Erdogan schafft IS-Kämpfer in ihre europäischen Herkunftsländer aus – und streut damit Salz in eine offene Wunde

Allzu lange hat man sich in Europa vor dem Problem der IS-Rückkehrer gedrückt. Nun schafft die Türkei Tatsachen und schiebt Extremisten in ihre europäischen Heimatländer ab. Die sind dafür schlecht gewappnet.

Daniel Steinvorth, Brüssel
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Gefangene IS-Kämpfer beim Gebet in einer Gefängniszelle in Hasaka. Die Stadt in Nordsyrien wird noch immer von den Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF) gehalten.

Gefangene IS-Kämpfer beim Gebet in einer Gefängniszelle in Hasaka. Die Stadt in Nordsyrien wird noch immer von den Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF) gehalten.

Fadel Senna / AFP

Es war kurz vor seinem Abflug in die USA, als der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Dienstag tat, was er im Umgang mit den Europäern seit Jahren am liebsten tut: Er drohte. Europa könne sich angesichts geplanter Sanktionen gegen die Türkei bald auf noch mehr Anhänger der Terrororganisation IS gefasst machen, sagte Erdogan. Sein Land habe auch schon begonnen, westliche IS-Angehörige in ihre Heimatstaaten auszuschaffen: «Ihr mögt das auf die leichte Schulter nehmen. Aber diese Türen können sich öffnen.»

Erst syrische Flüchtlinge, nun radikale Jihadisten? Wann immer es jüngst im Verhältnis zwischen Ankara und Brüssel kriselte, sprach der türkische Präsident gerne davon, seine Landesgrenzen für Millionen von ausreisewilligen Flüchtlingen und Migranten zu öffnen. Weil sich die EU-Aussenminister bei ihrem Treffen am Montag von derlei Szenarien unbeeindruckt zeigten und im Streit um türkische Erdgasbohrungen im Mittelmeer den Weg für Wirtschaftssanktionen frei machten, holte Erdogan gleich die ganz grosse Keule heraus: Die EU solle doch besser ihre Haltung gegenüber einem Land überdenken, das die Kontrolle über zahlreiche gefangene IS-Mitglieder in der Türkei und in Syrien habe.

Ein verschlepptes Problem

Bei dem Gasstreit hatte die Türkei auf mehrfache Warnungen der EU nicht reagiert und ihre Bohrungen in Zyperns Hoheitsgewässern fortgesetzt. So beschlossen die Aussenminister in Brüssel einen rechtlichen Rahmen für Sanktionen, die türkische Personen, Unternehmen und Institutionen bald empfindlich treffen könnten – ein Affront für Erdogan. Doch wie schwer wiegt die Retourkutsche, es den Europäern mit der Rückführung mutmasslicher Terroristen heimzuzahlen? Man könne dem türkischen Präsidenten auch dafür danken, die Mitgliedstaaten an ihr verschlepptes Problem mit den IS-Rückkehrern erinnert zu haben, hiess es dazu am Mittwoch aus Brüssel.

Das Problem ist schliesslich keineswegs neu: Schon der amerikanische Präsident Donald Trump hatte die europäischen Regierungen im Februar aufgerufen, ihre Staatsbürger zurückzuholen, und gedroht, sie anderenfalls selber auf freien Fuss zu setzen. Und auch die Kurden in Nordsyrien hatten die Europäer immer wieder aufgefordert, ihrer Verantwortung nachzukommen. Dass die Kurden und ihre Allianz der Syrisch-Demokratischen Kräfte schon vor der türkischen Invasion in Nordsyrien im Oktober kaum noch Kapazitäten für die Bewachung und Versorgung von IS-Kämpfern gehabt hätten, sei europäischen Diplomaten auch durchaus bewusst gewesen, heisst es dazu in einem aktuellen Bericht des Think-Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR).

Ein Soldat der Syrisch-Demokratischen Kräfte vor einem Monitor in einem Gefängnis für IS-Angehörige in Hasaka in Nordostsyrien.

Ein Soldat der Syrisch-Demokratischen Kräfte vor einem Monitor in einem Gefängnis für IS-Angehörige in Hasaka in Nordostsyrien.

Fadel Senna / AFP

Dennoch schauten die europäischen Regierungen weg oder hofften, das Problem aussitzen zu können. Aus Sorge über mögliche Anschläge der IS-Rückkehrer, über die Wirksamkeit von Überwachung, Strafverfolgung und Deradikalisierungsprogrammen und nicht zuletzt mit Blick auf die öffentliche Meinung, wie der ECFR-Bericht herausstreicht. Wenig überraschend lehnen in den meisten EU-Staaten die Bevölkerungen eine Heimkehr von IS-Angehörigen entschieden ab. Laut einer Umfrage aus Frankreich vom Februar zeigten sich 89 Prozent der Befragten «sehr beunruhigt» über die Rückkehr französischer Jihadisten. 67 Prozent wünschten sich sogar, dass selbst die Kinder aus Jihadistenfamilien im Irak und in Syrien bleiben sollten.

Schlecht bewachte Jihadisten

In Deutschland warnte der Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, erst vergangene Woche bei einer Anhörung im Bundestag vor einer erhöhten Terrorgefahr. Kahls Sorge galt unter anderem den IS-Kämpfern, die sich im Zuge der Kämpfe in Nordsyrien befreien konnten. Laut Angaben der Türkei sollen zwar die meisten jener IS-Gefangenen, die das Chaos zur Flucht nutzten, wieder von türkischen Kräften gefangen genommen worden sein. Im Vergleich zum Regime unter den Kurden deutlich abgenommen, so Kahl, habe unter türkischer Kontrolle aber die «Intensität und Gründlichkeit», mit der die Männer in den Haftanstalten und die IS-Frauen mit ihren Kindern in den Lagern bewacht würden.

Zu den umstrittenen Massnahmen der Europäer, eine Rückkehr der IS-Angehörigen zu verhindern, gehört deren Ausbürgerung. Bereits mehreren britischen Männern und Frauen, die sich dem IS angeschlossen haben, hat Grossbritannien die Staatsbürgerschaft entzogen. Im April verabschiedete auch Deutschland ein Gesetz, das die Ausbürgerung deutscher IS-Kämpfer ermöglicht, wenn sie eine zweite Staatsbürgerschaft besitzen. Dänemark kündigte im Oktober ein ähnliches Gesetz an.

Doch viel Zeit bleibt den EU-Staaten nicht mehr: Für Donnerstag wird die Ausschaffung einer siebenköpfigen Familie aus der Türkei nach Deutschland erwartet, die nach Informationen deutscher Sicherheitsbehörden dem salafistischen Milieu zugerechnet wird. Und für Freitag kündigte die Türkei an, zwei deutsche IS-Frauen mit Migrationshintergrund auszuschaffen, die aus dem syrischen Gefangenenlager Ain Issa geflohen waren. Sein Land sei eben «kein Hotel» und «keine Gaststätte» für IS-Anhänger aus anderen Ländern, erklärte der türkische Innenminister Süleyman Soylu am Mittwoch.

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