Früher Feinde, heute Freunde

Das deutsch-polnische Verhältnis in der Entwicklung der Zeit. Die Beziehungen beider Länder haben sich erheblich gewandelt.

Polen bereitet sich auf die Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs vor. An der Westerplatte in Danzig, wo am 1. September 1939 um 4.45 Uhr die ersten Schüsse fielen, wird Bundespräsident Joachim Gauck am Montag einen Kranz niederlegen. Am morgigen Sonntag findet im Gleiwitzer Dom eine Gedenkmesse statt, die von Reinhard Kardinal Marx und polnischen Bischöfen zelebriert wird. In fast jeder polnischen Stadt werden Menschen des Krieges gedenken, in dem fast sechs Millionen Polen ums Leben kamen.

Die Erinnerung an das dunkelste Kapitel der gemeinsamen Geschichte lebt in Polen zwar fort, die Anwesenheit deutscher Politiker und Kirchenoberen ist aber ein deutliches Zeichen der Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegner. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 haben die Beziehungen beider Länder einen erstaunlichen Wandel vollzogen. Der einstige Feind ist Polens wichtigster Wirtschaftspartner, politischer Fürsprecher in der EU und Nato-Verbündeter. In einer aktuellen Umfrage deklarieren 39 Prozent der Polen ihre Sympathie für Deutschland - 1993 waren es gerade 23 Prozent. "Die deutsch-polnische Annäherung gehört zu den größten Erfolgen der vergangenen 25 Jahren", sagt Alexander Smolar, Leiter der Stefan Batory Stiftung in Warschau.

Die neue Nähe zwischen Deutschen und Polen ist kein Konstrukt der Politiker, sie wird im Alltag gelebt. Man kann sie am besten an der Grenze entlang der Oder und Neiße beobachten. Die Fischer von Trzebiez feiern ihre Feste mit Kollegen aus Ueckermünde. In den renovierten Altstädten von Görlitz und Guben lassen sich immer öfter polnische Familien nieder, um von den niedrigeren deutschen Mieten zu profitieren. Frankfurt/Oder und Slubice wachsen Schritt für Schritt zu einer Doppelstadt zusammen, die im Scherz schon Slubfurt genannt wird. Die Frankfurter fahren nach Slubice zum Friseur und in die Werkstatt, die Polen gehen in Frankfurt ins Schwimmbad. Eine grenzüberschreitende Buslinie verbindet beide Städte, die ab 2020 die Bereiche Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung- und Arbeitsmarktpolitik gemeinsam gestalten wollen.

Im südlichen Breslau wird das deutsche Erbe gepflegt. In der Stadt, die nach dem Krieg von polnischen Vertriebenen aus dem von der Sowjetunion annektierten Ostpolen besiedelt wurde, gehören Hinweise auf die deutsche Vergangenheit zum Straßenbild. Alte Denkmäler, die nach dem Krieg der "Entdeutschung" zum Opfer fielen, kehrten zurück. An vielen Gebäuden prangen Tafeln mit Namen der früheren deutschen Bewohner. Vor sechs Jahren weihte der polnische Bürgermeister von Breslau ein Denkmal ein, das aus Grabplatten deutscher Friedhöfe besteht, die in den Nachkriegsjahren eingeebnet wurden.

Die deutsch-polnische Allianz erreichte in der Euro-Krise ihren absoluten Höhepunkt. Die Warschauer Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk unterstützte Berlins europäischen Sparkurs, der von den meisten anderen Mitgliedsländern abgelehnt wurde. Als diese populistisch die Angst vor der Übermacht Deutschlands zu schüren versuchten, konterte Polens Außenminister Radoslaw Sikorski 2011: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit."

Während das Feindbild Deutschland verblasst, meldet sich ein anderes Schreckgespenst zurück: Russland. Seit der Annexion der Krim durch Präsident Wladimir Putin und dessen Stellvertreterkrieg in der Ostukraine wächst in Polen die Angst vor einem bewaffneten Konflikt. Fast jeder zweite Pole sieht die Souveränität des Landes bedroht.

In der aufgeheizten Lage erinnern sich die Polen an nationale Symbole. "Für einen Teil der polnischen Elite könnte in diesem Jahr der 17. September zu einem wichtigen Bezugspunkt werden", sagt Piotr Buras, Leiter des polnischen Büros der European Council on Foreign Relations in Warschau. Vor 75 Jahren marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein, um das Land gemäß Hitler-Stalin-Pakt zu teilen. Die Sowjets verschleppten fast 15 000 polnische Offiziere und Polizisten, um sie wenig später zu ermorden.

