Erstens: Lügen, verdammte Lügen … und Demokratie?

Es waren grauenhafte Wochen, verlogen und bösartig. Beide Seiten waren unaufrichtig und versuchten, den Menschen in Großbritannien Angst zu machen. Der Respekt vor den Wählern ging vollkommen verloren. Den wahrhaftigen Umgang mit Fakten schüttelten die Wahlkämpfer ab wie einen lästigen Mantel – vor allem das Brexit-Lager log unverfroren, wenn es nur der Sache diente. Die britische Regierung überweist weder 350 Millionen Pfund pro Woche nach Brüssel, noch steht ein EU-Beitritt der Türkei unmittelbar bevor. Trotzdem ging die Brexit-Kampagne mit diesen Behauptungen hausieren, schrieb die falsche Zahl groß auf ihren roten Tourbus und fuhr damit ungerührt durch das Land.

Der Tiefpunkt war erreicht, als der britische Justizminister Michael Gove – Kopf der Brexit-Kampagne und früherer Bildungsminister – in einem Fernsehinterview erwiderte, das Publikum habe genug von Experten, als ihn der Moderator nach den einhelligen Warnungen vor einem Austritt fragte. Ein Satz auf Donald-Trump-Niveau. Ein Satz aus der Schule des populistischen Demagogen, der an Instinkte appelliert und den kritischen Intellekt verbannt. Ihr, liebes Publikum, seid dumm, hieß das. Zerbrecht euch nicht die Köpfe darüber, was Experten sagen.

Doch das Publikum war nicht dumm. Die britischen Wähler haben sich zur Wehr gesetzt. Je länger die vergiftete Kampagne der offiziellen Lager dauerte, desto lauter wurden die Stimmen der Wähler, die sagten: Wir wollen Informationen und Fakten, keine Propaganda. Nein, dieses Referendum war nicht das Festival der Demokratie, das Thatcher-Biograf Charles Moore im Spectator beschwor. Aber über die Wochen entstand im ganzen Land ein Gespräch darüber, was Europa für Großbritannien bedeutet, was die EU für eine Institution ist und was Demokratie ausmacht. Am Ende war die Wahlbeteiligung höher als bei den letzten Parlamentswahlen vor einem Jahr – wenn auch nicht ganz so hoch wie zu Beginn der Wahlnacht angenommen. Man kann das Ergebnis mögen oder nicht. Nicht leugnen lässt sich, dass die Mehrheit des britischen Volkes so entschieden hat. Die Menschen haben sich nicht verweigert, sondern beteiligt.

Eine bohrende Frage jedoch bleibt: Haben sie sich auf der Grundlage von Lügen entschieden?

Zweitens: Die Privatschul-Oxbridge-Elite schadet dem Land

Der Grund für das Referendum war weder die EU noch das britische Volk, sondern die Zerstrittenheit der Konservativen Partei und die Unfähigkeit ihres Parteichefs, den Streit zu schlichten. David Cameron hat die Spaltung, die die Tories auseinandertrieb und mit der er nicht fertigwurde, ins ganze Land getragen. Nicholas Soames, ein Tory-Abgeordneter und der Enkel Winston Churchills, brachte es in einem Interview deutlich auf den Punkt: Wenn Sie einem knurrenden Schäferhund gegenüberstehen, erklärte Soames, haben Sie zwei Möglichkeiten. Entweder Sie streicheln ihm über den Kopf, dann wird er Sie beißen. Oder Sie treten ihm in die Eier. Cameron hat sich fürs Streicheln entschieden und wurde wieder und wieder gebissen. Am Ende erwischten die scharfen Zähne nicht nur ihn, sondern das ganze Land.

Wie konnte es dazu kommen? Großbritannien wird regiert von Männern, die in wenigen elitären Schulen und sämtlich an den Universitäten Oxford und Cambridge ausgebildet worden sind. Sie teilen ein Weltbild, haben dieselben Maßstäbe und Rezepte für Erfolg. David Cameron ist mit den Regeln des Oxforder Debattierclubs groß geworden, nach denen es nicht darauf ankommt, selbst Überzeugungen zu haben, sondern darauf, andere zu überzeugen. So hat Cameron das Thema EU behandelt. Jahrelang sprach er als Euroskeptiker. Als er das Referendum ankündigte, versicherte er, Großbritannien könne auch außerhalb der EU überleben. Als Wahlkämpfer für den Verbleib in der EU warnte er dann vor dem Schlimmsten für den Fall, dass die Briten es wagen würden, sich gegen die EU zu entscheiden.

Boris Johnson, der prominenteste Fürsprecher des Brexits, hat dieselbe Schule und dieselbe Universität besucht und spielt das gleiche Spiel. Der Streit um ein Thema, das das Leben der Briten auf Jahrzehnte verändern wird, war ein frivoler Wettstreit zweier blendender Rhetoriker.

