Drei Gründe, warum Migration bei den EU-Wahlen keine Rolle spielt

(c) Peter Kufner
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Umfragen zeigen, dass die in Europa am stärksten empfundenen Bedrohungen Nationalismus und Islam-Radikalismus sind. Kommentar auf Deutsch und im englischen Original.

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Die Europawahlen sind als Kampfgebiet um das Herz Europas dargestellt worden. Viktor Orbán, Matteo Salvini und Steve Bannon glauben, dass die Wahl ein Referendum zur Migration sein wird. Sie denken, dass die Migrationskrise im Jahr 2015 die europäische Politik umgekrempelt hat – indem sie die Volksparteien in die Defensive getrieben und ins Herz europäischer Unsicherheit in der Identitätsfrage getroffen hat. Sie wollen dieses Thema nutzen, um eine Souveränistenkoalition zu mobilisieren, mit der die EU von innen heraus demontiert werden soll.

Das wird ihnen nicht gelingen. Die Ergebnisse einer ECFR-Umfrage in ganz Europa zeigen, dass sich die politischen Fragestellungen im Jahr 2019 grundlegend von jenen im Jahr 2015 unterscheiden. Der Feldzug für eine Festung Europa wird diesmal aus drei Gründen keine Erfolgsstrategie sein.

Erstens hat unsere Umfrage gezeigt, dass Ungarn das einzige Land ist, in dem die Migration immer noch als die größte Bedrohung für die EU gilt – kein Wunder angesichts der nicht endenden Propaganda, die Ungarns Ministerpräsident, Viktor Orbán, über seine staatlich kontrollierten Medien verbreitet. In jedem anderen der 14 von uns befragten Länder fanden wir hingegen mindestens fünf weitere Themen, die für die Bevölkerung ebenso wichtig, wenn nicht sogar von größerer Bedeutung sind. Die Wähler sehen die Europawahlen nicht als ein Referendum in einer einzigen Angelegenheit. Vielmehr werden sie ihre Entscheidung in thematisch sechsfach aufgefächerten Europawahlen entscheiden – von denen der Migrationsstreit nicht einmal die wichtigste Frage ist.

Unsere Umfrage zeigt, dass die in Europa am stärksten empfundene Bedrohung der Islam-Radikalismus ist: Viele Menschen von Frankreich, Deutschland und den Niederlanden bis nach Polen und der Slowakei sehen darin die größte Bedrohung für Europa. Ein weiteres sehr wichtiges Thema ist die Angst vor einer Rückkehr des Nationalismus in die EU, die in Österreich, Finnland, Dänemark, Deutschland, Griechenland, den Niederlanden, Polen und Spanien wichtiger als die – oder zumindest gleichrangig mit der – Migration angesehen wird. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bleiben in Italien, Rumänien, Griechenland und der Slowakei ein großes Thema. Eine weitere große Überraschung gibt es beim Klimawandel. Während nur Dänemark und Finnland den Klimawandel als größte Bedrohung nannten, fanden wir auf die individuelle Nachfrage eklatante Mehrheiten in unseren 14 befragten Ländern. Und schließlich hat sich Russland in Schweden, Dänemark, Tschechien, Polen, Rumänien zu einem großen Thema entwickelt.

Sorge um Wegzug der Bürger

Der zweite Grund, warum Migration die Wähler voraussichtlich nicht mobilisieren wird, ist, dass selbst diejenigen, die sie als zentrales Thema betrachten, grundlegend andere Dinge meinen, wenn sie über Migration sprechen. Wir stellten eine Kluft zwischen jenen fest, die sich um die Einwanderung in ihre Länder sorgen, und jenen, die sich um die Auswanderung sorgen: Während Nord- und Westeuropa nach wie vor den Zustrom von Fremden befürchten, sorgen sich Mehrheiten in Italien, Spanien, Ungarn, Polen und Rumänien mehr um den Wegzug ihrer eigenen Bürger. In diesen Ländern wünschen sich zweistellige Mehrheiten von ihren Regierungen, dass es für ihre eigenen Bürger illegal wird, für lange Zeiträume das Land zu verlassen. In einem Europa, das stolz auf den Abbau von Grenzen und die Förderung freien Reisens ist, ist dieser Schritt zur Selbstverhaftung bemerkenswert, wenn auch nachvollziehbar. In Rumänien hat in den letzten zehn Jahren einer von fünf Bürgern sein Land verlassen. Die zurückgelassenen Menschen empfinden so viel Verzweiflung, dass sie bereit zu sein scheinen, für sich selbst wieder eine Migrationsmauer aufzubauen – gerade einmal drei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer.

