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Polen und Ungarn Europas Problem mit dem Osten

Immer Ärger mit dem Osten: Nach Ungarn gleitet auch Polen in die Autokratie ab - und das restliche Europa kann kaum mehr tun, als zuzusehen. Oder hat es doch Möglichkeiten zur Sanktionierung?
Orban (l.) und Kaczynski

Orban (l.) und Kaczynski

Foto: Jarek Praszkiewicz/ AP

Es war nur ein Experiment, eines über Zusammenarbeit, Gerechtigkeit und Strafen. Man konnte Geld ins Gemeinwohl investieren oder für sich behalten - Zinsen gab es in jedem Fall. In Gruppe eins konnten Abweichler für egoistisches Verhalten bestraft werden, in der anderen nicht. Das Ergebnis: In der Gruppe mit Sanktionen entwickelte sich ein stabiles System, in der zweiten brach das Gemeinwesen in Windeseile zusammen.

Die Studie  von Forschern der Uni Erfurt (Titel: "Der Wettbewerbsvorteil sanktionierender Institutionen") wurde bereits vor zehn Jahren veröffentlicht - "aber das Ergebnis lässt sich in gewisser Weise auf die EU von heute übertragen", sagt Andreas Maurer, Politikwissenschaftler an der Uni Innsbruck. Die EU wäre in diesem Fall die Gruppe ohne Strafen.

Das ist keine beruhigende Perspektive angesichts dessen, was sich derzeit im Osten Europas abspielt: Die dortigen Staaten profitieren massiv von der Gemeinschaft, fünf der sieben größten Nettoempfänger von EU-Geldern liegen in Osteuropa. Die Rücksicht auf die restliche Gemeinschaft ist dort aber gering - sei es bei der Verteilung von Flüchtlingen oder bei der Achtung der Grundwerte der Union:

Ungarn ist bereits in die Autokratie abgeglitten. Vieles von dem, was Ministerpräsident Viktor Orbán dort eingeführt habe, könne man nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments rückgängig machen, sagt Maurer. "Das kommt einer Machtergreifung gleich."

So weit ist es in Polen zwar noch nicht gekommen. Doch die dort regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) folgt Orbáns Drehbuch auffallend. Die öffentlich-rechtlichen Medien und die Geheimdienste sind inzwischen auf Linie gebracht, missliebige Beamte wurden gefeuert. Als die Regierung den Zugang zum Parlament für Journalisten einschränken wollte, besetzten Oppositionspolitiker am 16. Dezember den Plenarsaal. Die Blockade dauert bis heute an, am Dienstag scheiterten Verhandlungen über ein Ende des Protests.

Doch erst die Lähmung des polnischen Verfassungsgerichts hat die EU-Kommission dazu bewogen, ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit Polens einzuleiten. Die PiS-Regierung nutzte das, um im eigenen Land massiv Stimmung gegen die EU zu machen, während sie die Forderungen der Kommission weitgehend missachtet. Zwar steht am Ende des Rechtsstaatsverfahrens die Auslösung von Artikel 7 des EU-Vertrags, der im Extremfall zur Aussetzung des polnischen Stimmrechts führen kann. Doch dazu wäre eine einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten nötig - und Ungarn hat sein Veto bereits angekündigt.

Allerdings: Sollte die polnische Regierung im Februar auch die letzte Frist verstreichen lassen, hätte die Kommission kaum noch eine andere Wahl, als den Staats- und Regierungschefs das Auslösen von Artikel 7 zu empfehlen. Das "bequeme Abschieben des polnischen Problems an die Kommission", schrieb  jüngst der Thinktank European Council on Foreign Relations, werde dann ein Ende haben.

Manche fordern schon jetzt, dass das Polen-Problem auf höchster Ebene verhandelt wird. "Die Situation in Polen wird laufend besorgniserregender", sagt Manfred Weber (CSU), Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament. Die rechtsnationale Regierung höhle die Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit aus. "Das kann nicht nur ein Thema für die Kommission sein", sagt Weber, "sondern muss auch von den Staats- und Regierungschefs diskutiert werden. Es geht um fundamentale Fragen für Europa als Ganzes."

EU hat keine Sanktionsmöglichkeiten

Allerdings stehen die Staats- und Regierungschefs vor dem gleichen Problem wie die Kommission: Sie haben kaum Möglichkeiten, einzugreifen. Jetzt rächt sich, dass die EU vor ihrer massiven Osterweiterung - 2004 kamen auf einen Schlag zehn, 2007 zwei weitere Staaten hinzu - keine glaubwürdigen Sanktionen für Verstöße gegen die Grundwerte eingeführt hat.

"Der Glaube daran, dass in den östlichen Mitgliedstaaten keine autokratischen Tendenzen mehr auftreten würden, war naiv", sagt Maurer. Der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld führt dies auf "die Euphorie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts" zurück. "Der Anspruch demokratischer Staaten auf eine EU-Mitgliedschaft erschien damals wie eine Selbstverständlichkeit." Der britische Historiker Timothy Garton Ash sieht  ein Versagen der inneren Abwehrkräfte der polnischen Demokratie. Statt des Widerstands starker Institutionen sei zu beobachten, wie das Land "in seine Tradition des außerparlamentarischen Protests zurückfällt".

Zwar mussten die Osteuropäer einen langen und harten Beitrittsprozess absolvieren. Doch jetzt, wo sie erst einmal Mitglieder sind, können sie in Sachen Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Prinzipien weitgehend tun und lassen, was sie wollen. "Die EU kann nicht glaubhaft mit Sanktionen drohen", sagt Nicolai von Ondarza von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Besonders abschreckend scheint das auf die EU bisher jedoch nicht zu wirken: Sie ist gerade dabei, sich mit den Westbalkan-Staaten die nächsten potenziellen Problemfälle ins Haus zu holen.

Weidenfeld geht dennoch davon aus, dass Polen demnächst mit Strafen rechnen muss. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, Polens eigentlicher Regent, werde "seine Linie durchziehen bis zur Entscheidung", so Weidenfeld. Zwar sei es wenig realistisch, neue Mechanismen für Sanktionen einzuführen, da dies Änderungen an den EU-Verträgen erforderte. "Aber die EU könnte Zusatzvereinbarungen schließen", meint Weidenfeld.

Es wäre nicht das erste Mal. 1970 etwa wurde die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) beschlossen, um die Einigung Europas außerhalb der damals geltenden Verträge voranzutreiben. Die EPZ lief 22 Jahre lang ohne Vertragsgrundlage, ehe sie im Vertrag von Maastricht aufging. Auch das Schengener Abkommen, das die Reisefreiheit in weiten Teilen der EU garantiert, wurde zwischen den Staaten vereinbart - ebenfalls ohne Änderung der EU-Verträge. "Wenn man politisch will", meint Weidenfeld, "dann fällt einem auch etwas ein."

Sollte das nicht geschehen, könnte es der EU ähnlich ergehen wie der straffreien Spielergruppe aus dem Erfurter Psychologie-Experiment. Die hatte schon nach zehn von 30 Runden kaum noch Mitglieder. Alle anderen waren übergelaufen - in die Gruppe, die ihre Egoisten abstrafen konnte.


Zusammengefasst: Nach Ungarn droht auch Polen in die Autokratie abzugleiten. Die EU-Kommission hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Warschau eingeleitet, doch die polnische Regierung zeigt bisher kaum Entgegenkommen. Demnächst dürfte die Kommission das Problem an die Staats- und Regierungschefs weiterleiten - aber auch sie haben kaum konkrete Möglichkeiten, Warschau unter Druck zu setzen.