Drittens: Gespalten, zerrissen, Europa

Großbritannien war bereits vor dem Referendum gespalten. London hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Raumschiff entwickelt, eine Sphäre, die isoliert ist vom Rest des Landes. Und selbst innerhalb Londons gibt es krasse Unterschiede zwischen Arm und Reich. Zwischen den Luxusapartments und -villen oft ausländischer Multimilliardäre im Westen der Stadt und den slumartigen Sozialbausiedlungen im Osten.

Der materielle Graben korrespondiert mit einem Bildungsgraben. Sieben Prozent aller Schüler besuchen eine Privatschule. In den hochbezahlten Jobs in der Londoner City, in den Spitzenmedien (von BBC bis Guardian) und mittlerweile auch in der Regierung sind die Absolventen von Privatschulen oft in der Mehrheit vertreten. Privatschüler in England erkennt man an ihren Bewegungen, ihrem Akzent und ihrem Benehmen. Privatschüler beherrschen meist ein elegantes Englisch, Absolventen von staatlichen Gesamtschulen oft nicht einmal die Grammatik. Das liegt nicht daran, dass die Absolventen staatlicher Schulen dümmer wären, sondern daran, dass sie unterprivilegiert sind. Das Land ist in zwei Klassen gespalten, die sich fremd sind. Sowohl Labour- als auch Tory-Regierungen haben versucht, die Klassenvorherrschaft der Privatschulen zu brechen, bisher ohne Erfolg.

Jetzt hat das Europathema den bereits bestehenden Graben, der sich durch das Land zieht, deutlich sichtbar gemacht: Zwischen Norden und Süden, Land und Stadt, Arm und Reich, privilegiert und benachteiligt. Der reiche, privilegierte städtische Süden Englands stimmte für Europa, der arme, benachteiligte ländliche Norden Englands dagegen.

In den privilegierten Zirkeln der britischen Regierung und der politischen Hauptstadtpresse wird immer noch vor allem darüber diskutiert, wie sehr dieses Referendum die Parteien zerrissen hat, vor allem Labour und Tories. Für die Zukunft der Briten ist das zweitrangig. Was schmerzt, ist der Riss durch das gesamte Land. Politiker, die mit den Grabenkämpfen in ihren eigenen Reihen beschäftigt sind, werden sich schwertun, die Zerrissenheit des Landes zu heilen.

Viertens: Das Land ist kleinmütig geworden

Nigel Farage hat sich durchgesetzt. Der Ukip-Vorsitzende, der sieben Mal nicht ins britische Parlament gewählt worden ist, behielt die Oberhand mit seiner Polemik gegen die ungewählten Bürokraten von Brüssel. Der ungewählte Demagoge Farage hat sich durchsetzen können, weil die untereinander verzankten Tories aus Angst vor der populistischen Rhetorik Farages seine Themen aufgriffen und zu den ihren machten: Immigration und die EU.

Großbritannien ist bislang eines der weltoffensten Länder Europas. In keinem anderen europäischen Land sind Einwanderer aus der ganzen Welt so sehr in allen Schichten der Gesellschaft erfolgreich wie im Vereinigten Königreich. Aber diese Weltoffenheit war eine Folge des wirtschaftlichen Erfolgs. Seit der Finanzkrise ist Großbritannien kleinmütiger geworden. Seit einigen Jahren ist das Land von Melancholie erfasst: Es hat seine Richtung verloren.

Farages Nationalismus verspricht vielen einen Ausweg. Englische Bekannte erzählen, dass ihre älteren Verwandten in den zurückliegenden Wochen auf einmal von Austrittseuphorie erfasst wurden. Sonst behäbige Onkel legten sich einen jugendlich-euphorischen Gang zu. Der Schlachtruf der Brexit-Kampagne, "Kontrolle ergreifen!", der jeglicher politischen Realität entbehrt, erwies sich als Aufputschmittel für die Seele einer verzagten Nation. Ironischerweise ist damit der Kleinmut zum Heilmittel des Kleinmuts erklärt worden.

Fünftens: Europa muss die Briten endlich ernst nehmen

Wir haben uns auf dem Kontinent angewöhnt, Großbritannien und die Briten als die drolligen Außenseiter Europas zu sehen, die sowieso nie begreifen werden, worum es uns mit der EU geht. Das ist bequem und, wie sich jetzt zeigt, gefährlich. Gerade weil Briten der EU distanzierter gegenüberstehen als die meisten – nicht alle! – anderen EU-Mitglieder, haben sie zuweilen einen schärferen Blick auf die Probleme und Widersprüche der EU. In britischen Thinktanks wie dem Centre for European Reform oder dem European Council on Foreign Relations werden einige der interessantesten Ideen zur Zukunft Europas entwickelt. Es wird Zeit, dass wir auf die klugen, wirklich europa- und weltoffenen Briten hören und auf ihre Vorschläge zur Reform unserer europäischen Gemeinschaft. Nur so können wir den kleingeistigen Nationalismus überwinden, der sich gestern in Großbritannien durchgesetzt hat. Und der sich in ganz Europa breitmacht.