Wenn Angela Merkel jeden Zeitungsartikel der letzten Monate, in dem sie politisch für tot erklärt wurde, ausgeschnitten hätte, könnte sie damit vermutlich ihr gesamtes Arbeitszimmer im Kanzleramt tapezieren. Nimmt man die Artikel über die Talkshows, die ihr politisches Ende debattieren, hinzu, reicht es vermutlich auch noch für die Gästetoilette und Teile des Flurs. Das Schicksal der Kanzlerin, so viel ist klar, wird gerne und ausgiebig diskutiert – in Abwesenheit der Angesprochenen.
Auch in der neuesten Ausgabe von Maybrit Illner sollte es um die Bundeskanzlerin gehen. Ist Merkel noch tragbar, oder hat sie ihren Zenit längst überschritten? Was muss sie anders machen, was wird sie anders machen, wird sie überhaupt etwas machen?
Fragen über Fragen, auf die eigentlich niemand eine Antwort weiß. Stattdessen wird munter spekuliert und gemutmaßt, und wenn man gar nicht mehr weiter weiß, weicht man auf Themen aus, die sich ebenfalls zum Austausch von Meinungen eignen, bei denen es jedoch weniger auffällt, dass man eigentlich auf einer Glatze Locken dreht.
„Sie hat eine humanitäre Katastrophe verhindert“
Doch erst einmal geht es tatsächlich um „die Frau Merkel“, ein Begriff, der eigentlich auch schon zum geflügelten Wort der Polittalkshows mutiert ist. Sina Trinkwalder zumindest, Unternehmerin aus Bayern, ist von der Kanzlerin überzeugt, auch wenn sie sonst nicht hinter ihr stehe. „Sie hat etwas Großartiges geleistet, sie hat eine humanitäre Katastrophe verhindert“, empört sie sich.
Dass eine Entscheidung wie jene, die Flüchtlinge nach Deutschland einzuladen, Konsequenzen habe, sei normal, sie jetzt dafür zu übermäßig zu kritisieren scheinheilig. „Wäre es von Anfang an gut gegangen, hätte jeder gesagt: Ich war dabei.“ Sie trifft damit einen wunden Punkt, klingt doch das Mantra in Bezug auf die Kanzlerin im Moment eher nach „Wir haben es immer gesagt“.
Thomas Oppermann (SPD) sieht das ähnlich: „Ich bin nicht so pessimistisch wie einige hier am Tisch, dass eine europäische Lösung nicht herbeigeführt werden kann.“ Frau Merkel müsse jetzt kämpfen, er sei aber optimistisch, dass sich ihre Anstrengungen als erfolgreich zeigen werden. Gabor Steingart, Herausgeber des „Handelsblatts“, ist da skeptisch. „Aus der Nichtnormalität der Anfangssituation eine Normalität zu machen war ein Fehler“, sagte er in Hinblick auf Merkels Willkommensgeste.
Zweifel am Nutzen der EU-Gipfel
Schützenhilfe gibt es für solche Aussagen natürlich von niemand Geringerem als Markus Söder. Um Merkel geht es an diesem Punkt der Sendung schon längst nicht mehr, höchstenfalls indirekt. Dafür kommen einmal wieder alt-neue Themen auf den Tisch. Zum Beispiel die Unfähigkeit der EU in der Flüchtlingskrise.
Die ständigen Tagungen brächten nichts, die Bürger seien verunsichert. Es sei, so Söder, das gute Recht der Nationalstaaten, selbstständig zu handeln. Oppermann will das so nicht hinnehmen: Die Pläne der EU würden gerade deshalb nicht durchgeführt, weil die Nationalstaaten zu selbstständig handeln dürften und nicht mitmachen wollten. Ein argumentatives Patt.