Dieses Trauma lastete schwer auf den polnisch-russischen Beziehungen. Als Wladimir Putin im Kreml an die Macht kam, schienen sich Moskau und Warschau aufeinander zuzubewegen. Erst nach der russischen Intervention in Georgien, die in Polen auf heftigen Protest gestoßen war, setzte wieder die Eiszeit ein. Sie wird immer kälter, Polen gehört zu den heftigsten Kritikern der russischen Aggression in der Ukraine. Vom ersten Tag an fordert Warschau seine EU-Partner, Putin in die Schranken zu weisen - mit Wirtschaftssanktionen und zur Not mit militärischem Säbelrasseln. "Durch die Annexion der Krim hat Putin das Fundament der europäischen Nachkriegsordnung erschüttert, den Verzicht auf mögliche Grenzänderungen", sagt der Politologe Smolar: "Europa hat darauf zuerst nicht mit notwendiger Härte reagiert."

Das Paktieren mit dem Aggressor in Moskau und die EU-Unentschlossenheit werden in Polen mit der Appeasement-Politik des Westens gegenüber Hitler-Deutschland vor dem Kriegsausbruch verglichen. "Viele westliche Politiker, die dieses Jahr an den Gedenkfeier zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges und zum 25. Jahrestag des Falls des Eisernen Vorhangs teilnehmen, haben keine Lehren daraus gezogen", kritisiert Roman Kuzniar, außenpolitischer Berater des polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski. Die Politiker in Deutschland, Italien, Ungarn und den Niederlanden hingen an den Lippen Moskauer Diplomaten und zitterten. "Putin lähmt die Freiheit ihres Denkens wie eine Schlange das Kaninchen."

Auch der ehemalige Chef des Staatssicherheitsdienstes (UOP), General Zbigniew Nowek, wettert gegen Brüssel und Berlin. "Der Westen kann das Ausmaß der Bedrohung durch Russland nicht einschätzen", sagt Nowek. "Wir haben es mit einer Aggression durch Russland zu tun. Wir kennen das aus der eigenen Geschichte." Wenn man Putin nicht stoppe, werde er demnächst "einen exterritorialen Korridor durch das Baltikum nach Kaliningrad" fordern. Nowek spielt bewusst auf Hitlers Forderung nach einem Korridor nach Danzig, dessen Ablehnung durch Warschau er als einen Grund für den Krieg nannte.

Die politischen Eliten in Polen werfen Kanzlerin Merkel vor, die Interessen der deutschen Wirtschaft in Russland vor die sicherheitspolitischen Sorgen der Verbündeten zu stellen. Polen fordert seit Monaten die Stationierung von Nato-Truppen an seiner Ostgrenze. "Wenn wir zwei Nato-Brigaden in Polen hätten, wäre ich glücklich", sagt Außenminister Sikorski. Doch Berlin und andere Nato-Länder lehnen eine Truppenverlegung bisher ab und berufen sich auf den Russland-Nato-Vertrag, in dem das Bündnis auf die Stationierung der Truppen in den neuen Mitgliedsländern verzichtet hat. Polen wird hinter den Kulissen als "Agent provocateur" und als "Schoßhündchen Amerikas" beschimpft, das die Nato zu einem harten Vorgehen gegen Moskau drängt. Washingtons Erwägungen, Waffen an Kiew zu liefern, stoßen in Polen auf Applaus: "Russland hat gegen alle Normen des internationalen Rechts verstoßen", sagt der Politologe Buras. "Damit, so glauben die meisten Polen, ist der Westen an seine Zusagen gegenüber Russland nicht mehr gebunden."

Auf dem Nato-Gipfel in Newport kommende Woche wird das Thema heiß debattiert. Die Polen erwarten einen Kompromiss. "Die Nato müsste den Ausbau der Militär-Infrastruktur an der Ostflanke beschließen, die im Bedarfsfall von den Verbündeten genützt werden könnte", sagt Buras. Zudem müssten Voraussetzungen geschaffen werden, um Nato-Verbände verlegen zu können. "Russland kann man nicht durch Nachgiebigkeit und Rückzüge verändern", konstatiert Präsidentenberater Kuzniar. "Die östliche Flanke der Nato muss verstärkt werden. Das ist nur eine notwendige Anpassung."

Während die Nato streitet, bereiten sich Polens Generäle auf einen möglichen Krieg vor. In den Stäben werden Kriegsszenarien analysiert und Pläne für die Verteidigung des Landes entworfen. In diesem Jahr sollen mindestens 15 000 Reservisten zu Militärübungen einbezogen werden, um ihre Kenntnisse im Umgang mit Waffen aufzufrischen. Die Regierung will Milliarden in neue Ausrüstung stecken. Polen will niemals wieder eine solche Niederlage erleben wie im September 1939.

Die geopolitische Lage ist zum Glück ganz anders: Im Westen steht heute ein Verbündeter, der trotz gelegentlichen Streits über das richtige politische Instrumentarium, die gleichen Werte vertritt. Es ist die Freundschaft mit Deutschland, die Polen heute Sicherheit und Zuversicht gibt. Vor 25 Jahren hätte das niemand für möglich gehalten.

(RP)
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