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Gastbeitrag von Jeremy Shapiro: Bei Außenpolitik guckt EU von Seitenlinie zu - von der Leyen muss raus aus Komfortzone
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Ursula von der Leyen
dpa/Shapiro Ursula von der Leyen
  • Gastautor
Freitag, 18.09.2020, 14:57

Im vergangenen Jahr versprach Ursula von der Leyen den Europäern eine geopolitische Kommission mit einer stärkeren, einheitlicheren Stimme in der Weltpolitik, um Europas strategische Souveränität zu sichern: ein zeitgemäßer Impuls. In Folge einer Pandemie, die auf der ganzen Welt das Leben auf den Kopf stellt, begreifen Europas Bürgerinnen und Bürger fast ein Jahr später die enormen Belastungen, die das Fehlen einer geopolitischen Präsenz Europas nach sich zieht.

Vor dem Hintergrund von Pandemie, Klimawandel und weltweiter Rezession nutzen internationale Großmächte zwischenstaatliche Strukturen als eine Art Kampfmittel zur gegenseitigen Abstrafung. China hat angedroht, europäischen Ländern, die ihm politisch nicht zur Seite stehen, medizinische Hilfsgüter vorzuenthalten. Die Vereinigten Staaten drohen mit Wirtschaftssanktionen, um den Europäern ihre Iran-Politik aufzuzwingen. Die Türkei droht damit, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, wenn die EU ihr kein Geld zahlt oder Libyen nicht unterstützt. Und Russland greift in unsere Wahlen ein und politisiert seine Erdgaslieferungen.

Laut Umfragen des ECFR hat aufgrund dieser Entwicklungen die überwiegende Mehrheit erkannt, dass ein gemeinsames Handeln notwendig ist, um die nationale Souveränität in einer zunehmend gefährlichen Welt zu verteidigen. 63 Prozent der Europäer wünschen sich als Folge von Covid-19 eine bessere europäische Zusammenarbeit. Selbst in weniger europafreundlichen Mitgliedstaaten wie Frankreich (52 Prozent), Schweden (51 Prozent) und Dänemark (53 Prozent) äußerte mehr als die Hälfte der Befragten diese Ansicht.

Über den Autor

Jeremy Shapiro (PhD) ist Forschungsdirektor beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Zuvor war er Sonderberater des stellvertretenden Außenministers für Europa und Eurasien im US-Außenministerium.

Souveränere und grünere Zukunft gestalten

Ungeachtet dieser klaren Forderung der Bürgerinnen und Bürger versäumte es von der Leyen in ihrer dreisprachigen, fast 90 Minuten langen Rede, den Plan einer geopolitischen Kommission anzusprechen. Sie präsentierte eine Aufzählung von Problemen, vermittelte aber nicht den Eindruck, dass Europa seine geopolitische Herangehensweise verbessern müsse.

Wie kam es dazu? Warum erweist es sich als so schwierig, die „geopolitische Kommission“ zu schaffen, die von der Leyen im vergangenen Jahr versprochen hatte? Der Europäische Aufbauplan sollte es  ermöglichen, ein Europa mit souveränerer und grünerer Zukunft gestalten. Doch dazu muss sich von der Leyen zwei wesentlichen Problemen stellen.

Solidarität von Mitgliedsstaaten gewährleisten

Das erste sind die EU-Mitgliedsstaaten. Alle Mitgliedsstaaten sagen, sie wollen ein geopolitischeres Europa, doch größtenteils meinen sie damit, dass sie von der EU erwarten, ihre eigenen konkreten geopolitischen Probleme ernster zu nehmen: Für die Staaten im Osten steht Russland im Mittelpunkt des Interesses; die Länder des Südens wünschen, dass den Konflikten auf der anderen Seite des Mittelmeers Aufmerksamkeit gewidmet wird; für andere sind der Balkan oder die Türkei ein Hauptanliegen; weite Teile Nordeuropas hingegen möchten, einen Schutz der EU vor chinesischen Handelsverwerfungen.

Natürlich übt die Kommissionspräsidentin keine Kontrolle über die Mitgliedstaaten aus, insbesondere nicht in Fragen nationaler Sicherheit. Damit die EU jedoch angesichts solcher Divergenzen geopolitischer agieren kann, braucht sie eine Regelung, um unter diesen Themen Prioritäten zu setzen, um die Solidarität von Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, wenn es nicht um  eigene Probleme geht, und um Streitigkeiten zu schlichten, wenn die Mitgliedsstaaten uneins sind.

Europa als wichtigste Versteidigungslinie

Dieser Problematik Rechnung tragend kam in der Rede der Vorschlag zur Sprache, in außenpolitischen Fragen, zumindest beim Thema Menschenrechte und Sanktionen, Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit einzuführen. Auch wenn dies in den Schlagzeilen als wichtiger Schritt erscheint, wird damit doch nur eine Handhabe geschaffen, um unnachgiebige Staaten zu ignorieren.

