Ökonomen-Serie:Forschung für das echte Leben

Sebastian Dullien ist ein Exot unter deutschen Professoren: Er ist Keynesianer und befasst sich mit ökonomischen Ungleichgewichten.

Von Michael Bauchmüller

Ein Vorschlag, der typisch ist für Sebastian Dullien? Ganz klar, die "europäische Arbeitslosenversicherung". Neben die klassische, nationale Versicherung tritt hier eine europaweite Variante, in die Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen müssen. Geht es dann mit der Wirtschaft bergab, bekommen die Arbeitslosen Geld nicht mehr nur aus dem nationalen System. Dann fließt automatisch der Transfer vom EU-System, also von außen.

Was daran so typisch ist: Es steckt eine gute Portion Keynesianismus darin, und außerdem einige Begeisterung für Europa.

"Man gibt den Leuten zu oft in der falschen konjunkturellen Situation mehr Geld", sagt Dullien. "Wenn die Wirtschaft gut läuft, werden die Arbeitslosenbeiträge auch in Deutschland gesenkt." Das verschafft den Bürgern in einer wirtschaftlich guten Situation mehr Geld, heizt letztlich aber die Konjunktur nur weiter an. Im Abschwung dagegen, wenn das Geld nötig wäre, fehle es. Gäbe es jedoch ein europäisches Pendant zur nationalen Versicherung, sei dieses Risiko geringer: Die Ausschüttung an Arbeitslose sorge dann für einen zusätzlichen Impuls, wenn die Wirtschaft ihn brauche. "Das ist ein makroökonomisches, kein sozialpolitisches Instrument", sagt Dullien.

Ökonomen-Serie: "Es gibt nicht nur eine Wahrheit", sagt Sebastian Dullien, "sondern verschiedene Instrumente für verschiedene Fragestellungen."

"Es gibt nicht nur eine Wahrheit", sagt Sebastian Dullien, "sondern verschiedene Instrumente für verschiedene Fragestellungen."

(Foto: Hendrik Rauch/imago)

Dass er ein Exot ist, würde der junge Professor aus Berlin nie bestreiten. Es gibt nicht mehr viele Keynesianer an deutschen Hochschulen, schon gar nicht mit einer Professur. Wobei selbst Dullien, Jahrgang 1975, sich nicht gern auf eine Denkschule festnageln lässt. "Es gibt nicht nur eine Wahrheit", sagt er, "sondern verschiedene Instrumente für verschiedene Fragestellungen."

Dass ihm die Ideen des britischen Ökonomen John Maynard Keynes sympathisch sind, ist allerdings schwer zu übersehen. Der Staat greift hier notfalls in das Wirtschaftsgeschehen ein, er schafft durch Geld- oder Fiskalpolitik Nachfrage im Abschwung - wenn er sich das leisten kann.

Anschauungsmaterial fand Dullien zuletzt genug, wenn auch eher schmerzvoller Natur. Schließlich mussten während der Finanz- und Schuldenkrise einige europäische Staaten in der Not sparen, weil aus besseren Zeiten keine Reserven übrig waren, mit üblen Folgen für die Euro-Zone. Zurückblickend lässt sich nun mancher Fehler ausmachen, etwa in Spanien. "Eigentlich hätte die Regierung im Immobilienboom die Steuern erhöhen müssen", sagt Dullien. Doch den Boom habe Madrid für die lang ersehnte ökonomische Aufholjagd gehalten. "Im Abschwung haben sie dann gemerkt, dass das Geld weg ist." Da war es zu spät.

Denk doch wie du willst

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Dullien liebt die Debatte. Er will nicht nur lehren, er forscht auch, hinterfragt, will Argumente der Gegenseite verstehen. Er soll Studenten die Wirtschaft erklären und ist selbst neugierig geblieben.

Das mag viel mit seinem seltsamen Weg in die Wissenschaft zu tun haben. Nach der Schule studiert Dullien Volkswirtschaftslehre. Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung arbeitet er für den Konjunkturforscher Gustav Horn, ebenfalls ein Keynesianer. Doch den ersten festen Job tritt er nicht an einem Institut und nicht an einer Hochschule an - sondern bei einer Zeitung. 1999 wird das Wirtschaftsblatt Financial Times Deutschland gegründet, sie ist damals ein großes Experiment.

Nach dem Vorbild des angelsächsischen Pendants will sie nichts weniger als den deutschen Wirtschaftsjournalismus neu erfinden. Für das Agenda-Ressort, das die großen Linien in Wirtschaft und Politik kommentieren soll, sucht die Zeitung Leute mit wissenschaftlichem Hintergrund. Zeitungen machen damals gute Geschäfte, die Bezahlung ist in Ordnung. Ein Himmelfahrtskommando sei das damals gewesen, schließlich war schon lange keine überregionale Zeitung mehr aufgebaut worden, sagt Dullien. Aber ein spannendes, gedruckt auf rosa Papier.

Ökonomen-Serie: Dullien ist einer der 36 Ökonomen, den die SZ in ihrem Buch „Denk doch, wie du willst“ vorgestellt hat. Erhältlich im Handel, unter sz-shop.de oder Telefon: 089/21 83 18 10.

