Weltpolitik am Ende des Jahres 2019: Trump reist nach Osten, Putin schaut nach Westen, und Johnson macht eine schlechte Figur

Der amerikanische Präsident Donald Trump reist am Dienstag nach Grossbritannien an einen Nato-Gipfel. Boris Johnson dürfte dies mit Blick auf seinen bevorstehenden Wahlkampf kaum helfen, denn Trump ist im Ausland unbeliebt wie nie. Und die Nato darbt ohnehin. Die Welt bleibt unübersichtlich.

Niall Ferguson
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Dienstag ist der Tag, an dem für Boris Johnson alles schiefgehen kann. Es ist schlimm genug, dass er laut den Meinungsumfragen auf dem Weg ist, bei der Wahl in Grossbritannien am 12. Dezember die meisten Stimmen zu gewinnen: Denn das allein sorgt dafür, dass ich auf ein Parlament ohne eine Parteienmehrheit wetten möchte. Doch noch schlimmer ist für Johnson, dass Donald Trump am Dienstag in London ankommen wird.

Zu behaupten, Trump sei im Vereinigten Königreich unbeliebt, wäre eine Untertreibung. In diesem Jahr zeigte eine Umfrage von YouGov, dass zwei Drittel der Briten von Trump eine negative Meinung hatten – bei seinem Vorgänger Barack Obama waren es nur 11 Prozent.

Donald Trump erfreut sich im Vereinigten Königreich keiner besonderer Beliebtheit: Aufnahme von einem Protest in London, Juni 2019.

Donald Trump erfreut sich im Vereinigten Königreich keiner besonderer Beliebtheit: Aufnahme von einem Protest in London, Juni 2019.

Clodagh Kilcoyne / Reuters

Und dieser unbeliebte Trump äusserte sich zum britischen Premierminister jüngst in Nigel Farages Radioshow an Halloween, indem er Johnson einen «phantastischen Mann» nannte. Er fügte hinzu, dass der Labour-Chef Jeremy Corbyn, sollte er Premierminister werden, das Land «zu solch üblen Orten» machen würde. Dann sagte Trump, «unter gewissen Aspekten» von Johnsons Brexit-Abkommen «können wir mit dem Vereinigten Königreich kein Handelsabkommen schliessen».

Nato und Fake-News

Während Corbyn selber angeschlagen ist, kann er nur darauf hoffen, dass Trump mehr vom gleichen Stoff liefert. In Corbyns Träumen stärkt Trump Johnson nicht nur den Rücken, sondern schlägt als Teil des Handelsabkommens US-UK (ausgesprochen «You suck»: «Du nervst») auch die Privatisierung des britischen Gesundheitsdienstes NHS vor.

Trump ist allerdings nicht in London, um Corbyns Wahlkampf zu retten – er nimmt an einer Nato-Konferenz teil. Während Trump in Britannien nur unbeliebt ist, so wird er auf dem Kontinent definitiv verabscheut. Die grosse Mehrheit der Deutschen hatte Vertrauen zu Obama; laut Pew Research sind es nur 10 Prozent, die das gegenüber Trump empfinden. In Frankreich und Spanien sind die Umfragewerte noch schlechter.

In einer im September veröffentlichten Umfrage stellte die Denkfabrik European Council on Foreign Relations folgende Frage: «Auf welche Seite sollte sich Ihr Land bei einer Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland stellen?» In allen einbezogenen Nato-Ländern mit Ausnahme von Polen sprach sich die Mehrheit – mit einer Spanne von 53 Prozent der Dänen bis hin zu 81 Prozent der Griechen – für Neutralität aus. Seit Trump im Wahlkampf zur nächsten Präsidentschaft ist, hat er wiederholt die Zukunft des atlantischen Bündnisses in Zweifel gezogen.

Letzte Woche titelte CNN, als wolle man von dort aus Öl ins Feuer giessen: «Trump-Administration will ihren Nato-Beitrag kürzen». Das waren, um es in Trumps Worten zu sagen, Fake-News. In Wahrheit hatte man zwischen Nato-Mitgliedern ausgehandelt, dass Amerika seinen Beitrag zum kleinen (2,5 Milliarden Dollar) Zentralhaushalt der Nato verringert und der Beitrag der Europäer und speziell Deutschlands erhöht wird.

Das ist eine Beruhigungspille für Trump, dessen Ärger über die Nato in der jahrzehntealten und vollkommen berechtigten amerikanischen Klage begründet ist, dass die Europäer ihren angemessenen Anteil an den Verteidigungsausgaben ihres Kontinents nicht bezahlen. Tatsache ist: Trotz wiederholten Protesten der USA geben nur sechs europäische Nato-Mitglieder (darunter das Vereinigte Königreich) mehr als 2 Prozent des BIP für Verteidigung aus, während die USA etwas mehr als 3,4 Prozent aufwenden.

Die zweite Amtszeit

Im letzten Monat gab Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dem «Economist» ein Interview, in dem er der Nato den «Hirntod» bescheinigte. Auf die Frage nach seiner Ansicht zum Artikel 5 des Nordatlantikpakts, der die Mitglieder verpflichtet, den Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle Mitglieder zu betrachten, entgegnete Macron: «Ich weiss nicht, aber was wird Artikel 5 morgen (am Montag) bedeuten? Wird [Trump] bereit sein, zu Solidarität aufzurufen? Wenn an unseren Grenzen etwas passiert?»

