Zwei Tage lang war eine kleine Gruppe von Experten auf Einladung des European Council on Foreign Relations in Moskau zu Gast und traf dort zahlreiche Politikwissenschaftler, Historiker, Volkswirte, Soziologen, Journalisten, Auslandskorrespondenten und Diplomaten. Mit ihnen diskutierte die Gruppe die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine und Handlungsmöglichkeiten des Westens. Der folgende Text ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Hintergrundgespräche.

Für offizielle Hardliner in Russland darf die Ukraine nicht selbst über ihr Schicksal entscheiden. Die ukrainische Bevölkerung ist kein Faktor, den es zu berücksichtigen gilt. Die Ukraine ist kein lebensfähiger und souveräner Staat mehr. Mit dem Umsturz am 22. Februar – ein klarer Bruch der ukrainischen Verfassung – hat sie sich gegenüber Russland respektlos verhalten und damit ihr Recht auf Eigenständigkeit verwirkt.

Russland wird verhindern, dass die Präsidentschaftswahl im Osten und Süden des Landes stattfinden kann, auch weil durch die Annexion der Krim keine Chance mehr besteht, dass der Kandidat des Ostens als Sieger aus der Wahl hervorgeht. Russlands primäres Ziel ist die Wahrung seines Einflusses in der Ukraine, nicht der Erhalt von Stabilität. Eine Spaltung des Landes ist nicht im russischen Interesse, würde aber durchaus in Kauf genommen.

Die offiziellen Hardliner wünschen sich in der aktuellen Situation, dass Russland gemeinsam mit dem Westen die weitere Entwicklung in der Ukraine bestimmt. Vorstellbar wäre, dass Russland und der Westen sich auf eine Verfassung für die Ukraine einigen, analog zum Abkommen von Dayton von 1995. Dabei ist für Russland unter anderem entscheidend, dass Russisch wieder als Amtssprache eingeführt wird und dass die Ukraine eine föderale Struktur bekommt. Föderalismus steht dabei für die Einrichtung eines Zwei-Kammer-Systems nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland. Eine Föderalisierung hätte eine massive Schwächung der Zentralregierung zur Folge und die mögliche Stärkung oder Entwicklung von separatistischen Bewegungen in den verschiedenen Regionen. Vor diesem Hintergrund wäre eine mögliche Lösung, über die Russland mit dem Westen diskutieren könnte: "Unsere Verfassung, Euer Präsident".

Die EU ist für Russland berechenbar

Die Annexion der Krim steht für das Ende der Ära nach dem Kalten Krieg. Russland fühlte sich 1989 als Kriegsverlierer, seitdem schwach und vom Westen schlecht behandelt. Diese Schwäche tarnte Präsident Putin damit, gegenüber dem Westen als "schwieriger Partner" aufzutreten und wichtige Vorhaben des Westens zu boykottieren ("Spoiler-Funktion"). Mit der Annexion der Krim ist diese Phase vorbei. Präsident Putin hat erkannt, dass er damit für sein eigenes Land und für den Westen völlig unberechenbar geworden ist. Diese Unberechenbarkeit ist Russlands neue Stärke. Selbst im Kalten Krieg war die Sowjetunion sehr viel berechenbarer, als es Russland jetzt ist. Im Gegensatz dazu ist die EU für Russland durchaus berechenbar. Wenn Putin die Krim nicht annektiert hätte – so offizielle Vertreter – hätte er bewiesen, dass er weder Herz noch Verstand hat.

Die Annexion der Krim hat auch in Russland alle überrascht. Für die Annexion gab es militärische, aber keine politischen Planungen. Die Planungen für die militärische Operation stammen wahrscheinlich von 2008 und wurden für den Fall eines Nato-Beitritts der Ukraine konzipiert. Die Tatsache, dass Präsident Putin tatsächlich so weit ging, die Krim zu annektieren, hat auch in Russland ein starkes Gefühl der Unsicherheit und Unberechenbarkeit erzeugt. Niemand kann sagen, wie weit Putin noch geht und zu welchen Schritten er noch bereit ist. Es gibt praktisch keine roten Linien für sein Verhalten.