Ein besserer Kurs als das Überstimmen von Mitgliedsstaaten, wenn es um Fragen geht, die einem selbst wichtig sind, wäre es, allen EU-Mitgliedern das Gefühl zu geben, dass Europa in diesen Angelegenheiten ihre wichtigste Verteidigungslinie darstellt – und dass sie etwas Entscheidendes verlieren werden, wenn sie die EU in anderen Bereichen, die ihnen weniger wichtig sind, schwächen.

 

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Bürokratischer EU-Apparat

Das zweite Problem ist der bürokratische EU-Apparat in Brüssel, den von der Leyen formal verwaltet. Ein geopolitischer Ansatz beinhaltet auch, dass man all seine Regierungsinstrumente nutzt, um geopolitische Ziele zu verfolgen. So nutzen die Amerikaner ihre Verteidigungsbeziehungen zu den Europäern, um Handelszugeständnisse einzufordern – und die Chinesen ihre Vormachtstellung bei der medizinischen Versorgung, um die Niederländer für ihre Taiwan-Politik zu bestrafen.

Doch die EU wurde eigens gegründet, um solche Verflechtungen zu unterbinden, und derzeit besteht keine konkrete Verfahrensweise, um dies durchzusetzen. Der Gedanke, beispielsweise Zugeständnisse bei einem EU-Handelsabkommen zur Erlangung geopolitischer Zugeständnisse zu nutzen, stößt bei jenen, die nach der Qualität ihrer Handelsabkommen beurteilt werden, auf Empörung.

Es überrascht nicht, dass die Rede diese innenpolitische Problematik kaum thematisierte, doch ist sie für die Verwirklichung eines geopolitischen Europas von grundlegender Bedeutung. Jeder in Brüssel bestätigt, dass ein geopolitischer Ansatz mehr themenübergreifende Koordinierung erfordert, aber jeder ist der Meinung, seine Organisation sollte die Koordinierung übernehmen. Naturgemäß scheint der Europäische Auswärtige Dienst unter der Leitung von HV/VP Josep Borrell der naheliegendste Anwärter dafür zu sein. Es ist eine verpasste Gelegenheit, ihm nicht mehr Macht zu verleihen.

Aufbau eines souveräneren Europas

Der Aufbauplan ermöglicht der EU, in den Aufbau eines souveräneren Europas zu investieren, im Besonderen, wenn es um Fragen geht, die den Bürgerinnen und Bürgern am Herzen liegen. Anstatt zuzulassen, dass ein Großteil des Geldes unsichtbar über Struktur- und Kohäsionsfonds ausgegeben wird, sollte sich die EU ausdrücklich das Ziel setzen, in die Infrastruktur für ein souveränes Europa zu investieren. Dies könnte gemeinsame Lagerbestände medizinischer Ausrüstung zur Bekämpfung künftiger Pandemien, klar regulierte Datenbanken zur Ausbildung künstlicher Intelligenz, infrastrukturelle Investitionen zur Förderung der Energieunabhängigkeit und des Übergangs zu einem kohlenstoffarmen Energiesystem sowie gemeinsame Verteidigungsprojekte und -investitionen umfassen.

Dafür gibt es bereits eine breite Unterstützung. Umfragen des ECFR haben gezeigt, dass während der Pandemie die Akzeptanz von Maßnahmen gegen den Klimawandel zugenommen hat: In Spanien gaben 60% der Wähler an, während der Corona-Krise habe ihre Befürwortung der Umsetzung der Klimaverpflichtungen zugenommen. Von der Leyen propagierte in ihrer Rede einige dieser Themen, aber ohne eine Fokussierung auf die geopolitischen Aspekte dieser Maßnahmen werden sie wahrscheinlich am Konkurrenzkampf zwischen den Mitgliedsstaaten und den Brüsseler Institutionen scheitern.

Von der Leyens Amtszeit hat erst begonnen. Die EU hatte nie die Aussicht, innerhalb eines Jahres oder gar binnen fünf Jahren ein geopolitischer Akteur zu werden. Wie sie jedoch anmerkte, wartet die Welt nicht darauf, dass die EU Entscheidungen trifft: Europas strategische Souveränität erodiert mit jedem Tag. Es ist nicht zu früh, die institutionellen Grundlagen für einen Erfolg zu schaffen. Die EU verfügt über alle notwendigen Instrumentarien dafür. Damit diese Möglichkeiten genutzt werden können, muss sich von der Leyen der Tatsache stellen, dass es in den Mitgliedsstaaten und in Brüssel mächtige Interessenträger gibt, die eine ganz andere Vorstellung von Geopolitik haben als sie.

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