Gastkommentar

Deutsche Einsamkeit

Mit so viel Aussenpolitik sah sich Deutschland selten konfrontiert. Die Regierung Merkel ist gewillt, in der EU zu führen – doch beim wichtigsten Thema, den Flüchtlingen, fehlt die Gefolgschaft.

Thomas Paulsen
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Der eigentliche Lackmustest für die neue Rolle Deutschlands ist die Flüchtlingskrise (Bild: Afghanische Flüchtlinge in Giessen, September 2015). (Bild: Kai Pfaffenbach / Reuters)

Der eigentliche Lackmustest für die neue Rolle Deutschlands ist die Flüchtlingskrise (Bild: Afghanische Flüchtlinge in Giessen, September 2015). (Bild: Kai Pfaffenbach / Reuters)

Der Dreiklang war beeindruckend: 2014 riefen der deutsche Bundespräsident, der deutsche Aussenminister und die deutsche Verteidigungsministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu mehr deutschem Engagement in der internationalen Politik auf. Nur zwei Jahre später sind die politischen, diplomatischen und militärischen Kräfte der führenden Macht in der Mitte Europas bis aufs Äusserste angespannt. Die Krisen und Konflikte in der östlichen und südlichen Nachbarschaft fordern Deutschland an allen Ecken und Enden. So viel Aussenpolitik war nie.

Dabei kann sich Berlin der Unterstützung der deutschen Öffentlichkeit keineswegs sicher sein, wie jüngste Umfragen der Körber-Stiftung zur Sicht der Deutschen auf die Aussenpolitik zeigen. Trotz allen Kampagnen und Appellen lehnt eine stabile Mehrheit ein grösseres Engagement in internationalen Krisen nach wie vor ab. Besonders unpopulär ist alles Militärische, ob Auslandeinsätze der Bundeswehr oder Waffenlieferungen. Allerdings befürwortet eine breite Mehrheit den Einsatz deutscher Soldaten bei einer Bedrohung von Frieden und Sicherheit in Europa, für humanitäre Zwecke, zur Verhinderung eines Völkermords oder der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, bei der Beteiligung an Friedenseinsätzen oder bei einer direkten Bedrohung von Verbündeten.

Das Meinungsbild der Bevölkerung ist also ziemlich widersprüchlich. Die Politik hat daher einen recht grossen Spielraum bei der konkreten Ausgestaltung der Aussen- und Sicherheitspolitik. Das hat sich nicht nur in Afghanistan gezeigt: Obwohl fast durchweg die Mehrheit der Deutschen diesen Einsatz nicht unterstützte, ist die Bundeswehr schon über zehn Jahre am Hindukusch, hat dort nicht nur Brücken und Schulen gebaut, sondern Aufständische bekämpft und selbst erhebliche Opfer gebracht. Auch viele andere Auslandeinsätze haben mit Tabus gebrochen und waren entsprechend umstritten, sei es der Nato-Kampfeinsatz auf dem Balkan ohne Mandat des Uno-Sicherheitsrates oder jüngst die Bewaffnung und Ausbildung der Peschmerga im Kampf gegen den Islamischen Staat.

Natürlich wird Deutschland immer eine grössere Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Instrumente an den Tag legen als andere. Und natürlich werden die Deutschen immer fremdeln, wenn es um Begriffe wie Grossmacht, Führungsmacht oder gar Hegemon geht. Dazu ist die deutsche Geschichte einfach zu wirkungsmächtig. Aber mit den Begriffen Handelsmacht oder Zivilmacht kann man Deutschlands europäische und internationale Rolle mittlerweile auch nicht mehr treffend beschreiben. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Berliner Republik in der aussenpolitischen Normalität angekommen. Der Think-Tank European Council on Foreign Relations sieht in seinem jährlichen Ranking Deutschland schon heute als führende aussenpolitische Macht in der EU, noch vor Frankreich und Grossbritannien.

Der eigentliche Lackmustest für die neue Rolle Deutschlands ist aber die Flüchtlingskrise. Sie hat nicht nur innenpolitisch, sondern auch aussenpolitisch erhebliche Sprengkraft. Denn es gibt wenig Anzeichen dafür, dass die internationale Staatengemeinschaft, geschweige denn Deutschland, in der Lage oder willens wäre, den Kämpfen im Irak und in Syrien Einhalt zu gebieten. Und es gibt ebenso wenig Anzeichen dafür, dass die EU sich in nächster Zeit auf eine gemeinsame Linie bei der Flüchtlingspolitik einigt.

Die Deutschen plädieren mehrheitlich dafür, stärkeren Druck auf die europäischen Partner auszuüben, damit diese mehr Flüchtlinge aufnehmen. Es zeigt sich aber: Während Berlin bei der Euro-Schuldenkrise aufgrund seiner Finanzstärke den Kurs vorgeben konnte, ist dies bei der Flüchtlingskrise mitnichten der Fall. Die vereinbarte Zahl von 160 000 Flüchtlingen, die auf die Mitgliedstaaten verteilt werden sollen, ist auch aus diesem Grund Makulatur geblieben.

Für die Deutschen ist die Flüchtlingskrise heute das bei weitem wichtigste Thema deutscher Aussenpolitik. Wenn die Menschen aber den Eindruck gewinnen, dass die Politik an den Dingen nichts zu ändern vermag, dann entsteht ein Nährboden für politische Polarisierung und Populismus. Deutschland hat der populistischen Versuchung in Europa bisher besser widerstanden als manch anderer EU-Mitgliedstaat. Das mag mit der guten Verfassung der deutschen Wirtschaft zu tun haben. Aber es ist auch ein Zeichen der Stärke einer über Jahrzehnte gereiften politischen Kultur in Deutschland, die sich durch Mitte und Mässigung auszeichnet.

Ein Deutschland, in dem das politische Klima im Zuge der Flüchtlingsfrage kippte, wäre fatal für Europa und hätte weitreichende Konsequenzen auch für die Handlungsfähigkeit deutscher Aussenpolitik. Denn nur durch seine politische Kultur der Mitte und Mässigung war und ist Deutschlands Einfluss in Europa für seine Partner akzeptabel. Und genauso fatal wäre es, wenn Deutschland mit seiner liberalen Flüchtlingspolitik auf Dauer alleine dastünde. Denn ein Blick in die europäische Geschichte zeigt: Deutsche Einsamkeit war noch nie gut für Europa.

Thomas Paulsen, Jahrgang 1968, ist Vorstand der Hamburger Körber-Stiftung und verantwortet dort den Bereich Internationale Politik.