in den Strukturen der Donezker Volksrepublik, ob formell oder informell“, sagt er. „Aber es ist nicht unbedingt schlecht, man braucht dort Strukturen, mit denen man reden kann.“

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Wegen der oft so widersprüchlichen russischen Haltung wird die Mission von den Ukrainern kritisiert. Der Unmut entzündet sich aber vor allem daran, dass russische Beobachter an der Mission beteiligt sind, weil Russland offiziell nicht als Konfliktseite gilt. Das schafft Misstrauen.

Den russischen Militärs traut niemand so wirklich

Der Oberstleutnant Alexander Lobas, Kommandeur des 37. Bataillons, das vor Schirokine steht, ist jedes Mal beunruhigt, wenn er russische Teilnehmer der Mission sieht. „Das sind doch alles ehemalige Militärs. Wie kann ich sicher sein, dass sie keine Informationen an russische Geheimdienste weitergeben?“, sagt er. „Sie können gerne weiter von der Front aus arbeiten, aber doch nicht direkt neben unseren Stellungen.“

Die Beobachter halten sich immer zurück, wenn es um die russische Beteiligung im Konflikt geht. Internationale Medien und die Nato berichten regelmäßig über Beweise für die Präsenz von Soldaten regulärer russischer Truppen und für Waffenlieferungen über die Grenze. Aber die OSZE, die einzige internationale Organisation vor Ort und die Quelle von unabhängigen Informationen, wählt immer vorsichtige Formulierungen.

Die OSZE-Mission ist ein Alibi für die Untätigkeit des Westens. Daher wäre eine UN-Mission oder eine EU-Nato-Mission auf Einladung der Ukraine weit besser
Gustav Gressel, Militärexperte beim European Council on Foreign Relations

„Wir sehen auf der anderen Seite russische Staatsbürger, Kämpfer mit russischen Emblemen auf der Uniform, spezielle Technik“, sagt Hug. „In unseren Berichten beschreiben wir das. Jeder kann daraus seine Konsequenzen ziehen. Doch daraus zu folgern, dass diese Menschen im Auftrag der russischen Regierung geschickt worden sind, würde außerhalb unseres Mandates liegen.“

Die OSZE setzt auf eine politische Lösung des Konflikts. Russland hat dem Mandat der Mission in der Ostukraine zugestimmt. Aber sollte die Lage wieder eskalieren, kann die OSZE das nicht aufhalten. Das war bereits im vergangenen Sommer so und auch Anfang dieses Jahres. „Die OSZE-Mission ist ein Alibi für die Untätigkeit des Westens“, sagt Gustav Gressel, ein Militärexperte beim European Council on Foreign Relations (ECFR), einem Thinktank für außenpolitische Fragen. „Daher wäre eine UN-Mission oder eine EU-Nato-Mission auf Einladung der Ukraine weit besser. Wenn sich Russland im Sicherheitsrat gegen Ersteres sträubt, sollte man ihm mit der EU-Nato-Mission drohen – Moskau wäre dann in dieser Frage auch sofort gesprächsbereit.“ Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko forderte am Freitag in einem Fernsehinterview erneut Friedenstruppen von der UN oder von der Europäischen Union.

Die OSZE kann die zuverlässigsten Informationen über die Lage vor Ort liefern – aber nur in den Orten, in die sie zugelassen wird. Sie kann lokale Friedensinitiativen starten – aber ob die funktionieren, hängt nicht von der OSZE ab.

Zum Abschied aus Schirokine bringt Alexander Hug dem Mann, der die Generäle in sein Haus gelassen hat, ein Tütchen mit Pulverkaffee. Worauf sich die Generäle geeinigt haben, will der Gastgeber wissen. „Werden die Soldaten hier bald weg sein?“ „Ich weiß, dass ich Sie enttäusche“, sagt Hug. „Ich hoffe, dass es innerhalb dieses Monats passieren kann.“ Der Mann schaut bestürzt. In dieser Zeit könne doch eine Mine in seinem Hof explodieren. Dieses Verhandlungsergebnis will er deshalb nicht akzeptieren: „Ich gebe Ihnen den Kaffee zurück, im Tausch gegen den Frieden.“

Mitarbeit: Gerhard Gnauck

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