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Ursula von der Leyen: Zu spät, zu wenig, zu unnahbar

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schafft es nicht, die EU in ihrer grössten Krise zusammenzuhalten. Ihr fehlt die Bürgernähe, das Unvollkommene.

Silke Mertins, Berlin 4 min
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Den Alleingängen der EU-Staaten in der Corona-Krise hat Ursula von der Leyen wenig entgegenzusetzen. (Brüssel, 21. Februar 2020)

Den Alleingängen der EU-Staaten in der Corona-Krise hat Ursula von der Leyen wenig entgegenzusetzen. (Brüssel, 21. Februar 2020)

Zhang Cheng / Xinhua / Keystone

Schon vor der Coronavirus-Pandemie hat sich Ursula von der Leyen neben ihrem Büro im 13. Stock des Berlaymont, dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel, eine Übernachtungsmöglichkeit einrichten lassen. Die Kommissionspräsidentin pendelt nur noch zwischen Schlafplatz und Schreibtisch.

Vielleicht ist es die Kombination aus Selbstisolation und Überarbeitung, die dazu geführt hat, dass so befremdliche Videos wie das vom 22. März entstanden sind. Während in Italien die Zahl der Toten schon so hoch ist, dass die Leichen von Militärfahrzeugen abtransportiert werden müssen, und viele EU-Länder im Alleingang innereuropäische Grenzen schliessen, verbreitet von der Leyen per Twitter, wie man sich die Hände wäscht und dabei die Europahymne summt.

Aneinanderreihung von Banalitäten

Das 50-Sekunden-Tutorial ist Teil einer Kampagne der Weltgesundheitsorganisation, wirkt aber dennoch bizarr, weil sonst kaum etwas durchdringt aus Brüssel in dieser grössten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Kommission reagiert spät, langsam, unbeholfen. Von der Leyen hat der Renationalisierung der politischen Entscheidungen in Europa kaum etwas entgegenzusetzen. Bis heute wirken die Botschaften der 61-Jährigen wie eine Aneinanderreihung von Banalitäten, die einfach nicht gut ankommen wollen beim EU-Bürger.

Zu Beginn der Pandemie ist die Kommissionschefin lediglich damit aufgefallen, die ohnehin schwer angeschlagenen Italiener zu brüskieren. Die Forderung Roms und anderer Staaten Südeuropas nach «Corona-Bonds», also einer gemeinsamen Schuldenaufnahme der Euro-Länder, nannte sie «nur einen Slogan» und rief damit einen Proteststurm in Italien und grosses Befremden beim EU-Parlaments-Präsidenten David Sassoli hervor.

Am Ende musste sich von der Leyen entschuldigen. Völlig unangemessen sei auch ein Tweet gewesen, alle seien nun Italiener. «Es ging ja gerade darum zu erkennen, dass die Situation in Italien schlimmer ist als anderswo», so Sarah Bressan vom Global Public Policy Institute in Berlin. «Von der Leyen hat zu spät gesehen, dass die Situation in Italien eskaliert und europäische Solidarität gefragt ist.»

Sie ackert

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Gesundheit, Seuchenbekämpfung und Grenzen in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fallen und Brüssel dabei kein Mitspracherecht zusteht. Daran gemessen, ist durchaus einiges passiert.

Von der Leyen hat eine gemeinsame Beschaffung von medizinischem Bedarf auf den Weg gebracht, die Schuldenregelung wurde gelockert, ein Marshall-Plan und eine Aufstockung des EU-Haushalts in Aussicht gestellt sowie ein europäisches Kurzarbeitergeld durchgesetzt.

«Es soll zwar nur für die Krise gelten, könnte aber die Tür zu einem vorsichtigen Einstieg in eine europäische Sozialpolitik geöffnet haben», sagt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Der Europa-Experte hat Verständnis für von der Leyens Kommunikationsprobleme.

«Eine Ansprache der Kommissionspräsidentin ist im Vergleich zu der medienwirksam inszenierten Ankunft eines chinesischen Flugzeugs, aus dem Ärzte aussteigen, natürlich nicht so der Knaller», sagt er. Und finanzielle Hilfen von der EU würden oft als selbstverständlich angesehen.

Dabei ist das Corona-Rettungspaket, das die Finanzminister der Euro-Zone knapp vor den Osterfeiertagen beschlossen haben, gigantisch. Neben den 100 Milliarden Euro für die Kurzarbeit gehören auch Kreditzusagen des Euro-Rettungsfonds ESM von bis zu 240 Milliarden Euro dazu sowie Darlehen der Europäischen Investitionsbank für Unternehmen von bis zu 200 Milliarden.

Aber lässt dies die Kommissionspräsidentin besser aussehen? Gerade hat von der Leyen die Mitgliedsstaaten in einer Videobotschaft noch einmal ermahnt, medizinische Ausrüstung nicht zu horten oder mit einem Exportstopp zu belegen. Doch ihre mangelnde Autorität kann auch der makellose Auftritt in drei Sprachen nicht überspielen.

Gegenteil von Merkel

Man wundert sich, dass die Kommissionschefin oder ihr Team nicht auf so simple Massnahmen wie die Veröffentlichung von gesamteuropäischen Coronavirus-Zahlen in Echtzeit kommen. Wie soll ein gemeinsames Gefühl der Betroffenheit entstehen, wenn Infizierte, Tote und Geheilte in der Union fast ausschliesslich pro Mitgliedsland betrachtet werden?

Von der Leyen ist in vieler Hinsicht das Gegenteil der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, deren Kabinett sie 14 Jahre lang angehörte. Sie spricht druckreife Sätze und wirkt stets makellos gekleidet und frisiert. Die ausgebildete Medizinerin ist in Brüssel geboren und mehrsprachig aufgewachsen, entstammt einer christdemokratischen Politikerfamilie und hat sieben Kinder grossgezogen. Ein perfekter Lebenslauf für eine Spitzenposition, vielleicht zu perfekt. Ihr fehlt das Unvollkommene, das Politiker nahbar macht. Während Merkel authentisch wirkt und in Krisen zur Höchstform aufläuft, wirkt von der Leyen blass und glatt.

Bürgernähe sei nie ihre Stärke gewesen, sagt Jana Puglierin, Europaexpertin des European Council of Foreign Relations in Berlin, über von der Leyen. «Das Menscheln liegt ihr nicht, sie ist auch als Verteidigungsministerin mit der Truppe nie richtig warmgeworden.»

Ihre Fragen und ihr Interesse wirkten immer einstudiert. Ausserdem komme die Coronavirus-Krise zu früh für sie. Von der Leyen sei noch zu frisch im Amt und habe es noch nicht geschafft, in Brüssel Allianzen zu schmieden und sich mit einem eigenen Projekt zu profilieren.

Stunde der Bewährung

Ein solches Projekt sollte der «Green Deal» werden – die Antwort der Kommissionspräsidentin auf den Klimawandel, der noch vor wenigen Monaten als die grösste Herausforderung aller Zeiten galt. Doch ob der massive Umbau nun, angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise, noch finanziert werden kann, ist völlig offen.

Die Pandemie und ihre Auswirkungen sind so gross, dass von der Leyens Erfolg als Kommissionschefin davon abhängen wird, wie sie sich als Krisenmanagerin bewährt. Den Zusammenhalt der EU müsste sie sichern, der Erosion und Fragmentierung entgegenwirken. Immerhin kann von der Leyen auf ein erhebliches Mass an Erfahrung zurückgreifen. Als Verteidigungsministerin hat sie eine Vielzahl von Pleiten und Skandalen einfach ausgesessen.

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