Der neue Albtraum für den türkischen Präsidenten begann am vergangenen Freitag. Innerhalb von 24 Stunden stolperten 50.000 Kurden über die türkisch-syrische Grenze, auf der Flucht vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Norden Syriens. Mittlerweile sind mehr als 130.000 Kurden in die Türkei geflüchtet, das Land bereitet sich auf die Ankunft weiterer Hunderttausender Menschen vor. Nun hat auch noch die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zum Kampf gegen den IS aufgerufen und die Islamisten rücken immer näher an die türkische Grenze. Und trotz all dem reagiert der sonst so polternde Präsident Recep Tayyip Erdoğan ungewohnt ruhig.

Seine Kritiker vermuten dahinter eine heimliche Unterstützung der IS-Terroristen. Als Grund für ihr bislang mäßiges Anti-Terror-Engagement hatte die islamisch-konservative AKP den Schutz der 49 im Juni von IS-Kämpfern entführten Mitarbeiter des türkischen Konsulats im irakischen Mossul angegeben. Dieser Grund ist seit dem Wochenende weggefallen: Am Samstag kehrten die Geiseln wohlbehalten in ihre Heimat zurück. Über die Umstände der Befreiung mochte Erdoğan nicht sprechen. "Es gibt Dinge, über die wir nicht reden können", sagte er ungewohnt einsilbig und sprach von einem "diplomatischen Sieg". 

Für seine Gegner ist diese Schweigsamkeit ein weiteres Indiz dafür, dass der gläubige Sunnit Erdoğan die sunnitischen Dschihadisten in Syrien und im Irak unterstützt. "Wenn man sagt, die Türkei kooperiere mit dem IS, ist das so, als würde man sagen, die US-Regierung kooperiere mit Drogenkartellen an der Grenze zu Mexiko", erwiderte ein türkischer Parlamentarier auf diese Vorwürfe. Die türkische Tageszeitung Hürriyet berichtet in ihrer Dienstagsausgabe allerdings, dass die Türkei 50 IS-Angehörige im Austausch für ihre Geiseln freigelassen hat.

Die Liste der Vorwürfe an die Adresse Ankaras ist lang. Die türkische Führung wird beschuldigt, durch ihre Politik der offenen Grenzen zum Erstarken des IS beigetragen zu haben – viele ausländische Kämpfer sollen ungehindert über das Land nach Syrien gereist sein. Erdoğan wird auch vorgeworfen, die Gefahr durch den IS in der Hoffnung auf einen schnellen Sturz des Assad-Regimes in Syrien ignoriert zu haben. Indirekt soll die Türkei außerdem als schwarzer Absatzmarkt für das Öl, das in den von dem IS eroberten Gebieten gefördert wird, Millionenbeträge in die Kriegskasse der Terroristen spülen. In den lokalen Medien erscheinen jeden Tag Geschichten, welche diese Thesen unterstützen. So zitierte die regierungskritische Zeitung Todays Zaman eine Krankenschwester eines privaten Krankenhauses im südtürkischen Mersin mit den Worten: "Wir behandeln sie, und dann gehen sie und schneiden Köpfe ab."

Medienschelte statt Anti-IS-Kampf

Erdoğan hätte nach der Geiselbefreiung nun die Chance, mit den Gerüchten, die Türkei sei ein Transitland und eine Rekrutierungsstätte für den IS, ein für alle mal aufräumen. Doch statt gegen die Islamisten zu schimpfen, wetterte das Staatsoberhaupt lieber wieder einmal gegen Journalisten. Die New York Times hatte vergangene Woche die Türkei als sicheren Rückzugsort für die Terroristen dargestellt, und suggeriert, die AKP würde den IS gar unterstützen. "Fehlleitende Artikel einiger Zeitungen werden den Ruf dieses Landes nicht beschädigen. Wir kennen ihre Absichten sehr gut", sagte der Präsident. Die Behauptungen seien Lügen. 

Allerdings hat die türkische Regierung erst Anfang Juni die international geächtete syrische Al-Nusra-Front (Dschabhat al-Nusra) als Terrorgruppe eingestuft. Davor hatte die Türkei die islamistischen Terroristen im Nachbarland weitestgehend ignoriert, wohl in der Hoffnung, dass diese den syrischen Diktator Baschar al-Assad stürzen könnten. "Die Türkei ging in dem Konflikt von Anfang an sehr nachlässig mit den radikalen Gruppen um", sagt der Türkei-Kenner Aaron Stein vom Royal United Services Institute in London. 

"Warum sollte Erdoğan die Islamisten unterstützen?"

Doch auch wenn Erdoğan sich gegenüber den IS-Terroristen noch immer auffällig bedeckt hält: Es gibt keine Beweise dafür, dass die Türkei aktiv die Islamisten unterstützt. Weder der Opposition noch seinen Kritikern und Journalisten ist es bisher gelungen, Erdoğan eine Hilfe für Terroristen nachzuweisen.

"Warum sollte Erdoğan ein Interesse daran haben, die Islamisten zu unterstützen?", sagt Josef Janning vom European Council on Foreign Relations. Nach Ansicht des Außenpolitikexperten wäre es strategisch unlogisch, wenn die Türkei den IS unterstützen würde. Zum einen hätten die Dschihadisten und der Präsident eine unterschiedliche Auslegung des Islams, für den IS sei die Türkei zudem ein westlich-liberales Land und damit ein Feind. Und: "Es kann nicht im türkischen Interesse sein, einen Gottesstaat als Nachbarn zu wollen", so Janning. Erdoğan sei zwar einer der stärksten Kritiker des syrischen Präsidenten, die AKP unterstütze deswegen die syrische Opposition, "aber nicht bewusst den IS", sagt Janning.