Wenn diese Frage nicht bald auf die eine oder andere Weise beantwortet wird, dürfte sie, falls Trump am 3. November 2020 als Präsident wiedergewählt werden sollte, sehr wahrscheinlich innerhalb der nächsten vier Jahre beantwortet werden. Zweite Amtsperioden sind selten erfolgreich. Nachdem Ronald Reagan wiedergewählt worden war, sagte ein Chefberater zur «New York Times», dass dessen Regierungserklärung von 1984 den Fahrplan für die Politik seiner zweiten Amtszeit wiedergebe. «Was man gesehen hat, ist ziemlich genau das, was man sehen wird», erklärte der Chefberater. Bill Clinton, George W. Bush und Obama folgten alle dem Drehbuch Reagans. Bei den meisten verlief die zweite Amtszeit relativ wenig erfolgreich; in der Innenpolitik erreichten sie wenig, und sie konzentrierten sich auf die Aussenpolitik.

Clinton intervenierte in Kosovo, erweiterte die Nato und versuchte, im Nahen Osten einen Frieden auszuhandeln; Bush befahl die Truppenaufstockung im Irak; Obama handelte den Nuklearvertrag mit Iran und das Pariser Klimaabkommen aus.

Trump könnte neue steuerliche Anreize anstreben, wenn die US-Wirtschaft weiter nachlässt oder in eine Rezession abgleitet. Wenn aber die Demokraten im Repräsentantenhaus die Oberhand behalten, was als wahrscheinlich gelten kann, ist schwer auszumachen, wie viel Gemeinsamkeiten gefunden werden könnten – besonders dann, wenn die Erinnerungen an ein gescheitertes Amtsenthebungsverfahren noch frisch sind. Reformen des Gesundheitswesens und der Einwanderung erscheinen als fern liegende Aussichten.

Für den Präsidenten wäre es deshalb – wie üblich – reizvoll, sich auf die Aussenpolitik zu konzentrieren. Dieser Gedanke lässt einem das Blut gefrieren, denn das würde – wie der frühere Berater für nationale Sicherheit John Bolton kürzlich anmerkte – auf das uneingeschränkte Motto «America first» hinauslaufen.

Während eines grossen Teils seiner ersten Amtszeit ist Trump durch Männer mit Erfahrung in Fragen nationaler Sicherheit in Schach gehalten worden. Dazu gehörten Bolton sowie der Aussenminister Mike Pompeo. Die anderen ehemaligen «Erwachsenen im Raum», Jim Mattis und H. R. McMaster, sind inzwischen meine Kollegen bei der Hoover Institution.

Der lachende Dritte: Putin

Falls Trump wiedergewählt wird, würde er seinen isolationistischen Instinkten und – was möglicherweise ebenso gefährlich wäre – seiner Neigung freien Lauf lassen, seine privaten Interessen mit denen der nationalen Sicherheit der USA zu verknüpfen. Falls jemand schockiert war wegen Trumps Druck auf den ukrainischen Präsidenten, um Schmutz gegen Joe Biden auszugraben, oder Boltons Verdacht teilt, dass Trumps nachsichtiger Umgang mit seinem türkischen Kollegen mit den Interessen von Trumps Organisationen in Istanbul zusammenhängt, sollte er sich darauf vorbereiten: Da ist wohl noch mehr und Schlimmeres zu erwarten.

Die Führer Russlands, der Türkei und Nordkoreas würden sich über einen Sieg Trumps sicherlich freuen. Nur China und möglicherweise Iran hätten vielleicht Grund zur Sorge, da die Animosität des Präsidenten gegenüber diesen Ländern in einer zweiten Amtszeit kaum kleiner werden dürfte.

Um einschätzen zu können, warum sich die Europäer deswegen Sorgen machen sollten, empfehle ich, das Interview mit Wladimir Putin in der «Financial Times» vom Juni nachzulesen. Auf die Frage, welchen Weltführer er am meisten bewundere, gab Putin die alarmierende Antwort: «Peter den Grossen».

Zu den Territorien, die Peter während seiner Regentschaft (1682–1725) aufgrund von Siegen über Polen und Schweden dem Russischen Reich einverleibte, gehörten Kiew (die Hauptstadt der Ukraine), Ingermanland (das Gebiet um St. Petersburg), Livland (die nördliche Hälfte des heutigen Litauen und die südliche Hälfte des heutigen Estland), Estland (der Rest des heutigen Estland) und ein Stück von Karelien (manchmal als «Altfinnland» bezeichnet).

Während ich das hier schreibe, bereitet Trump sich darauf vor, nach Osten zu fliegen, was Boris Johnson mit Beklemmung erfüllt. Wirkliche Sorgen sollten wir uns allerdings wegen der Bewegung Putins nach Westen machen.

Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay ist eine Kolumne, die Ferguson für die britische «Sunday Times» verfasst hat – sie erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken der «Sunday Times» für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.