Die potenziellen Terroristen

Die Zahl ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer wird dieses Jahr einen Rekordwert erreichen. Aber das Thema bewegt kaum: Flüchtlinge gelten heute als Sicherheitsproblem.

Dorothee Vögeli
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Die Zürcher Migrationskonferenz befasst sich mit der Flüchtlingsproblematik. (Bild: Francesca Agosta / Keystone)

Die Zürcher Migrationskonferenz befasst sich mit der Flüchtlingsproblematik. (Bild: Francesca Agosta / Keystone)

Im August 2015 geschah das, wovor die Uno schon lange gewarnt hatte: Hunderttausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak strömten auf der sogenannten Balkanroute nach Europa. Die Szenen von erschöpften Flüchtlingen am Bahnhof Keleti in Budapest, der Treck Zehntausender auf der Autobahn in Richtung Österreich waren auf allen Kanälen präsent. Zum Sinnbild für die Flüchtlingskrise avancierte die Foto eines ertrunkenen Knaben aus Syrien, der am Strand von Bodrum angeschwemmt worden war. Für einen Moment wurden Europa und auch die Schweiz von einer Solidaritätswelle erfasst. «Ein Ruck ging durch unsere Gesellschaft», sagte die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch an der diesjährigen Migrationskonferenz zum Thema Flüchtlingszuwanderung.

Gekommen waren doppelt so viele Interessierte wie sonst: Die Frage, ob überhaupt und wann genau Abwehrreflexe die Hilfsbereitschaft überdeckt haben, brennt gerade Integrationsfachleuten und freiwillig Engagierten unter den Nägeln. Eine verlässliche Antwort gibt es allerdings nicht. Je nach gesellschaftlichem Biotop, in dem sich der Einzelne bewegt, fällt die Antwort unterschiedlich aus, Studien zur öffentlichen Meinung fehlen gänzlich, wie Pierre Ruetschi, Chefredaktor der «Tribune de Genève», festhielt. Im Unterschied etwa zur NZZ-Journalistin Nina Fargahi, die im Auftrag der Stadt die innert einem Jahr spontan entstandenen zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen unter die Lupe genommen hat, zog Ruetschi ein pessimistisches Fazit: «Der Durchschnittsbürger ist ängstlicher geworden, die öffentliche Meinung gegenüber Flüchtlingen hat sich verhärtet», sagte er. Den Stimmungswandel initiierten aus seiner Sicht die Anschläge in Paris im November 2015: «Flüchtlinge galten plötzlich als potenzielle Terroristen, die Sicherheit wird seither viel höher gewichtet als die Humanität.» Als dann klarwurde, dass es hierzulande auch dieses Jahr keinen «Migrationssommer» geben würde – 2016 wird die Schweiz statt der erwarteten 150 000 nur rund 30 000 Asylbewerber aufnehmen –, sei das Thema Burka lanciert worden. «Es wirft ein zusätzliches negatives Licht auf die Migrationsfrage.» Gepaart mit den Ohnmachtsgefühlen, die angesichts der anhaltenden und auf europäischer Ebene ungelösten Flüchtlingsproblematik vorhanden sind, ist laut Ruetschi das Risiko für einfache Rezepte gross. Die Grenzen dicht zu machen, sei aber keine gute Lösung.

Im Unterschied zur Schweiz, in der die chaotischen Bilder aus den Nachbarländern nicht Realität geworden sind, setzte Deutschland bekanntlich auf eine neue Willkommenskultur und nahm 1,1 Millionen Asylbewerber auf. Obwohl die Behörden logistisch und administrativ überfordert waren, fällt die Bilanz von Piotr Buras, Journalist und Leiter des European Council on Foreign Relations in Warschau, positiv aus: «Die deutsche Gesellschaft und Politik haben sich in der Flüchtlingskrise insgesamt als erstaunlich stabil erwiesen», sagte er.

Das Erstarken der AfD ist seines Erachtens keine Katastrophe, sondern ein Zeichen der «neuen Normalität»; die Bundesrepublik könne sich ihre Rechtspopulisten leisten. Buras verglich den Durchbruch der AfD mit dem Aufstieg der linkspopulistischen Partei «Die Linke» zehn Jahre zuvor. Diese habe mit ihrer Kritik an der Globalisierung den Sozialdemokraten ihre Position als Vertreter der einfachen Leute streitig gemacht. Heute passiere das Gleiche im rechten Spektrum. Ein «Umpflügen» des deutschen Parteiensystems durch die AfD erachtet Buras alleweil besser als einen «populistischen Schwenk» der Mainstream-Parteien. Ein solcher sei in sehr vielen europäischen Ländern bereits vollzogen.