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01. Jan. 2020

Europas größte Herausforderung

Wenn sich die EU ihrer Machtmittel stärker bewusst wird und mit einer Stimme spricht, kann sie auch ihr Umfeld gestalten.

Mit seinem Begriff der „Weltpolitikfähigkeit“ hat der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker in nur einem Wort die dringlichste Aufgabe europäischer Außenpolitik beschrieben: Denn in einer Welt, in der die regelbasierte Ordnung mehr und mehr durch die Logik des Nullsummenspiels ersetzt wird, drohen die Europäer zum Spielball widerstreitender Großmächte zu werden, wenn sie es nicht schaffen, außenpolitisch geeinter und schlagkräftiger aufzutreten.



Die Rahmenbedingungen europäischer Außenpolitik haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt – und alte Gewissheiten haben sich als falsch herausgestellt. So basierten die Beziehungen der EU mit „strategischen Partnern“ wie China oder Russland in der Vergangenheit auf der Erwartung, dass wirtschaftliche Beziehungen und wechselseitige Abhängigkeiten zu einer Annäherung an das europäische Modell und zur Öffnung gen Westen führen würden. Stattdessen verwandelte sich China von der verlängerten Werkbank zum systemischen Rivalen, dessen expansive Außenpolitik darauf ausgerichtet ist, den chinesischen Einfluss weltweit auszubauen, begleitet von massiver militärischer Aufrüstung. Auch die „Modernisierungspartnerschaft“ zwischen der EU und Russland entwickelte sich nicht nach Plan: Die Annexion der Krim, die Destabilisierung der Ostukraine und die Militärintervention in Syrien haben gezeigt, dass der Kreml nicht die Annäherung an die EU, sondern das Wiedererstarken des russischen Einflussbereichs im Sinn hat. Gleichzeitig entfernt sich auch der EU-Beitrittskandidat Türkei mit Lichtgeschwindigkeit von den Kopenhagener Kriterien der Union – von der völkerrechtswidrigen Militäroffensive in Nordsyrien ganz zu schweigen.



Die EU muss heute anerkennen: „Strategische Partnerschaften“ führen weder automatisch zu Annäherung und Interessenkongruenz, noch können sie verhindern, dass Staaten zu Rivalen oder gar Gegnern werden. Und Interdependenz hat ihre Kehrseiten: Der Rückzug der Trump-Regierung aus dem Atomabkommen mit dem Iran und die Verhängung sogenannter „secondary sanctions“ gegen europäische Firmen mit Irangeschäft haben den Europäern aufgezeigt, dass sie keine eigenständige Iranpolitik betreiben können, wenn diese nicht im US-Interesse ist. Wirtschaftliche Netzwerke und grenzüberschreitende Finanz-, Informations- und Energieströme können sich eben auch in Waffen verwandeln und gegen die EU gerichtet werden.

Eine neue außenpolitische Strategie

Die Europäer müssen eine neue außenpolitische Strategie entwickeln, um auf diese Herausforderungen Antworten zu finden. Sie müssen ihre Macht besser ausspielen, ihre Interessen robuster verteidigen und widerstandsfähiger werden, damit die EU nicht selbst zu einem Anachronismus wird.



Dies gilt umso mehr, weil US-Präsident Donald Trump die Europäer die negativen Folgen ihrer Abhängigkeit nicht nur durch die Iransanktionen schmerzhaft spüren lässt. Trump ist auch der erste amerikanische Präsident, der die EU für ein gegen die Interessen der USA gerichtetes Projekt hält und sie offen als „Gegner“ („foe“) bezeichnet. In dem Maße, in dem Amerika sich aus der europäischen Peripherie zurückzieht und die EU sich nicht mehr auf ihren traditionellen Status als Verbündete verlassen kann, ist eine leistungsfähigere, aktivere und schlagkräftigere EU in den Bereichen Sicherheit, Handel und globale Diplomatie nicht länger „nice to have“, sondern eine Frage des eigenen Überlebens. Insbesondere können es sich die EU-Mitgliedstaaten nicht mehr länger leisten, sicherheitspolitisch bei den USA Trittbrett zu fahren und müssen mehr in ihre militärischen Fähigkeiten investieren. Das hat nichts mit einer „Militarisierung“ Europas zu tun – aber viel mit dem Willen zur Selbstbehauptung.



Das neue Führungsteam in Brüssel – allen voran die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell und der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel – wird sich daher mit einer ehrgeizigen außenpolitischen Agenda befassen müssen. Angesichts des begrenzten Einflusses, den selbst die größten europäischen Länder im Vergleich zu den USA oder China haben, ist die EU das einzige Instrument, durch das die europäischen Staaten in der Lage sind, ihre wichtigsten außenpolitischen Ziele voranzubringen.



Die neue „geopolitische“ Kommission von der Leyens will konsequenterweise den globalen Fußabdruck Europas in den Bereichen vergrößern, in denen die EU einen echten Wettbewerbsvorteil hat: Handel, Wettbewerb und Regulierung. Sie will dafür sorgen, dass die EU ihre Macht international gezielter und strategischer einsetzt, um Verbündete und Herausforderer auf EU-Linie zu bringen. Sie setzt dabei auf die Politikfelder, in denen die Kommission ein starkes Mandat hat und im Namen der EU-Mitgliedstaaten handeln kann.



