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Meinung China

Präsident Xis Spielart eines smarten Autoritarismus

Softes Image, aber ein knallharter Mann: Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (stehend) beim chinesisch-japanischen Gipfel in Peking Ende Mai 2015 Softes Image, aber ein knallharter Mann: Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (stehend) beim chinesisch-japanischen Gipfel in Peking Ende Mai 2015
Softes Image, aber ein knallharter Mann: Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (stehend) beim chinesisch-japanischen Gipfel in Peking Ende Mai 2015
Quelle: Getty Images
Chinas Parteichef hat Großes vor. Er will sein Reich nicht nur zur Supermacht verwandeln, sondern ein Regime schaffen, das die wirtschaftliche Stärke des Westens besitzt, aber auf Freiheit verzichtet.

Schafft Xi Jinping es? Ob Chinas Partei- und Staatschef sein Land im Griff behält, ist heute die spannendste politische Weltfrage. „Ja, Xi schafft es“, sagt mir jemand in Peking. „Nein“, erwidern andere. Weise wissen, dass niemand etwas weiß.

In Washington ist eine große Debatte darüber losgebrochen, ob die Vereinigten Staaten ihren Kurs gegenüber einem Peking verändern sollten, das unter Präsident Xi Jinping sehr selbstsicher aufzutreten beginnt. Zu diesem Auftreten gehört die kürzlich gemeldete Stationierung von Artillerie auf künstlichen Riffen im Südchinesischen Meer. Es betrifft aber auch jeden weltweit, ob China seine wirtschaftliche Wachstumsrate halten kann, während das Reservoir billiger Arbeitskräfte schwindet, und ob es die Fallen, in die manche Schwellenländer gestolpert sind, umgeht. Mehr als in anderen Staaten hängen die Außenbeziehungen und die Wirtschaftsentwicklung von der Qualität der politischen Entscheidungen ab. It’s the politics, stupid: Auf die Politik kommt es an.

Was Xi beabsichtigt, ist klar. Er versucht, mit einer personell verjüngten, disziplinierten und neu motivierten leninistischen Partei eine komplexe Volkswirtschaft und Gesellschaft mit von oben verordneten Reformen durch schwere Wasser zu steuern. Er mutet seiner Partei Unerhörtes zu, denn er versucht, die unsichtbare Hand des Marktes mit der sehr sichtbaren Hand des Einparteienstaates zu koppeln. Der „große Steuermann“ Mao steht dabei genauso Pate wie der pragmatische Reformer Deng Xiaoping. Die Nachrichtenagentur Xinhua verkündete in einem Kommentar: „Mit Dengs Fackel entfacht Xi von Neuem die Nation.“

Tausend gestürzte Funktionäre

Die meiste Energie ist bislang allerdings in die Errichtung von Kontrollen geflossen – über die Partei, den Staat, das Militär und was auch immer es an Zivilgesellschaft gibt. Die Affäre um das Politbüromitglied Bo Xilai hatte eine interne Krise der Parteiherrschaft offenbart. Als Erbkommunist könnte der Präsident ehrlichen Herzens glauben, dass aufgeklärte, gewandte autoritäre Führungspersonen Regierungsaufgaben am besten meistern.

Das war Lenins Wette, in mancherlei Hinsicht aber auch diejenige Platos oder Konfuzius’. 1948 schrieb der Sinologe Ryan Mitchell, ein gestandener Veteran der chinesischen KP namens Xi Zhongxun habe gesagt, „die liebenswertesten Eigenschaften von uns Kommunisten sind Hingabe und Ernsthaftigkeit“. 2013 sagte sein Sohn Xi Jinping zu Parteimitgliedern, „führende Kader müssen den Massen mit Hingabe und Ernsthaftigkeit begegnen“.

Dieses Experiment bedeutet für Tausende gestürzte Funktionäre, die in der sanften Umarmung der zuständigen Partei- und Staatsorgane verschwunden sind, einen tiefen Lebenseinschnitt. Ein höherer Fifa-Funktionär hat demgegenüber noch immer ein schönes Leben, selbst wenn manche jetzt ihre gewohnten Schweizer Fünf-Sterne-Frühstücke vermissen mögen.

Verhaftungen von Bloggern

Das Experiment ist ebenso unkomfortabel für alle diejenigen Chinesen, die an eine freie und offene Diskussion glauben, an die freie Bürgerinitiative und an Nichtregierungsorganisationen. Der Kontrast zu früheren Peking-Besuchen ist groß, nicht nur beim mühseligen Versuch, im Internet an Gmail, Google docs und anderes mehr heranzukommen. Bedrückend ist die spürbare Nervosität bei Intellektuellen, die noch wenige Jahre zuvor so offen gewesen waren.

Die Grenzen des öffentlich Erlaubten scheinen immer enger gezogen zu werden. Führende Aktivisten, Rechtsanwälte und Blogger wurden verhaftet, angeklagt und eingesperrt. Ein neuer Gesetzentwurf unterwirft Nichtregierungsgruppen fast schon solchen Beschränkungen, wie Putin sie eingeführt hat. Ein weiterer Entwurf dehnt den Begriff „nationale Sicherheit“ auf die Bereiche Ideologie und Kultur aus, mit Formulierungen wie „Entwicklung der einzigartigen Kultur chinesischer Prägung und Zurückdrängung schädlicher Kultureinflüsse“.

