Was will China? Diese Frage versucht eine Studie des European Council on Foreign AffairsChina 3.0 – zu beantworten. Die Autoren unterscheiden drei 30-Jahre-Phasen in der jüngsten chinesischen Geschichte: China 1.0 in der Zeit Mao Zedongs von 1949 bis 1976, China 2.0 nach der Machtübernahme des Reformers Deng Xiaoping 1978; und China 3.0 nach dem Amtsantritt von Xi Jinping im Jahre 2013.

Eine andere Nuller-Kategorisierung nimmt gleichzeitig das Berliner Mercator Institute for China Studies (Merics) vor, Deutschlands führendes Chinaforschungsinstitut. Es spricht davon, dass China mit Macht in das Industriezeitalter 4.0 vorstoßen will. Nach dem Dampfmaschinenzeitalter (1.0), der Zeit der Elektro- und Benzinmotoren (2.0) und der Industrieroboter (3.0), drängt es nun zielbewusst weiter: ins digitale Zeitalter der Produktion.

Die Wirtschaftsentwicklung im Reich der Mitte ist unter "Abwärtsdruck" geraten, räumte Premier Li Kequiang vor dem gegenwärtig tagenden Volkskongress ein. Als Billiglohnland hat es seine Rolle allmählich ausgespielt, die Massenproduktion wandert zusehends nach Südostasien ab. Vor allem die Großkonzerne müssen einen Sprung machen – von der Nachahmung zur Innovation; vom bloßen Kopieren wie im Software-Sektor zur eigenständigen Entwicklung; von der herkömmlichen Produktionsweise zum zukunftsträchtigen 3-D-Drucken. Um in diese 4.0-Zone vorzustoßen, brauchen die Chinesen freilich internationale Modernisierungspartner. Deutschland, das in puncto Industrie-Software eine führende Rolle spielt, sehen sie dabei als Vorzugspartner.

China 3.0, das China Xi Jinpings, strotzt vor Selbstbewusstsein. In den Augen vieler Beobachter rückt es auf doppelte Weise ab von den Lehren Deng Xiaopings. Nicht länger handelt es nach Dengs Ratschlag, außenpolitisch ein "flaches Profil" zu bewahren, um die Dinge voranzubringen; vielmehr verfolgt es im Südchinesischen Meer gegenüber Vietnam, Malaysia und den Philippinen wie im Ostchinesischen Meer gegenüber Japan eine auftrumpfende Großmachtpolitik. Aus einem Status-quo-Land ist ein revisionistisches Land geworden, das auch die pazifische Vormacht der zurückliegenden 75 Jahre, die Vereinigten Staaten, massiv herausfordert. Jahr für Jahr steigt das Verteidigungsbudget um mehr als 10 Prozent. Gleichzeitig schottet sich Peking ideologisch nach außen immer stärker ab. Schriften, die westliche Werte vertreten, dürfen nicht mehr verbreitet werden; die Arbeit der ausländischen Presse wird im gleichen Maß erschwert, in dem die Zensur im Inneren, vor allem die Internet-Zensur, verschärft wird. Von einer "Schubumkehr in China", einer Abkehr von Deng Xiaopings Politik der Öffnung nach außen und Liberalisierung nach innen spricht Sebastian Heilmann, der Direktor des Merics-Instituts.

Zugleich jedoch verstärkt sich der Druck auf die ausländischen Unternehmen, die so viel zu der rasanten Entwicklung Chinas beigetragen haben. So werden sie mit kartellrechtlichen Verfahren überzogen; der Staat subventioniert ihre Konkurrenten bei deren internationaler Expansion; und besonders im IT-Sektor werden ausländische Großunternehmen zusehends diskriminiert und verdrängt. Bis 2019 müssen Banken zu 75 Prozent chinesische IT-Produkte verwenden. Von den Zulassungslisten für IT-Beschaffungen der öffentlichen Hand sind viele westliche Firmen gestrichen worden; bei Neuanschaffungen sollen künftig nur noch chinesische Hersteller berücksichtigt werden. Heute fühlen sich mehr als 80 Prozent der deutschen Unternehmen in ihrer Geschäftstätigkeit durch die vergangenes Jahr neu geordnete Internetregulierung behindert; zuvor waren es nur 30 Prozent. Von den für 2015 geplanten Investitionen sind daher 13 Prozent aufgeschoben worden. Dazu Heilmann: "In den Branchen, in denen ausländische Expertise, Technologie und Investitionen nicht mehr benötigt werden, weil chinesische Unternehmen bereits konkurrenzfähig sind, haben ausländische Unternehmen es zunehmend schwer."

Der chinesische Volkskongress wird sich noch bis 15. März mit Xi Jinpings Konzept der neuen nationalen Stärke beschäftigen. Am Tag darauf wird in Hannover die Cebit eröffnet, bei der in diesem Jahr China Gast- und Partnerland ist. Der stellvertretende Ministerpräsident Ma Kai wird dabei um deutsche Technologie für die industrielle Aufholjagd seines Landes werben. Der Aufbau der internetgestützten Industrieproduktion – eben Industrie 4.0 – soll vor allem mit unserer Hilfe bewerkstelligt werden.

Manche Unternehmer mögen freudig glänzende Augen bekommen, wenn sie an den riesigen neuen Absatzmarkt denken, der sich damit öffnet. Viele jedoch beschleicht die Sorge, dass wir damit nur die Konkurrenz heranzüchten, die uns in zehn Jahren aus dem Markt werfen wird.

Es ist schon einigermaßen kühn, dass die Chinesen in Hannover auf die 4.0-Werbetour gehen wollen – ausgerechnet in einem Augenblick, in dem sie ausländische Unternehmen immer stärker unter Druck setzen. Andererseits gibt uns unser technologischer Vorsprung jedoch auch einen Hebel in die Hand: Die gewünschte Zusammenarbeit kann es nur geben, wenn die schikanösen protektionistischen Maßnahmen zurückgenommen werden und Pekings Cyber-Security-Politik nicht den Schutz geistiger Eigentumsrechte aufhebt oder den gesicherten Marktzugang verbaut.

Chinas Territorialansprüche im Pazifik berühren uns nur mittelbar. Aus der Handelspolitik der Chinesen erwächst uns jedoch eine direkte Gefahr. Wir dürfen ihnen jedenfalls nicht den Strick liefern, an dem sie uns am Ende aufhängen. Die Bundesregierung muss sich dringend darum kümmern.