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Österreich hätte laut Experten mehr Potenzial in der EU

Das European Council on Foreign Relations (ECFR) hat die Bereitschaft der EU-Länder zur Zusammenarbeit auf europäischer Ebene erforscht. Der Leiter des Berliner Büros des ECFR, Josef Janning, besucht derzeit alle EU-Hauptstädte und präsentiert die Ergebnisse. "Österreich kämpft unter seiner Gewichtsklasse und nutzt seine Potenziale nicht voll aus", erklärte er im Interview mit der APA.

Österreich verkauft sich unter dem Wert
Österreich verkauft sich unter dem Wert

Mit dem EU-Coalition Explorer versucht das ECFR aufzuzeigen, "ob es Muster in den Beziehungen der EU-Staaten zueinander gibt", erläuterte Janning. Dafür wurden 877 Personen mit Naheverhältnis zur Politik befragt, wie sie andere Mitgliedsstaaten beurteilen, wen sie in einem positiven Kontext sehen, welches Land sie als einflussreich befinden und vieles mehr. Das Ergebnis der Umfrage: Zu keinem anderen Zeitpunkt sei die Zerklüftung in der EU so groß gewesen wie es derzeit der Fall ist. Es gibt laut Janning kaum gemeinsame Positionen und Ansichten. Daher gestalte sich auch der Politikprozess derzeit als "unglaublich schwierig".

"Österreich sieht für uns wie ein Land aus, das keine besonders engen Beziehungen zu anderen EU-Ländern pflegt", erklärte der deutsche Politologe. Dabei würde das Land in seiner unmittelbaren Nachbarschaft als "sehr einflussreich" bewertet. Bis auf die Befragten aus der Tschechischen Republik wählten alle Nachbarländer Österreich auf den ersten Platz, den Einflussreichtum des Landes betreffend. "Österreich selbst macht aber nicht viel daraus. Da gibt es auf jeden Fall noch Potenzial", so Janning.

Eine für den ECFR-Leiter realistische Möglichkeit für Österreich, um in der EU mehr bewirken zu können, wäre ein "Zusammenschluss der wohlhabenden, kleineren EU-Länder". Damit könne man sich Gehör verschaffen, denn zusammen würden diese Länder mehr in die EU-Kassen einzahlen als Frankreich.

Die Zusammenarbeit Österreichs mit den Visegrad-Staaten ist laut Janning in Zukunft zwar möglich, mit anderen EU-Ländern wie etwa den Beneluxstaaten habe Österreich jedoch mehr gemein, zumindest was die wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Entwicklung betreffe. Nur in Bezug auf das Migrationsthema sieht der deutsche Politologe Gemeinsamkeiten mit der Visegrad-Gruppe: "Im Mittel- bzw. westeuropäischen Raum ist die österreichische Position zur Flüchtlingsdebatte neben Dänemark die Kritischste. Hier könnte man wahrscheinlich am ehesten eine Brücke zu den Visegrad-Staaten bauen." Trotzdem müsse festgehalten werden, dass eine einheitliche EU-Regelung von Österreich wahrscheinlich gerne angenommen werden würde. Die Visegrad-Staaten würden eine solche europäische Lösung jedoch sicher ablehnen.

Neben dem EU-Coalition Explorer veröffentlicht das ECFR auch den EU-Cohesion Monitor. Darin wird auf Basis vorliegender Daten untersucht, wie stark die Bereitschaft in den einzelnen EU-Ländern ausgeprägt ist, mit anderen Ländern auf europäischer Ebene zu kooperieren. Die einzelnen Länder werden auf struktureller und individueller Ebene überprüft. Zur strukturellen Ebene zählen dabei etwa wirtschaftliche, politische und gesetzliche Faktoren. Die individuelle Ebene setzt sich aus den Erfahrungen, den Erwartungen und der Einstellung von Individuen zur EU zusammen.

"Wir haben festgestellt, dass seit 2007 in vielen Ländern eine massive Zunahme von Zusammenhalts-Faktoren auf der strukturellen Ebene zu sehen sind", erläuterte Janning. Das habe in einigen Staaten gleichzeitig zu einem Wachstum auf der individuellen Ebene geführt. Bei den Visegrad-Staaten wurde zwar ein großer Anstieg auf der strukturellen Ebene aufgezeigt, auf der individuellen Ebene wurde jedoch kein Wachstum festgestellt. "Es gibt also oft einen großen Graben zwischen der faktischen Verflechtung auf der strukturellen Ebene und der teils extrem schwachen Zusammenhalts-Wahrnehmung der Menschen auf individueller Ebene", meinte Janning.

In Österreich hat sich laut den Ergebnissen des EU-Cohesion Monitors seit 2007 viel verändert: "Insgesamt wird Europa in manchen Bereichen etwas kritischer gesehen als noch vor zehn Jahren. Zum Beispiel im Bereich der Integration", erklärte der deutsche Politologe im Interview. Dem entgegengesetzt stünden jedoch die positiven Erfahrungen, welche die Österreicher mit der EU gemacht haben. Daher sei die Bereitschaft der Österreicher, in der EU zu bleiben, sogar "sehr deutlich gewachsen".

Als Vergleich nannte Janning Großbritannien. Im Jahr 2017 waren dort die Faktoren auf individueller und struktureller Ebene so gering wie in keinem anderen EU-Mitgliedsstaat. "Das hilft natürlich zu verstehen, warum viele Briten für den Brexit gestimmt haben", erläuterte der deutsche Polit-Experte. Der Brexit-Prozess, soweit er bis jetzt zu beobachten war, hat laut Janning abschreckend auf andere Länder gewirkt. Drohungen von verschiedenen Parteien aus der EU auszutreten, seien daher weitgehend verschwunden. "Die gemeinsame Linie der populistischen Kräfte besteht heute nicht mehr daraus, die Union zu zerstören, sondern einen Teil der Zuständigkeiten wieder von Brüssel ins eigene Land zu holen", erklärte Janning.

Für die Zukunft sieht der deutsche Polit-Experte großes Potenzial für Österreich: "Ich glaube, dass sich in den nächsten zwei bis drei Jahren unter den reichen kleineren Staaten, zu denen auch Österreich gehört, eine Debatte darüber entfalten wird, wie sie denn aktiv in der EU vorkommen könnten." Die derzeit zerklüftete Struktur der EU sei dabei eine Chance, durch gemeinsames Handeln Teil einer Mehrheitsbildungs-Koalition zu werden.

Im Zuge seines Besuches in Wien stattete der deutsche Politologe am Mittwoch auch dem Außenministerium einen Besuch ab. "Wir haben dort ziemlich offen miteinander darüber diskutiert, welche Handlungspotenziale Österreich hätte und wo es nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten gibt", sagte der Leiter des Berliner Büros des ECFR.

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