In die entstandene Lücke stößt Trinkwalder mit einem Frontalangriff auf Söder und seine Partei. „Die CSU hat sich zur Aufgabe gemacht, die Leute zu verängstigen“, beschwert sie sich und legt dann noch eine Schippe drauf: „Herr Söder, sie biedern sich als Entwicklungshilfeminister für die AfD an.“
Humanität kennt keine Obergrenze
Söder hat wenig zu entgegnen. Das ganze Land sei verunsichert. „Die AfD ist das Fieberthermometer der Demokratie.“ Man müsse handeln, zum Beispiel mit Grenzsicherungen, sonst gewännen die Radikalen – eine Aussage, die tiefer blicken lässt, als Söder vielleicht ahnt. Anders gesagt könnte sie auch heißen: „Wenn wir nicht handeln, laufen uns die Wähler weg.“
Steingart vertritt einen ähnlichen Standpunkt: „Man kann ein Land überfordern“, so der Journalist. Eine aus seiner Sicht notwendige Abstimmung über die Zusammensetzung und Homogenität des Landes habe es nie gegeben.
Trinkwalder schießt direkt zurück: „Humanität kennt keine Obergrenze. Das ist einfach Fakt.“ Integration und Inklusion, das wisse sie aus eigener Erfahrung, sei kein einfacher Job und sei mit Problemen verbunden. Doch es könne nicht sein, dass man beständig über die Risiken, aber nie über die Chancen rede. „Wenn jedes Mal einer jammert, kein Wunder, dass es nicht funktioniert“, so die Unternehmerin. Es ist das stärkste und menschlichste Plädoyer an diesem Abend.
Lösungen nur auf europäischer Ebene möglich
Auch Oppermann sieht Flüchtlinge als eine Chance für das Land. „Wir sind ein Land, dem in der demografischen Entwicklung jährlich 300.000 Kinder fehlen. Die Flüchtlingskinder werden ihren Weg machen, und die wollen ihren Weg machen.“ Doch als er dann auch ein Einwanderungsgesetz fordert, kann sich Söder den Zwischenruf „Noch mehr?“ nicht verkneifen. Doch Oppermann kontert erneut zum Ausgleich: „Herr Söder, ihre Handwerksmeister in Bayern finden doch jetzt schon keine Auszubildenden mehr.“ Es ist eines von vielen Patts in der Sendung.
In dieser Form geht es weiter, das Thema „Merkels Schicksal“ ist jedoch nicht in Sicht. Stattdessen: kulturelle Überfremdung, außenpolitische Positionen (Steingart: „Ordnung statt Export von Freiheit und Demokratie“), und dann wieder Europa. Da sind sich immerhin mal alle einig. Die Politikwissenschaftlerin Almut Möller legt überzeugend dar, warum es Lösungen nur auf europäischer Ebene geben kann, und Oppermann spricht aus, was viele nicht hören wollen: „Niemand würde mehr ein Stück Brot von uns nehmen, wenn Europa versagt.“
Zwischendurch darf auch noch der stellvertretende Neuköllner Bürgermeister Falko Liecke (CDU) berichten, wie die Lage in den Kommunen aussieht. Er beklagt, dass man an den Grenzen der Belastung angelangt sei. Das Gefühl, dass es einen Plan gäbe, habe er nicht. Zu viel Bürokratie behindere konkrete Hilfe.
CSU will Klage weiter „ernsthaft prüfen“
Immerhin, ganz zum Schluss kommt es dann doch noch kurz zur versprochenen Diskussion, die Kanzlerin braucht schließlich noch Material zum Tapezieren. Steingart konstatiert, dass die Asylgesetze Teil einer sanften Wende in der Flüchtlingspolitik seien. „Frau Merkel hat sich verrannt.“ Je dichter man an das Datum der Landtagswahlen komme, desto mehr werde man diese Kehrtwende sehen, „die natürlich nicht nach Kehrtwende aussehen darf“.
Und auch Illner fährt zum Schluss noch einmal schweres Geschütz auf: Was würde mit einer anderen Besetzung an der Spitze der Regierung anders laufen, will sie von Söder ganz direkt wissen.
Doch der weicht aus, was wiederum Oppermann zum Nachhaken veranlasst: „Wollen Sie die eigene Kanzlerin verklagen? Ist das Ihr Ernst?“, fragt er ungläubig, woraufhin der bayerische Finanzminister nur schmallippig entgegnet, dass man die Klage sehr ernsthaft prüfen lasse.
Wie lange Merkel dem Druck noch standhält? Trinkwalder jedenfalls ist sich sicher: „Sie muss standhalten. Manchmal muss man mit unprominenten Dingen vorangehen.“