Europa nach dem Brexit: Merkels Tour zu den Kleinen

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Frankreichs Präsident Hollande Foto: dpa

In Estland hat Angela Merkel ihre Europatour gestartet – die auch in etliche Hauptstädte kleinerer EU-Partner führt. Nach dem Brexit-Votum muss sich die Kanzlerin auch als Brückenbauerin beweisen.

Tallinn, Prag, Warschau stehen bis Freitag auf dem Programm. Direkt nach ihrer Rückkehr empfängt sie acht weitere EU-Partner in Meseberg. „Jetzt beginnt die Wiederentdeckung der Kleinen“, beschreibt der Europaexperte der Carnegie-Stiftung, Jan Techau, das Programm.

Aber nicht alle sehen Merkels 15 Treffen mit EU-Kollegen allein in dieser Woche nur positiv. In Brüssel wiegeln Diplomaten zwar ab und verweisen auf den Besuch von EU-Ratspräsident Donald Tusk bei Merkel vergangene Woche und ein baldiges Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Man gehe gemeinsam vor. „Aber natürlich ist Merkels Engagement eine zweischneidige Angelegenheit“, sagt Techau. So könnte durchaus der Eindruck entstehen, die deutsche Kanzlerin nehme die Rolle der zentralen Maklerin ein, die eigentlich den EU-Institutionen vorbehalten sein sollte. „Die EU verträgt keinen Hegemon“, warnt auch Josef Janning, Leiter des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin, in der Zeitschrift „Parlament“.

Deutschland als Brückenbauer

Für Carnegie-Experte Techau ist das Vorgehen der Kanzlerin vor dem informellen Treffen der EU-27 in Bratislava Mitte September allerdings alternativlos. Denn die EU müsse jetzt klären, wie genau sie mit den Briten nach der Brexit-Entscheidung umgehen wolle und wie die Union weitermachen solle. „Gerade weil die Krise so groß ist, erwarten doch in Wahrheit alle vom größten EU-Staat Führung und Konzepte.“ In Brüssel wird zudem auf die Schwäche Frankreichs und Italiens verwiesen, die anders als Deutschland auch wirtschaftlich nicht gut dastehen.

Kerneuropa als Antwort auf den Brexit?

Großbritannien verabschiedet sich aus der EU. Matteo Renzi will mit Italien in das neu entstandene Machtvakuum vorstoßen. Auf Ventotene will er mit Merkel und Hollande an die Wichtigkeit Italiens für Europa erinnern. Doch der aktuellen Politikergeneration mangelt es am Idealismus …

„Der Input Hollandes beschränkt sich darauf, dass er am Donnerstag die europäischen Sozialisten nach Paris einlädt“, giftet ein EU-Diplomat. Dabei müssten derzeit gerade die miteinander reden, die nicht einer Meinung seien. „Denn die EU ist heute eben sehr heterogen“, heißt es in der Bundesregierung. Auch ohne Briten ist die Kluft zwischen denen, die zumindest offiziell „mehr Europa“ wollen, und denen, die „weniger Europa“ möchten, sehr groß. „Merkel ist deshalb auch als Brückenbauerin unterwegs“, sagt Techau.

Denn Deutschland nimmt bei vielen Themen eine mittlere Position ein. So bremste Merkel Franzosen und Italiener, die nach dem Brexit-Referendum für schnelle und große Härte gegenüber den Briten plädierten und den Stabilitätspakt lockern wollen. Bei den Osteuropäern in Polen und Ungarn wirbt sie gleichzeitig dafür, nicht einen EU-Zerfallsprozess durch eine übertriebene europakritische Rhetorik voranzutreiben – denn auch die Polen wollen durchaus eine engere Zusammenarbeit etwa beim Thema Sicherheit. Skandinavier und Balten wiederum sehen Deutschland angesichts des bevorstehenden Austritts Großbritanniens nun noch mehr als einzigen Sachwalter einer liberaleren, freihandel- und wettbewerbsorientierten Wirtschafts- und einer zurückhaltenden Haushaltspolitik.

Jeder redet mit Jedem?

Also organisieren Deutsche derzeit Absprachen in allen Formaten. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte erst die sechs EG-Gründerstaaten eingeladen und trifft sich nun mit seinem französischen und polnischen Kollegen im „Weimarer Dreieck“. Die Innenminister Deutschlands und Frankreichs legten am Dienstag gemeinsame Vorschläge für mehr Sicherheit in der EU vor. Und Merkel hatte sich schon vor dem Dreier-Treffen mit Hollande und Renzi für ihre Europatour entschieden. Denn die Kritik am Treffen der großen Drei war erwartbar gewesen. Prompt fragte Ulrike Guerot, Direktorin der Denkfabrik European Democracy Lab in Berlin im Deutschlandfunk, wieso am Montag nicht auch Polen und Spanien eingeladen gewesen seien – was im Fall Spaniens an der Dauer-Regierungskrise liegt. Steinmeier wiederum wurde vorgeworfen, er wolle mit dem EG-Gründertreffen einen alten westeuropäischen Club wiederbeleben.

Für Carnegie-Experten Techau handelt Merkel dabei aus einer Mischung aus Stärke und Schwäche. „Einerseits zeigt der Reigen an Absprachen, wie selbstbewusst sie die ihr zugewiesene Führungsrolle in der EU mittlerweile annimmt“, sagt er. „Andererseits muss sie nach dem deutschen Alleingang in der Flüchtlingspolitik aber mit den Besuchen auch demonstrieren, dass sie auf die anderen zugeht.“ Gerade die Osteuropäer werfen ihr vor, den EU-Partnern die liberalere deutsche Haltung bei der Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge aufdrücken zu wollen. Der Widerstand vieler Partner gegen ein EU-weites Verteilsystem ist die Folge. Schon um diese Wogen zu glätten, sei es wichtig, dass Merkel an der früheren Strategie Helmut Kohls anknüpfe, „den kleinen Partnern im Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Macht in der EU doppelt soviel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen“, sagt Techau.

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