Trotzdem hängt der Erfolg ihrer Mission ganz maßgeblich von der Unterstützung durch die Mitgliedstaaten ab – und die tun sich häufig schwer, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen. Dies liegt erstens an der inneren Verfasstheit der EU. Nach dem Finanzcrash von 2008 und der anschließenden Krise in der Eurozone, gefolgt von dem massiven Zustrom von Flüchtlingen und Migranten im Jahr 2015, sind die EU-Staaten in allen wesentlichen politischen Fragen tief gespalten. Es gibt wenig Übereinstimmung darüber, welche Ziele sie durch europäische Integration verfolgen wollen. Zudem erstarken in Europa überall jene Kräfte, die gegen die Abgabe von weiterer Souveränität sind.



Zweitens sind viele der Mitgliedstaaten durch nationale Herausforderungen gelähmt: Großbritannien durch den Brexit, Deutschland durch das Ende der Merkel-Ära, Spanien durch die nunmehr vierte Parlamentswahl in vier Jahren. Viel Energie für die Außenpolitik bleibt da nicht. Der einzige Staatschef, der sich dennoch mit Verve an der Formulierung einer europäischen Außenpolitik versucht, ist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Doch dessen Vorstöße treffen auf wenig Gegenliebe und spalten die EU außenpolitisch mehr als dass sie einen.



Denn, und das ist ein dritter Grund für die außenpolitische Kakophonie, den Mitgliedstaaten stellen sich die internationalen Herausforderungen eben nicht einheitlich dar. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu den USA, zu China und – der bislang bemerkenswerten Einigkeit in Sachen Sanktionen zum Trotz – auch zu Russland. Dies wird dadurch verstärkt, dass all diese Länder versuchen, die Beziehungen zu den EU-Staaten zu bilateralisieren. Insbesondere die USA und China sehen die Beziehungen zu Europa durch das Prisma ihrer Rivalität und üben Druck auf die einzelnen Mitgliedstaaten aus, sich zum Beispiel bei der 5G-Telekommunikationsinfrastruktur auf ihre Seite zu stellen.



Aus all diesen Gründen sind die Mitgliedstaaten häufig unwillig, ihre nationalen Interessen einem gemeinsamen europäischen Interesse unterzuordnen und die notwendigen Kompromisse zu schließen. Da EU-Außenpolitik auf Konsens beruht, ist die EU oft handlungsunfähig. Zwar bemühen sich die EU-Kommission und einige Mitgliedstaaten darum, künftig einige Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen zu können, aber dagegen gibt es viel Widerstand. Doch die außenpolitischen Herausforderungen können nicht warten, bis die Europäer ihre internen Streitigkeiten beigelegt haben.

Einigkeit versus Handlungsfähigkeit

In den kommenden Jahren werden die europäischen Staaten sich deshalb noch häufiger als bislang entscheiden müssen, was für sie wichtiger ist: die Einheit der EU oder deren außenpolitische Handlungsfähigkeit. Letztere wird in vielen Fällen nicht mit allen 28 Mitgliedstaaten zu erreichen sein. Stattdessen wird sich der Trend von Koalitionen der Willigen aus Staaten, die innerhalb und außerhalb des EU-Rahmens außenpolitisch gemeinsam agieren, verstärken – schon allein durch den anstehenden Brexit. Der erfolgversprechendste Weg, europäische Außenpolitik nach vorne zu denken, besteht daher darin, nach Wegen zu suchen, wie diese Koalitionen den Zusammenhalt der EU nicht untergraben, sondern sie durch konkrete Ergebnisse stärken und ihre Glaubwürdigkeit als außenpolitischer Akteur erhöhen.



Eine gute Arbeitsmethode wäre es beispielsweise, außenpolitische Ziele und Strategien im Europäischen Rat zu diskutieren und dann eine Koalition von willigen und fähigen Mitgliedstaaten mit der Umsetzung zu beauftragen. Allerdings müsste Charles Michel dafür sorgen, dass sich der Rat stärker als bislang überhaupt mit außenpolitischen Fragen befasst. Die EU könnte auch spezielle „Pakete“ aus Ressourcen und Instrumenten anbieten, um das Engagement der Mitgliedstaaten zu unterstützen. Eine Idee wäre es, analog zum Europäischen Verteidigungsfonds neue Finanzinstrumente für außenpolitische Aktivitäten zu schaffen, die Anreize zur Zusammenarbeit verschiedener Akteure bieten könnten. Um die Legitimität der jeweiligen Ad-hoc-Koalition zu erhöhen, sollten die willigen Mitgliedstaaten darüber hinaus versuchen, wenn möglich auch einen Vertreter der EU-Institutionen einzubinden und die Initiative dadurch zu europäisieren. Nach dem Brexit sollte es zudem attraktive Andockmöglichkeiten für das Vereinigte Königreich geben, auf dessen außen- und sicherheitspolitische Ressourcen die EU nicht verzichten kann.



So herausfordernd das Wiedererstarken der Großmachtpolitik für die EU auch ist, so sehr sind die Europäer weiterhin ein attraktiver Partner für Gleichgesinnte wie Japan, Australien oder Kanada, die das multilaterale System aufrechterhalten wollen und eine berechenbare Zusammenarbeit suchen. Wenn die EU sich ihrer Machtmittel stärker bewusst wird und diese strategischer einsetzt, kann sie auch ihr Umfeld gestalten. Weiterhin Subjekt und nicht Objekt der Weltpolitik zu sein, wird den Europäern aber nur dann gelingen, wenn sie stärker an einem Strang ziehen – sei es auf Ebene der Mitgliedstaaten oder im Rahmen der Brüsseler Institutionen. Anders gesagt: Die größte Herausforderung, mit der die Europäer derzeit konfrontiert sind, sind sie selbst. 

 

Dr. Jana Puglierin ist Leiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen bei der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 28-31

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