Das stimmt, das ist alles so, sagen die Vertreter der „Xi schafft es“-Weltsicht – und wenn sie außerhalb des politischen Systems arbeiten, fügen sie meistens hinzu, das sei alles außerordentlich betrüblich. Aber, sagen sie auch: Schauen Sie auf die Reformen, die genauso energisch durchgezogen werden. Deren Kernpunkte freilich sind nicht ganz leicht in herkömmliche politische und wirtschaftliche Begriffe zu fassen, denn der chinesische Gegenwarts-Mix ist ein Unikum.

Alternative zur Demokratie?

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Umfangreiche Maßnahmen gegen eine gefährliche Überschuldung der Landkreise und Gemeinden, die Einführung von Besitztiteln an Land und Boden und die Änderungen im bislang rigiden System des Aufenthaltsrechts- und Meldewesens können genauso folgenschwer sein wie jede nur denkbare Schlagzeile, deren Inhalt westlichen Ohren vertraut klingt.

Wenn das alles wie geplant klappt, bekäme der westliche liberale demokratische Kapitalismus einen beachtlichen ideologischen Konkurrenten, der besonders in den Entwicklungsländern durchaus Anklang fände. Die gute Seite für den Westen wäre, dass Wettbewerb kreativ und munter macht. Die Hybris zu Anfang des Jahrhunderts in Gestalt des Regimewechsels im Irak oder der Turbo-Exzesse des Finanzkapitalismus haben ihren Teil dazu beigetragen, dass der Westen sich ideologisch konkurrenzlos wähnte.

Das ist natürlich nicht das Ergebnis, das ich als ein liberaler Demokrat meinen chinesischen Freunden wünsche. Was ich ihnen und uns freilich emphatisch wünsche, ist ein China, das sich evolutionär statt revolutionär verändert. Es gibt dafür viele Gründe, nicht zuletzt den, dass die meisten Chinesen das so möchten, aber der wichtigste Grund betrifft die Frage von Krieg und Frieden.

Ein Krieg müsste nicht direkt zwischen China und den USA ausbrechen, um gefährlich zu werden

Ein kommunistisches Regime, das in die Krise gerät, fände es womöglich eine unwiderstehliche Versuchung, irgendwo in der Nachbarschaft Chinas die nationalistische Karte zu ziehen – gegründet auf Jahrzehnte der Indoktrination, auf eine eklektizistische Sichtweise der jüngeren Vergangenheit und auf eine Weltsicht, die um 150 Jahre Erniedrigung kreist.

Wenn China bereits jetzt amerikanische Aufklärungsflugzeuge davor warnt, die neuen künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer zu überfliegen, wie würde es sich erst bei einer heimischen Systemkrise verhalten? Ein Krieg müsste nicht direkt zwischen China und den USA ausbrechen, um gefährlich zu werden. Welche roten Linien die Vereinigten Staaten auch zögen – und sie sind im Interesse aller, auch Chinas, hoffentlich klarer zu erkennen als unter Barack Obama –, das Risiko einer Fehlkalkulation wäre hoch.

Deshalb, obwohl es nicht der evolutionäre Weg ist, den viele während der Pekinger Olympischen Spiele auszumachen geglaubt und erwünscht haben: Wir müssen hoffen, dass Xi es gelingt, „den Fluss zu durchqueren, indem er die Kiesel fühlt“. Diese meine größte Sorge ist nicht Ausdruck eines persönlichen Glaubens an die liberale Demokratie als Verwirklichung persönlicher Freiheit (obwohl es unehrlich wäre vorzugeben, das spiele keine Rolle), sondern sie speist sich aus Einsichten, die uns überhaupt erst zu dieser liberalen Demokratie geführt haben.

Lektionen der Sowjetunion

Einsichten wie: „Wenn Menschen Engel wären, bräuchten wir keine Regierung. Wenn uns Engel regierten, bräuchte man die Regierung nicht zu kontrollieren“ (James Madison, Federalist Paper 51). Ja, liebe Genossen, diese Einsichten könnten stimmen, selbst wenn sie von einem Amerikaner stammen.

Timothy Garton Ash ist Professor für Geschichte und Direktor des European Studies Centre an der Universität von Oxford
Timothy Garton Ash ist Professor für Geschichte und Direktor des European Studies Centre an der Universität von Oxford
Quelle: picture alliance /
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Auf kurze bis mittlere Sicht, so mein Gefühl, wird Xis Spielart eines smarten Autoritarismus nicht nur die Partei an der Macht halten, sondern die ganze Show weitergehen lassen. Auf mittlere Sicht – das kann durchaus die zehn Jahre Amtszeit umfassen, die Präsident Xi absolvieren darf; die chinesischen Kommunisten haben aus der Breschnew-Sowjetunion ja eine Lektion gelernt, die die Fifa schlichtweg ignoriert.

Xi verfügt über etliche wichtige Ressourcen, einschließlich einer gewissen persönlichen Popularität und verbreitetem Nationalstolz. Ich wette deshalb eine (kleine) Summe darauf, dass in diesem begrenzten Sinne der Satz „Ja, Xi schafft es“ stimmt. Aber in einem weiteren Sinn und langfristig? Die Zwanzigerjahre werden steinig.

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