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Tunesische Dschihadisten in Libyen

Die Dschihadisten blicken nach Tunesien

Feature
Um Al Anareb Milizionäre
Um Al Anareb Milizionäre Foto: Mirco Keilberth Mirco Keilberth

Ob Islamischer Staat oder Ansar Al-Scharia: Immer mehr tunesische Dschihadisten kehren aus Libyen in ihre Heimat zurück. Weder die Menschen noch die Regierung in Tunis sind auf sie vorbereitet.

Die Anschläge auf das Bardo-Museum und einen Strand bei Sousse 2015 wurden von Tunesiern verübt, die dafür in Libyen ausgebildet worden waren. Tunesiens vom Tourismus abhängige Wirtschaft hat sich bis heute nicht von diesem Schlag erholt. Es waren die bis dato verheerendsten Anschläge in der Geschichte des Landes. Mittlerweile sind Tunesiens Sicherheitskräfte besser gerüstet und können Anschläge verhindern, anstatt bloß zu reagieren. Doch die Lage in Libyen hat sich nicht verbessert – einer der Gründe, warum Tunesien anfällig für den Terror bleibt.

 

»Terroristen erhalten in Libyen eine militärische Ausbildung, dort planen sie Anschläge und führen sie schließlich auf tunesischem Boden aus«, sagt Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Schon Al-Qaida im Maghreb (AQIM) fand in Tunesien ein Reservoir potenzieller Rekruten, ebenso der sogenannte Islamische Staat (IS). Der Aktionsradius der Terrorgruppen reicht dabei über Tunesien und Libyen hinaus und erfasst die Sahelzone – und sogar Krisengebiete jenseits des Maghreb. Das »Istituto Affari Internazionali« (IAI) in Rom schätzt, dass zwischen 2011 und 2017 bis zu 4.000 Tunesier ihre Heimat verlassen haben, um in Syrien oder dem Irak für dschihadistische Gruppen zu kämpfen. Nach Libyen, so die Schätzungen, hätten sich rund 1500 tunesische Kämpfer abgesetzt.

 

Bislang sind laut der Organisation »Rescue Association for Tunisians Trapped Abroad« rund 1000 Tunesier aus Kriegsgebieten zurückgekehrt. Das bedeutet: Viele der jungen Kämpfer sind noch immer dort. Nun geht die Angst um, dass sich die nordafrikanischen IS-Kämpfer aus Syrien und Irak den Ablegern der Organisation in Libyen anschließen könnten. Analyst Megerisi befürchtet, dass tunesische Kämpfer dort eine wichtige Rolle spielen.

 

Die Angaben zu tunesischen IS-Kämpfern basieren auf Schätzungen

 

Rafaa Tabib vom Tunisian Institute for Strategic Studies (ITES) glaubt hingegen, dass Tunesier in bestimmten Teilen des Landes zwar einen Großteil des Fußvolks ausmachen, die Kämpfer aber von Libyern angeführt und so Teil des innenlibyschen Machtkampfes würden. »In den vergangenen Monaten verübten tunesische IS-Kämpfer Angriffe im Südwesten des Landes, etwa in Tazerbo«.

 

Trotz der enormen Tragweite dieser Querverbindungen mangelt es der öffentlichen Debatte noch immer an belastbaren Zahlen. Mit Blick auf die vielen Tunesier in den Reihen dschihadistischer Organisationen räumt auch Soziologe Tabib ein, dass es keine einheitliche Methode gibt, Terroristen zu identifizieren oder statistisch zu erfassen. So würden sich tunesische Kämpfer nicht nur Gruppen wie dem IS und Ansar Al-Scharia anschließen, sondern auch Stammesmilizen, die teilweise ebenfalls mit terroristischen Methoden operieren. Hinzu kommt, dass die Angaben zu tunesischen IS-Kämpfern in Libyen lediglich auf Schätzungen basieren. Und so wiederum lässt sich kaum abschätzen, in welchem Ausmaß sich junge Tunesier weiter radikalisieren.

 

Gleichwohl ist der IS in Libyen in der Defensive, meint Ludovico Carlino von der Londoner Firma IHS Markit, der sich als Risikoanalyst auf dschihadistische Grupperungen in der Region spezialisiert. Mit Unterstützung der US-Luftwaffe gelang es lokalen Milizen aus der Gegend von Misrata im Dezember 2016, den libyschen Ableger des IS aus Sirte in den Süden des Landes zu vertreiben. »Der IS verfügt heute über viel geringere Möglichkeiten, in Tunesien aktiv zu werden«, glaubt Carlino.

 

Eine Entwicklung, die im Gegensatz zu der Situation 2014 und 2015 stehe, als der IS immer mehr Gebiete unter seine Kontrolle brachte – darunter auch Ölfördergebiete wie die um Sirte. Inzwischen müsse der IS sich erst einmal neu formieren, um Operationen außerhalb Libyens durchzuführen – Kämpfer nach Tunesien zu schicken, habe derzeit keine Priorität: »Im Moment sind die südlichen Grenzen Libyens viel wichtiger für die Strategie des IS, denn von dort kommt der Nachschub an Waffen und Kämpfern.«

 

»25 Millionen Waffen sind in Libyen im Umlauf«

 

Die Kämpfe um Sharara, das größte Ölfeld des Landes, gefährden das fragile Gleichgewicht der Stämme im Süden Libyens. Sollten die verfeindeten Regierungen unter Fayez Al-Serraj und Khalifa Haftar keine Einigung finden, könnte der IS als lachender Dritter aus dem Kampf um die Kontrolle um die Region Murzuk hervorgehen. Carlino glaubt, dass ein solcher Geländegewinn dem IS genügend Spielraum geben könnte, um Tunesien erneut ins Visier zu nehmen.