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Acht Jahre bleibt er bei der Zeitung, die es seit 2012 nicht mehr gibt. Erst schreibt er Leitartikel, später wird er zu einem der Konjunktur-Gurus des Blattes. Parallel aber beschäftigt er sich wieder mehr mit Forschung. Er wird Gastwissenschaftler bei der UN-Entwicklungsorganisation UNCTAD. Dullien gastiert an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Vor allem aber promoviert er über Ungleichgewichte in der Euro-Zone - zu einer Zeit, in der solche Ungleichgewichte kaum

ein Ökonom als großes Problem ansieht. 2004, zum Zeitpunkt der Dissertation, läuft in weiten Teilen der Euro-Zone ein vermeintlicher Aufholprozess; er soll die Wirtschaftskraft der einzelnen Länder peu à peu einander angleichen - in der Theorie. "Anfangs bin ich fast verlacht worden wegen der Ungleichgewichte", sagt Dullien heute. In der Dissertation war er unter anderem zu dem Schluss gekommen, dass die Euro-Zone eine koordinierte Lohnpolitik brauche. So soll verhindert werden, dass wirtschaftlich schwächere Staaten im Rausch des Booms die Löhne schneller wachsen lassen als die Produktivität, während es in etablierten Industrienationen wie Deutschland genau umgekehrt ist. Eine der Lösungen: eine europäische Wirtschaftsregierung. Zur Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung ist es von dort nicht mehr weit. "Die Ungleichgewichte", sagt Dullien, "sind so etwas wie mein Markenthema geworden."

Zwei Lieblingsbücher

An Nummer eins steht für Sebastian Dullien natürlich der Klassiker von John Maynard Keynes: die "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes". Auch 80 Jahre nach seinem Erscheinen lehre dieses Buch noch immer mehr über die Funktionsweise moderner Volkswirtschaften als so manches neue Lehrbuch. Sein Lieblingsroman befasst sich mit der Ungleichheit. In "Das Gleichgewicht der Welt" beschreibt Rohinton Mistry am Beispiel Indiens, was ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbruch vor allem für die Ärmsten bedeutet. Ein bewegender Roman, sagt Dullien.

Heute lehrt Dullien, beamtet auf Lebenszeit, an der Hochschule für Wirtschaft und Technik in Berlin. So mancher Universitätsprofessor mag da die Nase rümpfen, schließlich ist es ja "nur" eine Fachhochschule. Doch unterscheidet die FH von der Uni eben der praktische Teil, und der hat durchaus seine Vorzüge. Denn angewandte Ökonomie kann auch ganz real angewandte Politik nach sich ziehen. Da gibt es etwa den Bachelor-Studiengang "Wirtschaft und Politik", der Studenten gezielt auf die Arbeit in Verbänden und Politik vorbereiten soll. "Das ist Volkswirtschaftslehre mit guten Kenntnissen der deutschen Institutionen", sagt Dullien. "Das funktioniert sehr gut." Und da wäre noch der Master-Studiengang "International and Development Economics", ein Studium, das sich vor allem an Studierende aus dem Ausland richtet. Es gibt für diesen Abschluss sogar eine Förderung, aber die setzt voraus, dass die Stipendiaten vorher in ihrem Heimatland zwei Jahre Berufserfahrung gesammelt haben. Wer für dieses Studium nach Berlin kommt, hat mitunter schon Regierungsapparate, Parteien oder Industrieunternehmen eines Schwellenlandes von innen gesehen. Außerordentlich bereichernd sei das, sagt Dullien, der mit seiner Familie in einem schicken Neubauviertel im Osten der Hauptstadt wohnt. "Auch ich profitiere von den Erfahrungen, die meine Studenten aus Entwicklungs- und Schwellenländern mitbringen."

Etwa aus dem kriselnden Brasilien, das Umverteilung vor allem durch steigende Mindestlöhne erreichen wollte. Doch in der Krise muss das Land nun feststellen, dass höhere Mindestlöhne zu steigenden Preisen führen, die sich in einer Wirtschaftskrise aber schwer durchsetzen lassen. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit und sinkende Kaufkraft, was wiederum die Krise verschärft. "Wir in Deutschland haben oft nur wenig Verständnis für die Probleme in Schwellenländern", sagt er. Umgekehrt nehmen die Studenten, wenn es gut läuft, einiges von Dulliens Erfahrungen mit. Letztlich erlangt der Wissenschaftler damit einen Einfluss, von dem mancher Universitätslehrer nur träumen kann. Nicht einmal durch lange Forschungsarbeiten muss sich der FH-Professor Dullien dafür quälen. "Ich hätte auch keine Lust, fünf Jahre im stillen Kämmerlein über Theorien zu brüten, von denen ich nicht weiß, was daraus wird."

Die Ungeduld, auch Unruhe des Journalisten schimmert durch, der nicht nur verstehen, sondern auch vermitteln will. Dullien stört es nicht, dass er sich damit auch politisch ziemlich klar verorten lässt - am häufigsten suchen Sozialdemokraten seinen Rat. "Natürlich berät man eher Menschen, die einem näherstehen", sagt er selbst. "Ökonomie hat eben immer auch mit Werten zu tun."

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