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Wer mit wem?

Die wichtigsten Machtallianzen in Europa

„Nationalstaaten müssen heute – sollten heute (…) – bereit sein, Souveränität abzugeben“, hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kürzlich gefordert. Vor allem in Berlin und Paris wird der Ruf nach engerer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene lauter. Allzu gern kochen die EU-Mitgliedsstaaten weiter ihr eigenes Süppchen. Von deren Fähigkeit, sich auf Partnerschaften einzulassen, hängt es aber ab, wie sich Europa weiter entwickelt.

Die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten spielen in der gegenwärtigen Lage der EU eine entscheidendere Rolle als die Frage, wie stark die EU-Kommission derzeit ist oder wie das Zusammenspiel von Kommission und EU-Parlament funktioniert, erklärt der Politologe Josef Janning, Leiter des Berliner Büros des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR), im ORF.at-Interview: „Ohne Engagement der Mitgliedsstaaten und ein Zusammenwirken in der EU wird es keine politische Bewegung geben.“

Aus dieser Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden, die die Zusammenarbeit innerhalb Europas vorantreiben, ist der vor Kurzem veröffentlichte „EU Coalition Explorer“, eine Studie auf Basis von Interviews mit rund 800 Experten und Praktikern im politischen Tagesgeschäft in allen EU-Mitgliedsstaaten, erarbeitet worden. „Wir fragen danach, wie es um die Chemie steht zwischen den Staaten. Wer kann mit wem? Wer fokussiert sich auf wen?“, so Janning.

Unerfüllte Erwartungen

Die derzeitigen Beziehungen seien von bilateralen Partnerschaften geprägt, nur ein Bruchteil davon ist ausgewogen und von gegenseitigem Interesse geprägt. Am Beispiel Österreich sieht man eine Fülle unausgewogener Beziehungen mit unerfüllten Erwartungen in Bezug auf andere Staaten. Im Endeffekt stehe Wien ohne wirklich engen Partner da, so die Analyse des ECFR.

Eine Grafik zeigt auf einer Karte die häufigsten Länderkontakte innerhalb der EU
Grafik: ORF.at; Quelle: EU Coalition Explorer

Denn Länder wie Kroatien, Bulgarien und Ungarn haben laut „EU Coalition Explorer“ zwar großes Interesse an einer engeren Vernetzung mit Österreich. In Wien werde das aber nicht registriert, so Janning, „oder es ist nicht wichtig genug, um eine Gegenreaktion zu erzeugen“. Hier orientiert man sich eher Richtung Deutschland, Niederlande und Italien. Bei keinem dieser drei scheint Österreich aber unter den Top Fünf der meistkontaktierten Länder auf.

„Österreich hätte mehr Potenzial“

Wie der ECFR-Datensatz zeigt, hängt Österreich nach wie vor stark an Deutschland. Das sei eine Position, in der man es sich „teilweise ein bisschen leicht macht“, so Janning: „Österreich hätte mehr Potenzial durch stärkere Verbindungen zu den umliegenden Staaten und innerhalb der Gruppe wohlhabender, kleiner Länder, die neben Österreich die BENELUX-Staaten, Schweden, Finnland und Dänemark umfassen, sein Gewicht in der europäischen Debatte zu vergrößern. Scheinbar interessiert das nicht so sehr.“

Die Position Österreichs habe sich in den vergangenen zwei Jahren aber gewandelt, analysierte Janning: Die Flüchtlingskrise 2015 ist zu einem Katalysator der Veränderung der Aufmerksamkeit für Österreich geworden." Es werde nun in der Gruppe der wohlhabenden, kleineren Staaten von außen als deutlich einflussreicher wahrgenommen. Die eigene Position habe Österreich aber noch nicht so stark verändert, ist der Politologe überzeugt.

„Acker der EU konsequenter pflügen“

Weiterhin gilt die deutsch-französische Kooperation als unverzichtbar, um die EU-Integration voranzutreiben. Diese sei ein wichtiger Knotenpunkt im Netzwerk der EU-28, reiche aber allein nicht mehr aus, betont Janning. Paris und Berlin müssten ihre Fühler weiter ausstrecken. Ein ungenütztes Unterstützungspotenzial gäbe es in Spanien und Portugal. Vor allem die Niederlande könnten eine tragende Rolle in einer Koalition rund um Berlin und Paris spielen, weil sie das eigene „Freundespotenzial“ durch ihre guten Verknüpfungen zu den nordischen Ländern und die BENELUX-Staaten einbringen könnten.