 

ECFR-Experte Megerisi sieht den IS hingegen im Nordwesten auf dem Vormarsch. Nach den Niederlagen in Zentrallibyen würden sich die IS-Kämpfer laut Informationen des libyschen Militärgeheimdienstes nahe der Stadt Bani Walid sammeln. Daher stehe es zu befürchten, dass die Terrorgruppe von dort aus weiter Richtung Westen expandiere: nach Algerien und Tunesien.

 

Tabib wiederum sieht insbesondere in den Überresten der libyschen Terrorgruppe Ansar Al-Scharia eine Gefahr für Tunesien. Die Gruppe hatte seit ihrer Gründung 2011 mehrmals Anschläge im Nachbarland verübt. Zwar löste sich die Gruppe im Mai 2017 nach der Niederlage gegen Haftars Truppen auf, viele ihrer früheren Mitglieder haben sich jedoch dem IS und anderen dschihadistischen Milizen in der Gegend um Zawiya und Tripolis angeschlossen.

 

Tabib weist außerdem auf Tunesiens durchlässige Südgrenze hin. Viele Menschen vor Ort seien auf Einnahmen aus dem Schmuggelgeschäft angewiesen, um zu überleben. Die libyschen Milizen, die den Menschen-, Drogen- und Waffenhandel kontrollieren, haben sich im Süden eingenistet – und richten den Blick für ihr Geschäft auch Richtung Tunesien. »25 Millionen Waffen sind in Libyen im Umlauf«, schätzt Tabib. »Das ist eine neue Situation für uns.« Tunesiens Zentralstaat müsse sich mit einem Nachbarland auseinandersetzen, in dem sich bewaffnete Gruppen frei bewegen.

 

Das Fehlen staatlicher Autorität hat für Tunesien Konsequenzen

 

Das Fehlen einer zentralen staatlichen Autorität in Libyen hat für Tunesien handfeste Konsequenzen. Parallele Regierungsstrukturen und das Milizen-Wirrwarr erschweren es, offizielle Ansprechpartner zu finden, und nicht gleichzeitig die jeweils andere Seite zu vergraulen. Das verkompliziert auch den Kampf gegen den Terrorismus.

 

So gäbe es zwar einen wichtigen Informationsaustausch mit Blick auf sicherheitspolitische Fragen, insbesondere was die Grenzregion betrifft, doch laut Tabib tut sich Tunesiens Regierung schwer damit, klare Verhältnisse mit den Konfliktparteien im Nachbarland zu schaffen. »Libyens Institutionen sind nicht ausgereift, folgen keinen klaren Prozessen. Sie verfügen nicht einmal über die Kontrolle über ihr eigenes Land und eignen sich erst recht nicht als Partner für andere Regierungen.«

 

Tunesien dränge darauf, alle beteiligten Parteien im Libyen-Konflikt an einen Tisch zu bringen, meint Megerisi. Libyens Stabilität sei für Tunesien von entscheidender Bedeutung. Tunesien solle deshalb weiter auf ein vereinigtes Libyen hinarbeiten, glaubt Megerisi und weist daraufhin, dass Tunis bereits heute eine wichtige Anlaufstelle für diplomatische Initiativen sei.

 

Das von Tunesien im Februar 2017 organisierte Gipfeltreffen mit Algerien und Ägypten zeuge vom politischen Willen, die regionalen diplomatischen Aktivitäten zu bündeln. In der Abschlusserklärung der Konferenz erteilten die teilnehmenden Staaten jeglicher auswärtigen militärischen eine Absage und bekannten sich dazu, die Einheit des libyschen Staates und seiner Institutionen zu bewahren. Schwieriger wird es, auch die vielen libyschen Kriegsparteien gemeinsam mit den regionalen Akteuren an einen Tisch zusammenzubringen.

 

Tunesiens Regierung hat kein Deradikalisierungs- oder Rehabilitierungsprogramm

 

Vor dem Hintergrund der Debatte um die Rückführung gefangener IS-Kämpfer hat sich Tunesiens Regierung bereit erklärt, ihre Staatsbürger und deren Familien wieder aufzunehmen, wie der Außenminister des Landes gegenüber Human Rights Watch versicherte. Keine einfache Entscheidung, schließlich lehnen viele Tunesier die Rücknahme der IS-Kämpfer vehement ab, während einige Politiker sogar fordern, den Dschihadisten die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Solch ein Schritt aber widerspricht der Verfassung.

 

Doch während Libyen fordert, dass Tunesien das Problem ausgereister IS-Kämpfer ganzheitlich angeht, scheint sich das Land derzeit vor allem auf die Rücknahme der Kinder zu fokussieren. Kritiker einer Rückführung befürchten, dass die Terroristen in Tunesien oder im Ausland erneut aktiv werden.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass Tunesiens Regierung noch kein Deradikalisierungs- oder Rehabilitierungsprogramm auf die Beine gestellt hat. Bislang sei lediglich geplant, sie unter Hausarrest zu stellen und zu überwachen, kritisiert etwa Nordafrika-Experte Sharan Grewal vom US-Thinktank Brookings die mangelnde Vorbereitung auf eine Rückkehr der tunesischen Dschihadisten. »Sie werden genauso marginalisiert und unterdrückt wie vorher, dabei hat das doch wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sie sich überhaupt radikalisiert haben«, glaubt Grewal. »Wir riskieren, dass ihre Verbundenheit zum IS sich verfestigt – und wir uns wieder mit Terrorismus im In- und Ausland herumschlagen müssen.«

Von: 
Alessandra Bajec

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