Altbausanierung

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Die Europäische Union wird über die nächsten Jahre mit etwas beschäftigt sein, was man die Altbausanierung Europas nennen könnte.

Dieses Projekt entspringt der Notwendigkeit, in Euroland den Rubikon der Nationalstaatlichkeit zu überschreiten und sich, beginnend mit einer Bankenunion, in Richtung eines fiskalischen und politischen Föderalismus zu bewegen. Es geht darum, mit dem in einer Währungsunion unlogischen Prinzip nationalstaatlicher Haushaltssouveränität zu brechen; und gleichzeitig dem Prinzip „No taxation without representation“ einen konsequent europäischen, parlamentarischen Rahmen zu geben.

Im Kern ist auch heute noch der Nationalstaat der eigentliche Hemmschuh für eine funktionierende europäische Demokratie. „Entweder“, so der Schriftsteller Robert Menasse in seinem wunderschönen Buch „Der europäische Landbote“, „das Europa der Nationalstaaten geht unter, oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter.“ Ersteres setzt das Eingeständnis voraus, dass - wider eine oft verfochtene, gleichsam biologistische Ontologie - der Nationalstaat keineswegs naturgegeben, sondern ein Artefakt der Geschichte und damit mitnichten unüberwindbar ist. Das heißt: Die europäische Republik ist möglich!

Denn es geht gar nicht um die Abschaffung der Nation, sondern um die Entkoppelung von Staat und Nation. Im Euroland von morgen muss beides getrennt gedacht werden. Die nationale Grenze ist nicht mehr die Staatsgrenze, im Rahmen derer sich die gemeinsame politische und wirtschaftliche Ordnung vollzieht: Euroland braucht einen gemeinsamen staatlichen Ordnungsrahmen. Es geht also nicht um die Föderation von Nationalstaaten, sondern um eine geteilte europäische Res publica, einen geteilten öffentlichen Raum. Europa als neue Res publica verstehen würde auch helfen, wieder zu einem positiven Verständnis von Staatlichkeit zu gelangen und diese als notwendiges Korrektiv zu einem europäischen Markt wertzuschätzen. Ein positives Verständnis von Staat und seiner regulativen Funktionen in der Gesellschaft wäre im Übrigen auch das europäische Alleinstellungsmerkmal in der Welt, denn das gibt es nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht in Russland, nicht in China. Das genau ist das europäische Modell.

Indes, wie die französische Psychologin Francoise Dolto einmal sagte: „Toute est langue“, alles ist Sprache: Soll Euroland gelingen, müssen wir die Sprechweise ändern. Euroland ist nicht Ausland! Mit anderen Worten, die politische Sprache hat noch nicht erfasst, was wirtschaftspolitisch längst Realität ist: Die nationalen Grenzen sind abgeschafft. Es geht jetzt um den mentalen Sprung, die Währungsgrenze als Außengrenze wahrzunehmen. Ausland ist, wo der Euro aufhört - das ist die neue Realität. Das heißt aufzuhören, von „Auslandsinvestitionen“ zu sprechen, wenn es um französische Investitionen in Spanien geht. Oder aufzuhören, von deutschen Exporten (und Exporterfolgen) zu sprechen. Wir unterscheiden auch nicht zwischen Exporten von Hessen und Mecklenburg-Vorpommern. Der deutsche BMW ist nicht deutsch! Denn die industrielle Wertschöpfungskette ist längst eine europäische, in einem BMW sind italienische Ledersitze, französische Reifen oder slowenische Schrauben. Ziel müsste sein, den Euroraum als aggregierte Volkswirtschaft zu verstehen und zwischen Wachstumsregionen und Nichtwachstumsregionen zu unterscheiden.

