«Israel hat ein Extremismus-Problem»

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Jüdischer Terror«Israel hat ein Extremismus-Problem»

Die Gewalt jüdischer Siedler in Israel eskaliert. Nahost-Experte Mattia Toaldo erklärt, wie es so weit kommen konnte.

Nicolas Saameli
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Nicolas Saameli

Ein lebendig verbranntes palästinensisches Baby und eine erstochene 16-jährige Gay-Parade-Teilnehmerin an nur einem Wochenende – Gewalt und Terror in Israel sind nichts Neues. Neu ist aber, dass nun auch israelische Extremisten als Terroristen bezeichnet werden. Was ist passiert? 20 Minuten fragte den Nahost-Experten Mattia Toaldo.

Herr Toaldo, Benjamin Netanyahu hat den Anschlag von Douma als «Terrorismus» bezeichnet. Gibt es in Israel tatsächlich jüdischen Terrorismus oder handelt es sich dabei um Extremismus?

Diese Leute sind dazu bereit, Babys bei lebendigem Leib zu verbrennen. Das ist für mich ganz klar Terror.

Was macht diesen israelischen Terror aus?

Gewalt durch jüdische Israelis in der Westbank gibt es schon eine ganze Weile. Seit den 70er-Jahren haben die Siedler dort immer mal wieder Häuser angezündet, Olivenbäume von Palästinensern gefällt oder sogar leichte Angriffe auf Moscheen verübt. Bisher waren das aber meist Reaktionen auf Räumungen von illegalen Siedlungen durch die israelische Regierung oder Drohgebärden gegen palästinensische Nachbarn.

Und was ist neu?

Was sich in den letzten Monaten geändert hat, ist, dass diese Angriffe gewalttätiger wurden. Die Ideologie dahinter scheint viel stärker geworden zu sein. Ein Beispiel: Auch früher haben die Israelis Häuser angezündet. Heute tun sie dies aber im Bewusstsein, dass Menschen in diesem Gebäude sind und dass sie vielleicht jemanden damit töten.

Wer sind die israelischen Terroristen? Gibt es aktive Gruppen?

Ich suche schon recht lange nach einem Namen für diese Terrorgruppen, habe aber noch nichts gefunden. Nach ihren Anschlägen gibt es normalerweise keine Bekennerschreiben und niemanden, der die Verantwortung übernimmt. Das Einzige, das die Terroristen zurücklassen, sind Graffiti an den Wänden der zerstörten Häuser.

Was weiss man sonst noch über sie?

Die meisten der Täter sind sehr jung und die Gruppen haben meist einen älteren Anführer. Sonst wissen wir fast nichts über die Organisation dieser Gruppen, weil sich erst sehr wenige von ihnen vor Gericht verantworten mussten.

Hat die Zahl der israelischen Terroristen zugenommen?

Ich denke nicht. Es sind noch immer nur ein paar tausend Leute, die bereit sind, extreme Gewalt einzusetzen. Sie sind aber gefährlicher geworden. Die Zahl der Anschläge hat zwar in den letzten Jahren abgenommen – doch die Attacken wurden brutaler. Ich war 2013 selbst Zeuge eines Angriffs in Ost-Jerusalem. Damals haben Israelis die Reifen eines Autos zerstochen und danach Beleidigungen an die Wand gesprüht. Zwischen diesem Vorfall und dem Verbrennen eines Menschen bei lebendigem Leib, wie es heute vorkommt, gibt es einen enormen Unterschied.

Was hat diesen Unterschied ausgelöst?

Das erste Mal, dass israelische Terroristen einen Menschen bei lebendigem Leib verbrannt haben, war vor einem Jahr, kurz vor dem Krieg in Gaza. Die Tatsache, dass diese Tat damals nicht wirklich verurteilt wurde und dass es aus israelischen Regierungskreisen bis heute keine starken Reaktionen darauf gab, hat die Terroristen in ihrem Handeln bestärkt.

Was wollen die israelischen Terroristen?

Wie gesagt: Es gibt keine bekannten Gruppen und deshalb auch keine offiziellen Statements. Ihr Ziel scheint aber zu sein, den Staat zu destabilisieren und Angst zu verbreiten. Einige dieser Gruppen wollen zudem in Israel ein rein jüdisches «Königreich» errichten, das nur nach religiösem Recht regiert wird.

Das klingt verdächtig nach den Forderungen von islamistischen Terroristen.

(Lacht) Ja, auf jeden Fall.

Bei den Wahlen im März machte Netanyahu den radikalen Siedlern grosse Zugeständnisse, um an der Macht zu bleiben. Aus ihren Reihen stammen nun auch die israelischen Terroristen. Haben diese Zugeständnisse den Terror verstärkt?

Hier müssen wir zwischen radikalen und gewalttätigen Siedlern unterscheiden. Netanyahu hat die terroristischen Siedler nie unterstützt – das hätte er auch gar nicht tun können. Es gibt aber in seiner Regierung tatsächlich Elemente, die sehr radikale Positionen vertreten. Einige Minister sind Siedler. Man könnte aber sagen, dass die Terroristen die Positionen der radikalen Politiker brauchen, um ihre Taten zu rechtfertigen.

Gibt es eine Verbindung zwischen diesen radikalen Politikern und den Terroristen?

Nein, da herrscht eine klare Trennung. Es würde mich nicht erstaunen, zu erfahren, dass die Terroristen die radikalen Politiker sogar verachten. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Vorzugsbehandlung, welche die Siedler erfahren haben, bei ihnen das Gefühl ausgelöst hat, im Recht zu sein und für Gewalt gegen Palästinenser nicht bestraft zu werden.

Hat Israel ein Extremismus-Problem?

Oh ja. Das haben die Ereignisse der letzten Wochen sehr deutlich gezeigt. Im Visier der israelischen Terroristen stehen Palästinenser, aber auch homosexuelle und liberale Juden. Sogar Reuven Rivlin, der israelische Staatspräsident, musste unter Personenschutz gestellt werden, weil ihn ultrakonservative Israelis bedrohten.

Israel steht international zunehmend im Abseits – Stichworte: Gaza-Krieg von 2014, Atom-Deal mit dem Iran. Erhöht dieser Druck von aussen die Gewaltbereitschaft der Siedler?

Einige Teile der israelischen Gesellschaft haben sich in den letzten Jahren sicher stärker isoliert. Ich glaube aber nicht, dass diese Isolation der Auslöser für die Gewalt ist.

Sondern?

Diese Taten sind das Resultat von Jahrzehnten, in denen die Palästinenser durch die Trennung von der israelischen Bevölkerung und durch ein systematisch ungleiches Verhältnis «entmenschlicht» wurden. Hat man seine Gegner einmal für «nicht menschlich» erklärt, ist es nicht mehr so schlimm, ein Baby lebendig zu verbrennen.

Was muss jetzt in Israel geschehen, um diesen Extremismus einzudämmen?

Wichtig ist das, was in Israel jetzt gerade vielerorts geschieht: Die Menschen müssen gegen solche Taten demonstrieren und zeigen, dass nicht alle hinter solchen radikalen Positionen stehen.

Mattia Toaldo

ist ist Nahost-Experte beim European Council on Foreign Relations und lebt in London.

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