Eine bescheidene deutsche Weltmeisterin

Mit sechzig steht Kanzlerin Merkel auf dem Gipfel. Innenpolitisch ist sie unangefochten, aussenpolitisch gilt sie als «mächtigste Frau der Welt». Der ganz grosse Wurf aber ist ihr versagt geblieben.

Ulrich Schmid, Berlin
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Angela Merkel regiert in Berlin unangefochten, aber sie macht um ihren Erfolg kein Aufhebens. (Bild: Keystone / ap)

Angela Merkel regiert in Berlin unangefochten, aber sie macht um ihren Erfolg kein Aufhebens. (Bild: Keystone / ap)

Deutschland ist die Politik abhandengekommen. Stiller Konsens hinter den Kulissen prägt das Wirken der grossen Koalition, die schwarz-gelben Dauerzwiste sind Geschichte, sogar bei der Maut bleibt die SPD manierlich. Was im Koalitionsvertrag steht, wird verwirklicht, der letzte parlamentarische Widerstand wird von der mächtigen Mitte erdrückt, die Opposition ist kaum noch zu hören. Froh ist man in solcher Lage um Weltmeisterschaften, froh auch, dass Kanzlerin Merkel sechzig wird, denn jetzt kann das politische Feuilleton tun, was es am liebsten tut: erwägen.

Mit Zähigkeit zum Ziel

Erwogen wird vor allem die Frage, ob die Kanzlerin in der Mitte oder gegen Ende dieser Legislatur freiwillig aus dem Amt scheidet. Pünktlich zu ihrem Geburtstag am Donnerstag hat der «Spiegel» herausgefunden, dass Merkel frühzeitig gehen will. Das mag so sein oder auch nicht. Momentan würde es eher überraschen, denn noch nie scheint sich die Kanzlerin so wohl gefühlt zu haben wie in diesem, dem neunten Jahr ihrer Kanzlerschaft. Vieles ist von ihr abgefallen. Die schweren Jahre der ersten grossen Koalition sind vorbei, die Mésalliance mit der FDP ist überstanden. Die Energiewende wird im Volk angenommen, ebenso die nicht weiter belegte Behauptung, die Euro-Krise sei überwunden.

Der deutschen Wirtschaft geht es gut, die Sozialdemokraten sind Juniorpartner, und die CDU weiss, dass sie ohne Merkel verloren ist. Früher als Kohl hat sich Merkel an die Spitze globaler Wahrnehmung katapultiert, sie ist die «mächtigste Frau der Welt». Und nun ist Deutschland auch noch Weltmeister geworden, bejubelt von einer Kanzlerin, die verschwitzte Sieger mag, Schweinsteiger ganz besonders.

Warum ist sie populär? Die Antworten erhellen den deutschen Volkscharakter. Weil sie bescheiden ist. Weil sie uneitel ist, sich nicht zelebriert, weil sie darauf verzichtet, Rivalen, deren Ambitionen sie geknickt hat, auch noch zu demütigen. Weil sie wie Millionen ihrer Landsleute Fussballfan ist. Weil sie in der ganzen Welt respektiert wird, weil sogar Putin ihr zuhört und weil sie eine simple, oft etwas verquere Sprache spricht, die man aber mag. Weil man ihr Durchhaltevermögen bewundert, ihre unzähligen Nachtschichten in Berlin und Brüssel, und weil man, wenn sie plötzlich ihr mädchenhaftes Lächeln lächelt, den Eindruck hat, hinter der Politikerin verberge sich ein sehr, sehr freundlicher Mensch. Man mag ihren putzigen Humor und die trotzige Unbedingtheit, mit der sie und ihr Gatte, der Quantenchemiker Joachim Sauer, ihre Privatsphäre schützen. Merkel liegt quer in der Medienwelt, und sie führt sie gleichzeitig vor – das macht ihr so schnell keiner nach. Sie vermittelt das Gefühl, nicht für sich und ihren Nachruhm, sondern für die Nation da zu sein, zu dienen. «Mutti» nennt man sie.