Deutsche Kanzlerin Angela Merkel, und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
AP/Michael Sohn
Macron und Merkel bemühen sich verstärkt um neue Partnerschaften für eine größere Koalition

Laut dem „EU Coalition Explorer“ ist die Beziehung Berlins zu Den Haag ohnehin bereits recht eng. Zudem verabschiede sich Deutschland zusehends von seiner „präsidentiellen Strategie“, die Berlin in den vergangenen Jahren verfolgt habe, so Janning. Dabei habe Deutschland den Dialog mit kleineren Staaten vernachlässigt. Nun sei erkannt worden, dass dieser Weg die deutschen Interessen nicht hinreichend abdecke.

Auch Frankreich habe das bereits verstanden und sich stärker kleineren EU-Staaten zugewandt. Nicht umsonst stattete Macron im August Dänemark und Finnland einen Besuch ab. Ende Oktober reiste er nach Prag und Bratislava. Das seien für einen französischen Präsidenten ungewöhnliche Besuche, so Janning. Die großen Staaten seien offenbar zu dem Schluss gekommen, „dass man den Acker der EU konsequenter pflügen muss, wenn man aus der heutigen Fragmentierung der EU-Politik herauskommen möchte“.

Zwei Blöcke bei Visegrad-Gruppe

Als einer der Bremser einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit wird häufig die Visegrad-Gruppe wahrgenommen. Der „EU Coalition Explorer“ zeigte aber, dass sich hier mit Tschechien und der Slowakei auf der einen und Ungarn und Polen auf der anderen Seite zwei Blöcke gegenüberstehen, die nicht alle Interessen und Prioritäten teilen. „Gemeinsam ist ihnen, dass die Visegrad-Staaten stärker als andere auf sich selbst fixiert sind“, erklärt der Politologe.

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki mit dem ungarischen Staatschef Minister Viktor Orban
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Enge Partner: Ungarn (Regierungschef Viktor Orban, li.) und Polen (Premier Mateusz Morawiecki, re.)

Die stärkste Beziehung ist zwischen Polen und Ungarn zu erkennen. Doch auch sie sind sich nicht überall einig. Für Polen ist etwa eine gemeinsame Russland-Politik der EU sehr wichtig. Geht es nach Ungarn, soll die EU davon die Finger lassen. Janning: „Die starke bilaterale Beziehung basiert nicht auf einer kongruenten Agenda, sondern darauf, dass die beiden Staaten den anderen brauchen, um die eigene Position gegenüber der EU-Politik und der Rolle Brüssels zu positionieren.“

Tschechien und die Slowakei wiederum wollen die gemeinsame Zusammenarbeit zudem nicht als „Dauerveto-Koalition“ (Janning) verstanden wissen. Ein Teil der Kritik von Prag und Bratislava erkläre sich auch damit, dass man die Agenda von Polen und Ungarn in Bezug auf die Rolle Brüssels nicht einfach unterschreiben wolle, so der Experte.

Im „Herzen Europas“ dabei sein

Tschechien hätte hat laut den Daten des „EU Coalition Explorer“ großes Interesse an Deutschland, das aber nicht erwidert werde. Tschechien müsste hier mehr aufgefangen werden, so die Empfehlung des ECFR. „Wer aber Beziehungen etwa zu Prag hauptsächlich deswegen pflegt, um die Visegrad-Gruppe auseinanderzubringen, wird hier nicht weit kommen“, warnt Janning. Es gebe ein gutes Sensorium, ob Kontakte um ihrer selbst willen angegangen werden oder dem Zweck dienen, Ungarn und Polen in ihrer Vetoposition zu schwächen.

Anlässlich seines Besuchs in Tschechien und der Slowakei öffnete Macron Prag kürzlich bereits die Türe. Er gehe davon aus, dass Länder wie Tschechien im „Herzen Europas“ dabei sein wollen. Mit Blick auf die gesamte Visegrad-Gruppe sprach er aber zugleich eine Warnung aus: Kein Staat dürfe die Möglichkeit haben, diejenigen zu blockieren, die schneller vorangehen wollten. Ein Europa, das auf jeden warte, um gemeinsam Fortschritte zu erreichen, sei dazu verdammt, „auf der Stelle zu treten“.