Sebastian Dullien ist Professor für International Economics an der HTW Berlin und Senior Policy Fellow am European Council on Foreign Relations.

Wahlsieger Alexis Tsipras tourt durch Europa, am Dienstag Italien, am Mittwoch Brüssel. Er beginnt, in Europas Hauptstädten neue Koalitionen gegen den deutschen Sparkurs zu schmieden. Aber die Empörung ist, trotz versöhnlicherer Töne, groß: Wäre nicht etwas mehr Dankbarkeit für fünf Jahre Hilfspakete angesagt?

Doch egal, wie weit verbreitet diese Aufregung über die neue Linksregierung in Athen ist: Bei nüchterner Betrachtung deutet einiges darauf hin, dass Tsipras nicht ganz unrecht hat. Rückwirkend sieht es so aus, als hätte Europa Griechenland geopfert, um den Euro zu retten. Jetzt muss über eine gerechtere Verteilung der Kosten gesprochen werden.

Gehen wir einmal zurück in das Jahr 2010: Damals kam ans Licht, dass die griechischen Staatsdefizite deutlich größer waren als zunächst angenommen. Eine Kombination aus versteckten Staatsverbindlichkeiten, Steuerausfällen wegen der globalen Finanzkrise und Ausgabenerhöhungen der vorhergegangenen Regierung ergab ein Haushaltsdefizit von gigantischen 15,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Der EU-Stabilitätspakt sieht maximal drei Prozent vor.

Da der Schuldenstand bereits extrem hoch war, bekamen Anleger kalte Füße. Die Zinsen schossen in die Höhe. Griechenland war vom Kapitalmarkt abgeschnitten. Die Regierung in Athen wandte sich an die europäischen Partner und den Internationalen Währungsfonds.

Normalerweise hätte in einer solchen Situation erst einmal analysiert werden müssen, ob es plausibel ist, dass Griechenland seine Schulden mittel- und langfristig bedienen kann. Wäre diese Frage mit Nein beantwortet worden, dann hätte es zunächst einen Schuldenschnitt geben müssen. Griechenlands Gläubiger, die leichtsinnig ihr Geld an die Ägäis geschickt haben, hätten dafür zahlen müssen.

Dieses Vorgehen ist keine theoretische Überlegung aus dem Lehrbuch. Vielmehr hatte der Internationale Währungsfonds nach den Debakeln mit den Strukturanpassungsprogrammen in Asien und Argentinien Anfang der 2000er Jahre sich selbst diese Leitlinien gegeben. Die Logik ist einfach: Ein Land mit untragbaren Schulden wird in der Krise gefangen bleiben, weil niemand investieren mag.

Einen Schuldenschnitt in Griechenland aber wagte im Jahr 2010 niemand. Nicht die Regierung in Athen und vor allem nicht die anderen EU-Regierungen. Deutsche und französische Banken hielten damals einen beträchtlichen Teil der griechischen Staatsschulden. Ein Staatsbankrott Griechenlands hätte dort einige der – nach der Finanzkrise ohnehin geschwächten – größeren Banken in die Pleite getrieben. Dem Kontinent drohte eine neue Bankenkrise.

Die Angst vor Ansteckung

Vor allem aber fürchteten die Wirtschafts- und Geldpolitiker die Ansteckungsgefahren auf andere Eurostaaten. Ein Staatsbankrott Griechenlands hätte sofort Spekulationen über Zahlungsprobleme in Portugal, Spanien und Italien geschürt und dort zu massiver Kapitalflucht geführt. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Institutionen, die dieses Risiko eindämmen: keinen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), keine Bankenunion und auch die Europäische Zentralbank war damals nicht bereit, in großem Stil Staatsanleihen zu kaufen. Der Zusammenbruch des Euro wäre ein Super-GAU nicht nur für die europäische, sondern auch für die globale Wirtschaft gewesen.

Schon damals war es völlig klar, dass ein Hilfspaket nicht Griechenlands Schuldenproblem lösen könnte. Unter normalen Annahmen zur Wirkung von Sparprogrammen war absehbar, dass Griechenland eine brutale Rezession erleben würde, die Steuereinnahmen weiter einbrechen und die Ausgaben für Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen würde. Interne Dokumente des IWF belegen, dass der Fonds damals selber große Zweifel an einer Rückkehr zu einem Pfad tragfähiger Schulden hatte. 

Das Hilfspaket wurde trotzdem geschnürt. Damit der Internationale Währungsfonds teilnehmen konnte, wurden dessen Leitlinien geändert. Plötzlich konnten große Kredite auch vergeben werden, wenn "Ansteckungsgefahren" auf andere Länder diagnostiziert wurden. Und damit die Geldsummen nicht allzu gigantisch aussehen würden, und zumindest auf dem Papier mit dem Programm eine Schuldentragfähigkeit erreicht wurde, schrieb die neu geschaffene Troika heftige Kürzungen im Staatshaushalt vor. EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF legten völlig unrealistische Annahmen zur griechischen Wirtschaftserholung zugrunde. Nach außen vertraten EU-Kommission und einige der Staats- und Regierungschefs die These von der "wachstumsfördernden Konsolidierung". Eine brutalstmögliche Sparpolitik in Griechenland solle schnell zu einer Wirtschaftserholung führen.