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Ein Mann läuft in der syrischen Stadt Binnish an einem Graffiti vorbei.

© REUTERS

Wandel in Syrien?: Warum Europa nicht der US-Strategie folgen sollte

In Syrien ist ein politischer Übergang nicht in Sicht. Deswegen muss die Widerstandsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure gestärkt werden. Ein Gastbeitrag.

Julien Barnes-Dacey ist Direktor des Nahost-Nordafrika-Programms der DenkfabrikEuropean Council on Foreign Relations.

Syrische Familien essen immer weniger - wenn sie überhaupt etwas auftischen können. Verzweifelte Eltern nehmen ihre Kinder frühzeitig aus der Schule, damit auch sie zum Broterwerb beitragen können.

Der syrische Staat wird weiter ausgehöhlt, und die Regierung, die die eigene Bevölkerung im Visier hat, chemische Waffen einsetzt und medizinische Infrastruktur zerstört, hält weiterhin Tausende von Gefangenen fest.

Und nun droht das Coronavirus, das Land weiter an den Rand des Abgrunds zu bringen. Der Gesundheitssektor, der weniger als vier Prozent des Staatshaushalts 2020 ausmacht, ist auf diese Krise völlig unvorbereitet.

Einer Studie zufolge hat Syrien Kapazitäten für die Behandlung von 6.500 Fällen. Doch in einigen Provinzen gibt es überhaupt keine Intensivbetten.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog.  Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Das Virus kommt zur desolaten Lage noch hinzu

Aktuell gibt es nur rund 50 bestätigte Infektionen, doch falls das Virus sich ausbreitet, wird die Regierung kaum über genügend Mittel verfügen, um die Situation in den Griff zu bekommen – mit verheerenden Folgen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich auch die Wirtschaftslage seit März dramatisch verschlechtert zu haben scheint, lokale Medien berichten über starke Preissteigerungen.

Die Lage im Land verschlimmert sich also zusehends – eine Beobachtung, die in den letzten zehn Jahren unzählige Male gemacht wurde.

Dennoch sollten das anhaltende Leid der syrischen Bevölkerung und die Auswirkungen auf europäische Interessen weiterhin zu Diskussionen führen: Kann Europa jetzt, da der Konflikt in eine neue Phase übergegangen ist, etwas bewirken?

Die Gstaltung einer konstruktiven und realitätsnahen Agenda

Es kann – und es sollte. Mit Hilfe einer Strategie, die sich auf die Stärkung der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit Syriens und eine längerfristige politische Transformation konzentriert, können externe Akteure ihre Interessen in Syrien weiterhin vertreten.

Das Problem bleibt das Assad-Regime. Doch die europäischen Regierungen müssen anfangen,eine konstruktive Agenda zu gestalten: weg von einer kontraproduktiven Kampagne, die darauf abzielt, das Regime in die Knie zu zwingen und hin zu einer, die der Realität ins Auge sieht und anerkennt, dass ein politischer Übergang nicht in Sicht ist.

Wenn Europa das nicht tut, wird sich die Notlage der Syrer nur weiter verschlechtern und es wird keinerlei europäische Interessen geltend machen können.

Wette um den Frieden

Nach jetzigem Stand hat Baschar al-Assad die militärische Schlacht gewonnen. Um seinen Machterhalt zu festigen, erwartet ihn ein neuer Kampf: Die USA und einige europäische Regierungen wetten darauf, dass Assad den Frieden nicht gewinnen kann.

Denn die Probleme des Regimes sind weitgehend auf seine korrupte Misswirtschaft zurückzuführen. Westliche Akteure nutzen ihre verbleibenden Einflussmöglichkeiten, um sicherzustellen, dass diese Wette auch zustande kommt.

Die USA haben eine neue Front in Form einer massiven wirtschaftlichen Drohkulisse eröffnet, die aus der Entschlossenheit heraus entstanden ist, Russland und dem Iran einen dauerhaften Sieg in Syrien zu verweigern.