Königin der Pirouetten

Anders als die Herren Kohl, Schmidt und Schröder entwirft Merkel Strategien, die nichts vorgeben, sondern sich der Lage anpassen. Flexibilität ist ihr Credo. Das bringt oft befriedigende, manchmal auch drollige Resultate. Im Wahlkampf 2005 hatte sie für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozent plädiert, die SPD war dagegen Sturm gelaufen, schliesslich einigte man sich auf eine Erhöhung von drei Prozent. In der Euro-Krise besteht die Kanzlerin auf einem Sparkurs, aber gleichzeitig will sie alle Länder in der Euro-Zone halten, auch fiskalische Tunichtgute. Die Energiewende verfügte sie, nachdem sie eben die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert hatte. Heute, in ihrer zweiten grossen Koalition, bekennt sie sich zum Mindestlohn, zur Rente ab 63 und zur PKW-Maut – ausnahmslos zu Vorhaben also, die sie einst abgelehnt hatte. Das Rückgrat ist nicht Merkels kräftigster Körperteil.

Dass eine Politikerin erfolgreich sein kann, die weder mit Präsenz noch mit Rhetorik, Stringenz oder Visionen brilliert, hat eine ganze Nation und vor allem deren politische Analytiker verblüfft. Lange hatte man in Merkels konzeptionslosem Vorantasten den Grund für ihren rasch nahenden Fall gesehen. Nun sieht es so aus, als könnten noch ganze Politikergenerationen ihr Mäandrieren als «modernen» Politikstil auffassen und kopieren.

Was bleibt für die Nachwelt?

Ein glamouröses Fest wird es nicht geben, das versteht sich. Der Physikerin ist wieder, wie an ihrem Fünfzigsten, nach Reflexion zumute. Der Historiker Jürgen Osterhammel bedenkt «Vergangenheiten» und «Zeithorizonte der Geschichte», die Festgemeinde wird es erdulden müssen. Vielleicht reflektiert sie dabei ja darüber, dass Merkel zwar reüssiert, dass ihr aber der ganz grosse Wurf nicht gelingen will. «Fahren auf Sicht» hat eben seinen Preis. Etwas, was Schröders kühner Agenda 2010 gleichkäme, sucht man bei Merkel vergeblich, und es hat den Anschein, als werde das so bleiben. Denn der zweiten grossen Koalition, die sie anführt, fehlt jeder Ehrgeiz.

Man spart nicht, man schrumpft den Staat nicht, man entlastet die Bürger nicht. Stattdessen werden teure Geschenke verteilt, die die Sparbremse bedrohen. Der Politologe Josef Janning vom «European Council on Foreign Relations» spricht von der «Entzauberung des Mythos grosse Koalition»: Die Bürger erwarten, dass in Krisenzeiten eine extrabreite Allianz für einmal Partikulärinteressen beiseiteschiebt und zum Wohle des Landes endlich die ganz grossen Reformen anpackt. Und dann kommt gar nichts.

Geht sie vorzeitig? Das Werweissen ist eitel. Denn warum sollte die Kanzlerin die Frage des Rücktritts anders behandeln als politische Herausforderungen? Am wahrscheinlichsten ist, dass sie sich Zeit gibt und die Frage in anderthalb oder zwei Jahren endgültig entscheidet. Falls sie dann noch Lust verspürt, wird sie weitermachen. Der Abgang könnte ihr aber auch schwerfallen. Schon Kohl hat den richtigen Zeitpunkt verpasst und sich eingeredet, in Ermangelung eines validen, für die Wähler attraktiven Nachfolgers sei er unersetzlich und «könne» gar nicht aufhören. Auch die Kanzlerin hat stets darauf geachtet, Rivalen abzuschieben oder klein zu halten. Das könnte sich rächen: für Merkel, wenn sie im Amt ermattete, für die CDU, wenn sie ohne die grosse Moderatorin plötzlich als Partei ohne Idee, Überzeugung und grosse Persönlichkeit dastünde.

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