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Demonstranten protestieren 2017 gegen die umstrittene Justizreform.

© Krzysztof Kaniewski/ dpa

EU-Konjunkturpaket und Rechtstaatlichkeit: Ungarn und Polen sollten sich nicht zu früh freuen

Die EU hat die Einführung eines Mechanismus zur Rechtstaatlichkeit beschlossen. Und auch für die Umsetzung sind die Pflöcke eingeschlagen. Ein Gastbeitrag.

Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations. Übersetzung: Marlene Riedel

Mehrdeutige Formulierungen sind das täglich Brot der EU-Politik. Während sie oft helfen, den ein oder anderen Zwist zu überdecken, sind sie gelegentlich aber auch Zeichen politischer Weitsicht. Die Beschlüsse des letzten EU-Gipfels zur Rechtsstaatlichkeit können ein Beispiel für Letzteres sein.

Das Finanzpaket, das von den EU-Staats- und Regierungschefs vergangene Woche beschlossen wurde, wird zu Recht als historisch bezeichnet. Es ebnet den Weg für mehr Solidarität unter den Europäern, die von schweren wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie betroffen sind. Die finanzielle Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten ist aber auch eine Chance, die zweite grundlegende Krise der EU zu bewältigen: den Niedergang von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – vor allem in Ungarn und Polen.

EU-Mittel haben schon immer dem Zweck des Zusammenwachsens Europas gedient, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Finanzielle Unterstützung für Regierungen, die gegen die Grundprinzipien der EU verstoßen, ist jedoch nichts anderes als selbstzerstörerisch. Deshalb ist es notwendig, die Verteilung der Fördermittel von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen – und somit zu einem Schlüsselinstrument, welches die Fundamente der Union als solche schützt.

Der Entwurf von 2019 gibt die Linien vor

Der von der Europäischen Kommission bereits 2018 vorgelegte Vorschlag sieht vor, dass die Finanzmittel für Länder, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen, auf Initiative der Kommission gekürzt werden können. Es sei denn, eine qualifizierte Mehrheit (15Länder und 65 Prozent der EU-Bevölkerung) blockiert eine solche Entscheidung.

Vor diesem Hintergrund mögen die auf dem fast längsten EU-Gipfel aller Zeiten gefassten Beschlüsse enttäuschend erscheinen.

Denn es wurde kein spezifischer Mechanismus entwickelt, wie die EU-Mittel an die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit gebunden werden. Die Frage wurde an den Europäischen Rat überwiesen, der für die Kommission einen Vorschlag ausarbeiten soll. Die Staats- und Regierungschefs der EU werden laut Gipfeldokument „rasch auf die Angelegenheit zurückkommen“ – was einen neuen, langwierigen politischen Kampf verheißen könnte.

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Tatsächlich haben der ungarische Premierminister Viktor Orbán und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki sich bereits zu Siegern erklärt und behauptet, dass es keine direkte Verbindung zwischen dem Haushalt und der Rechtsstaatlichkeit geben werde. Ihre Freude traf auf den Frust der Befürworter eines robusten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, die mit ansehen mussten, wie die EU – wieder einmal – das Problem auf die lange Bank schob, anstatt endlich mutige Schritte zu tun.

Auch Polen und Ungarn haben die Einführung abgesegnet

Es könnte aber sein, dass Autokraten und Schwarzmaler ihre Schlüsse vorschnell ziehen.

Die Entscheidung, die Haushaltsdebatte nicht mit Details eines stark spaltenden Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zu überfrachten, mag letztendlich klug gewesen sein. Da für die Verabschiedung des 1,8 Billionen-Pakets Einstimmigkeit erforderlich war, hätte ein polnisches oder ungarisches Veto das gesamte Mamut-Unterfangen gefährden können. Stattdessen enthält die Vereinbarung eine allgemeine, aber verbindliche Verpflichtung, die von allen Unterzeichnern – einschließlich Orbán und Morawiecki – eingegangen wurde, zur Einführung einer Regelung rechtsstaatlicher Konditionalität.

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Diese soll sowohl die finanziellen Interessen der EU (Verhinderung von Betrug mit EU-Geldern) als auch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit schützen – beides wird in den Beschlüssen des EU-Gipfels ausdrücklich erwähnt. Während der Rest der Ausführungen zur Rechtsstaatlichkeit uneindeutig sein mag, ist es diese grundlegende Bestimmung nicht. Der Gipfel bietet somit eine solide rechtliche und politische Grundlage für die Umsetzung eines Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der seinen Namen wirklich verdient. Das Spiel ist also noch lange nicht vorbei.

Ob diese Chance genutzt wird, hängt jedoch von der Entschlossenheit der Hauptakteure ab – vor allem von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, dem Europäischen Parlament und der Kommission. Sie alle müssen ihren Aufgaben gerecht werden.

Das Prinzip der Einstimmigkeit wurde aufgegeben

Deutschlands Rolle ist hierfür entscheidend. Es liegt an Berlin, dieses Thema auf die Tagesordnung des EU-Rates zu setzen und sicherzustellen, dass im Herbst, vor Beginn des neuen mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027, eine Entscheidung getroffen wird. Angela Merkel sollte eng mit anderen gleichgesinnten Staats- und Regierungschefs zusammenarbeiten, um die Beschlüsse des Gipfels zu unterstützen und Behauptungen zurückzudrängen, dass für die Annahme des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus immer noch Einstimmigkeit erforderlich ist.

Die Vereinbarung besagt, dass „die Kommission im Falle von Verstößen, Maßnahmen zur Annahme durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit vorschlagen wird“. Merkel hat dies zu Recht in ihrer Presseerklärung kurz nach dem Gipfel bekräftigt, und diese Position sollte unverhandelbar bleiben.

Eine Einigung zu vermitteln wird in jedem Fall schwierig sein, aber die deutsche Präsidentschaft kann nicht zulassen, dass die Autokraten die Umsetzung der Gipfelbeschlüsse blockieren.

Der Europäische Gerichtshof sollte gestärkt werden

Für die endgültige Verabschiedung des EU-Haushalts ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich. Dieses hat sich bereits kritisch zu einigen wichtigen Bestimmungen in der neuen Vereinbarung geäußert, unter anderem zur Frage der Rechtsstaatlichkeit. Es sollte dem Paket nicht zustimmen, bevor ein Rechtsstaatlichkeitsmechanismus vom EU-Rat besiegelt ist.

Und schließlich muss die Kommission ihren Vorschlag noch ändern. Vor allem sollte sie den Europäischen Gerichtshof als das transparenteste und legitimste Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU stärken. Regierungen, die den Urteilen des Gerichtshofs in Bezug auf Artikel 19 des EU-Vertrages nicht nachkommen – welcher die Mitgliedsstaaten zur Wahrung einer unabhängigen Justiz verpflichtet –, sollte die EU-Finanzierung verweigert werden.

Die Uneindeutigkeit der Beschlüsse des EU-Gipfels zur Rechtsstaatlichkeit bedeutet keine Niederlage der Idee, dass diese effizient zu schützen sind. Die Beschlüsse bieten vielmehr die Gelegenheit, einen solchen Mechanismus einzuführen. Das Konjunkturpaket ein ein historischer Deal - es wäre ein Fehler historischen Ausmaßes, wenn diese Chance zur Einführung eines Rechtsstaatsmechanismus vertan würde.

Piotr Buras

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