Wohin steuert die EU? - Merkel-Vorstoß löst neue Europa-Debatte aus

Reuters · Uhr (aktualisiert: Uhr)

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Es war ein politisches Erdbeben mit Ansage, das Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montag auslösten: Der Vorschlag eines 500 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds mit Zuschüssen für die von Corona gebeutelten EU-Staaten rüttelt nicht nur die Debatte zwischen Geber- und Nehmerländern in der EU durcheinander.

"Der Vorstoß enthält auch Sprengstoff, weil die EU-Kommission Anleihen aufnehmen können soll", sagt Jana Puglierin, Europa-Expertin des European Council for Foreign Relations (ECFR). Das wird von einigen als Schritt in Richtung einer eigenen Staatlichkeit Europas und Tabubruch gesehen - und hat deshalb eine hitzige Debatte zwischen den Parteien in Deutschland entfacht. Und weil der Bundestag einer solchen Regelung zustimmen muss, ist die sehr grundsätzliche Frage "Wohin steuert Europa?" plötzlich zurück auf der Tagesordnung der nationalen Politik.

Vor allem aus der AfD, der FDP, aber auch der Union kommt der Vorwurf, die Kanzlerin habe eine entscheidende Schwelle überschritten. FDP-Chef Christian Lindner warnt vor dem Einstieg in eine "Schuldenunion", obwohl es ein Verschuldungsverbot für die EU gebe. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel spricht von einem "Dammbruch, der das geltende Recht auf den Kopf stellt." Auch CSU-Finanzexperte Hans Michelbach ist skeptisch und fordert eine sehr sorgfältige Prüfung vor einer Bundestagsentscheidung. Sein CDU-Kollege Klaus-Peter Willsch kündigt bereits seine Ablehnung an. Um die beginnende Debatte in der Union auszutreten und eine Koalitionsmehrheit im Bundestag zu sichern, stellen sich CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus sofort hinter den Vorschlag. "Ich denke, dass der Vorschlag von den EU-Verträgen gedeckt ist", sagte auch Gunther Krichbaum (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses zu Reuters. Er verweist darauf, dass die Kredite mit Garantien gedeckt würden.

Merkel und Finanzminister Scholz verweisen auf den Artikel 122 des EU-Vertrages, der Sondermaßnahmen in Notlagen erlaube. "Wegen der Außergewöhnlichkeit dieser Krise wählen wir auch einen außergewöhnlichen Weg, denn das ist notwendig, um auf diese nie dagewesene Krise auch eine Antwort zu finden", argumentiert die Kanzlerin. Ihr Regierungssprecher verwies am Mittwoch darauf, das es um eine einmalige und zeitlich begrenzte Schuldenaufnahme gehe. Zudem seien mögliche Bedenken des Bundesverfassungsgerichts beachtet worden, weil der Bundestag zuvor zustimmen muss. "Ich denke, im Zuge einer tieferen Integration der EU sollte eine zeitweilige Aufnahme von Schulden auf europäischer Ebene kein Tabu sein", rechtfertigt sich auch Scholz in der "Zeit".

CORONA-KRISE ALS WEGBEREITER FÜR TIEFERE INTEGRATION?

Aber genau dieser Hinweis auf die "tiefere Integration der EU" heizt die Debatte an. Denn Vizekanzler Scholz plädiert sogar dafür, dass die EU selbst Steuern erheben kann. Mit einer eigenen Einnahmequelle würde sich die EU einer Staatlichkeit aber noch mehr annähern. "Für eine solche Fiskalreform gibt es historische Vorbilder: Der erste US-Finanzminister Alexander Hamilton bündelte im Jahr 1790 auf Ebene des Zentralstaats die Kompetenzen, gemeinsame Einnahmen zu erzielen, und eine eigenständige Verschuldungsfähigkeit", sagt der SPD-Politiker. Auch die Kanzlerin betont ihre Offenheit für EU-Vertragsänderungen und sagt: "Europa muss gemeinsam handeln, der Nationalstaat alleine hat keine Zukunft." Schon in früheren Jahren ihrer Kanzlerschaft hatte sie keinen Hehl daraus gemacht, wohin die europäische Entwicklung aus ihrer Sicht gehen soll: Die EU-Kommission solle später eine europäische Regierung werden, das Parlament gestärkt und der mächtige EU-Rat der 27 EU-Regierungen die Rolle einer Länderkammer einnehmen, so Merkel 2012.

Diese Sichtweise ist in der Union umstritten. "Aber jetzt schafft die dramatische Corona-Krise einen enormen Handlungsdruck", heißt es in der Bundesregierung. Merkel und Macron hätten mit dem Wiederaufbaufonds einen Weg aufgezeigt, der die in der Corona-Krise entstandenen Gräben wieder schließen könnte. Denn anfangs habe Italien Deutschland wegen des Widerstands gegen Eurobonds Egoismus und mangelnde Solidarität vorgeworfen, betont auch der CDU-Politiker Krichbaum. Nun kommt aus Italien und Spanien Zustimmung dazu, dass 500 Milliarden Euro als Zuschüsse und nicht als Kredite gezahlt werden sollen. "Auch wenn dies am Ende im Kreis der 27 EU-Ländern nicht durchsetzbar sein sollte: Merkel sorgt mit dem bloßen Angebot für einen Stimmungsumschwung", hofft man in Regierungskreisen.

Dass die Rückkehr der EU-Debatte den Euroskeptikern der AfD wieder Auftrieb geben wird, glaubt der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, nicht - was auch an der einzigartigen Dimension der Corona-Krise liegt. "Letztlich ist das Thema Europa zu abstrakt, um Wähler wirklich zu locken", sagt er zu Reuters. "Und nötige Hilfen für Spanien oder Italien sind unstrittig." Die Größe der Corona-Krise habe die Debatte in und über Europa einfach komplett verändert.

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