Die nächste Etappe muss das konsequente Nachdenken über vereinheitlichte Steuern sein, um die Konsequenzen aus einer aggregierten Volkswirtschaft zu ziehen. Binnenmarkt und Währungsunion funktionieren nicht, wenn reiche Franzosen die Nationalität wechseln und zu Belgiern werden, um der von François Hollande vorgesehenen Einführung einer Vermögensteuer zu entgehen; oder wenn deutsche Unternehmen ihren Firmensitz nach Irland verlegen, um von den abgesenkten 12 Prozent Unternehmensbesteuerung zu profitieren. Der größte Denkfehler - und damit tägliche Sprechfehler -, den wir uns heute in Euroland erlauben, ist, dass wir unsere nationalen Volkswirtschaften immer noch wie offene Volkswirtschaften behandeln, die in einem Wettbewerb zueinander stehen, anstatt den Euroraum durch wirklich gemeinsame Regeln - eben einen gemeinsamen Ordnungsrahmen - stabil zu machen. Dazu müssen in Zukunft gemeinsame Bemessungsgrundlagen und Zielkorridore für Steuern gehören, gerade auch für Vermögensteuern oder Unternehmensteuern: ein Kooperationskonzert statt Kakophonie von Standortwettbewerb!

Es muss um gleiche Regeln bei den Einnahmen und Ausgaben gehen, wenn das europäische System jetzt darüber nachdenkt, wie, wann und unter welchen Umständen eventuell eine europäische Haftungsgemeinschaft begründet werden soll.

Das nächste Thema sind transnationale Sozialversicherungen. Die Europäische Kommission denkt derzeit über eine europäische Arbeitslosenversicherung nach. „Unmöglich“, ruft es aus dem Wald. Und wieder gilt, um mit Einstein zu sprechen: Keine Idee ist eine gute, die nicht von Anfang an als unmöglich erscheint. Hätten wir eine solche, würde derzeit Deutschland indirekt viele arbeitslose junge Spanier unterstützen. Europäische Solidarität in Form einer solchen Versicherungsleistung zu zeigen, hätte den Vorteil, dass es nicht mehr um nationales Geschacher ginge, wer wie viel Nettofinanztransfer in welchen Hilfsfonds einzahlt. Der Charme einer solchen Versicherungslösung wäre auch, dass es hier nicht um permanente Transfers ginge, sondern um den temporären Ausgleich von konjunkturellen Zyklen der verschiedenen Regionen Europas. Eine solche Arbeitslosenversicherung könnte eine identitätsstiftende Wirkung für alle europäischen Bürger haben, ganz im Sinne eines „Wohlfahrtspatriotismus“, wie Peter Sloterdijk ihn definiert.

Im Grunde geht es bei der Altbausanierung der EU darum, das Verhältnis zwischen Markt und Staat auf europäischer Ebene neu zu begründen, das durch Maastricht entkoppelt wurde. So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig, aber beides europäisch: Karl Schiller, europäisch „reloaded“. Dazu gehört selbstverständlich auch die Wiederherstellung eines funktionierenden Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital. Es geht um einen neuen Gesellschaftsvertrag, der nur noch europäisch herzustellen ist. Es geht wohlgemerkt nicht um gleiche Löhne für alle in Euroland. Sondern es geht auch hier nur um den ordnungspolitischen Grundsatz: gleiche Regeln und gleiche Regulierungsebenen für alle. Mindestlöhne hier nein, dort ja: Das geht nicht!

Schade ist, dass diejenigen, die diese Gestaltungsaufgabe einer europäischen Ordnungspolitik am besten übernehmen könnten, sich in Rückzugsgefechten erschöpfen, weil sie einem altbackenen Verständnis von Nationalstaat und Souveränität anhängen und nicht bereit sind, den (wirtschafts-)politischen Ordnungsrahmen europäisch zu transzendieren. Diese Rückzugsgefechte beruhen im Wesentlichen darauf, auf einem Vertrag zu bestehen (“no bail-out“), der so einfach nicht funktionieren kann; sich in Gefechten über die politische Verschiebung von rechtlichen roten Linien (EFSF, ESM, drittes Griechenland-Paket ...) zu erschöpfen; oder auf ein „rettendes Verdikt“ von Karlsruhe zu warten, das dem vermeintlichen „Spuk“ ein Ende beschert.