"Verhaltensänderung"? Zusammenbruch.

Diese Kampagne soll sicherstellen, dass sich das Regime nicht auf eventuellen Errungenschaften ausruhen kann und isoliert bleibt, während zugleich die Kosten für Assads Hintermänner steigen.

Das erklärte Ziel dieser Strategie ist eine "Verhaltensänderung". Jedoch ist offenkundig,dass die USA nach wie vor den Zusammenbruch des Regimes anstreben.

Von Beginn an waren einige europäische Regierungsvertreter skeptisch, ob die US-Strategie ihren eigenen Interessen förderlich sein würde. Assad trägt die Verantwortung für den Kollaps der Gesellschaft Syriens.

Aber die Befürchtung ist groß, dass der US-Ansatz darauf ausgerichtet ist, den inneren Verfall noch zu beschleunigen - ohne Rücksicht auf Verluste.

Ein Staatsversagen würde zu noch mehr Leid führen

Ein Staatsversagen in Syrien würde die Instabilität wahrscheinlich nur noch weiter verschärfen und Assads Warlord-ähnliche Herrschaft über das Land festigen, weil er die zur Machterhaltung notwendigen Staatsorgane verteidigt.

Das Endergebnis wird keine politische Transformation sein, sondern nur noch mehr Leid der syrischen Bevölkerung, mehr Flüchtlinge und mehr Spielraum für Extremisten. Und dann sind da noch die potenziell verheerenden Auswirkungen des Coronavirus.

Die Kraft der Zivilgesellschaft

Europa muss diesem kontraproduktiven US-Ansatz des "maximalen Drucks“ widerstehen. Stattdessen sollten sich die europäischen Regierungen auf eine konstruktive Strategie konzentrieren, die sich auf den Schutz und die Stärkung der noch vorhandenen (zivil-)gesellschaftlichen Kräfte konzentriert.

Nur diese Gruppen werden in der Lage sein, Syrien auf eine Weise wiederaufzubauen, die den Bedürfnissen des syrischen Volkes entspricht. Nur so können die Hungernden unmittelbar versorgt, die Grundlagen für einen längerfristigen Wandel geschaffen und minimale Stabilität geschaffen werden.

Diese europäische Strategie sollte einen stärkeren Austausch mit syrischen Akteuren vor Ort im von der Regierung kontrollierten Syrien beinhalten. Dazu zählen Entwicklungshilfen, die Kanalisierung unmittelbarer Unterstützung für die syrische Bevölkerung vor Ort sowie eine effizientere Umsetzung humanitärer Ausnahmeregelungen für EU-Sanktionen, die derzeit einfach nicht funktionieren.

Vorsichtig vorgehen, an Schlüsselpositionen festhalten

Dieser Ansatz sollte kurzfristige Ambitionen für einen Regimewechsel aussetzen, aber keine umfassendere Wiederaufbauhilfe oder eine europäische Re-Legitimierung Assads beinhalten.

Europa muss dabei sehr vorsichtig vorgehen, nur an kleinen Initiativen arbeiten und an seinen Schlüsselprinzipien festhalten. Aber während sich der Handlungsspielraum vor Ort verengt, ist es falsch zu behaupten, dass gar nichts getan werden kann, solange Assad noch an der Macht ist.

Die Syrer selbst sind die ersten, die vor der bösartigen Hand des Regimes warnen, doch viele fordern Europa dennoch auf, kleine Schlupflöcher zu finden, um vor Ort mehr zu tun.

Letztlich sollte die neue Strategie versuchen, jene zivilen Kräfte in Syrien zu stärken, die der Knute des Regimes noch standgehalten haben. Es ist für die Zukunft Syriens und ganz Europas von entscheidender Bedeutung, diesen Menschen und Überbleibseln eines unabhängigen zivilen Lebens zu helfen zu überleben.

Übersetzung: Marlene Riedel

Julien Barnes-Dacey

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