Selbst unter denjenigen, die größere Sorgen angesichts der Einwanderung umtreiben, zeigte sich eine große Kluft zwischen jenen, die wegen der Migration an sich beunruhigt sind, und jenen, die das Problem in Bezug auf den islamischen Radikalismus empfinden. Die Demografie dieser beiden Gruppen unterschied sich stark, wobei die reinen Migrationsphobiker rechtspopulistisch bis -extreme Parteien wie die AFD, Le Pens Rassemblement National oder die FPÖ unterstützen. Im Gegensatz dazu neigen die spezifischer durch den islamischen Radikalismus Beunruhigten dazu, etablierte Mitte-rechts-Parteien wie die deutsche CDU/CSU, die französischen Les Républicains oder die ÖVP von Sebastian Kurz zu unterstützen.

Drittens und vielleicht am wichtigsten ist zu sagen, dass die Migration die Europäer in der Regel nicht dazu motivieren wird, an den Wahlen teilzunehmen. Unsere Umfragen zeigen, dass die Angst vor dem wieder auflebenden europäischen Nationalismus die Menschen viel eher zur Stimmabgabe verleitet als die Sorge um die Migration. Dies dürfte einige der großen politischen Veränderungen seit 2015 widerspiegeln. Die offenkundigste ist der Rückgang der Flüchtlingszahlen – die Nachrichten dominiert heute eher das Brexit-Chaos als unkontrollierte Grenzen. Es spiegelt auch die Tatsache wider, dass alle Volksparteien für eine stärkere Grenzkontrolle eintreten – und es keine einzige Volkspartei gibt, die sich für offene Grenzen einsetzt.

Doch trotz des positiven Bilds besteht die Gefahr, dass die Volksparteien in Orbáns Falle tappen und die Wahlen zu seinen Bedingungen austragen. Was also sollten nicht nationalistische politische Parteien gemäß unserer Umfrage machen? Die erste Schlussfolgerung besteht darin, dass es darum geht, mit der Kampagne in den verschiedenen Bereichen, an denen die Menschen interessiert sind, zu kämpfen – und emotional ansprechende Antworten auf die vielfältigen Sorgen der Menschen über Nationalismus, Wirtschaft, Klimawandel und Sicherheit zu finden.

Migration bleibt wichtig

Natürlich sollten die Parteien in der Migrationsfrage nicht schweigen. Sie bleibt ein wichtiges Thema, und die Ausgestaltung einer soliden Migrationspolitik wird Bestandteil davon sein, dass man sich das Recht erwirbt, bei anderen Themen Gehör zu finden. Doch die Parteien müssen mehr unternehmen, als nur über Grenzkontrollen zu sprechen, um eine Auseinandersetzung mit den Ängsten vor islamischem Radikalismus und der Abwanderung von Fachkräften, die viele europäische Länder betreffen, zu erreichen. Dazu gehört die Ausarbeitung einer Agenda rund um die Integration von Zuwanderern und die nationale Sicherheit, wobei Ängste vor kultureller Vielfalt, Polizei und Geheimdienst sowie Fragen der Staatsbürgerschaft und Sprache berücksichtigt werden. Das vielleicht bemerkenswerteste Ergebnis unserer Studie ist die Notwendigkeit, die Angst vor Auswanderung zu zerstreuen – und aufzuzeigen, wie Bürger ermutigt werden können, ihre Zukunft in ihren Heimatländern zu gestalten.

Die Erarbeitung eines derartigen Programms ist eine enorme Herausforderung – doch es in Angriff zu nehmen wird zu einer normalisierten Politik sowohl in den Ländern der Emigration als auch in jenen der Einwanderung führen. Das wäre der entscheidende Rückschlag für Orbán und Salvini – und könnte Steve Bannon sogar dazu bringen, seine Koffer zu packen und in die USA zurückzukehren.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor

Mark Leonard (*1975) ist Brite und Politikwissenschaftler, Autor sowie Mitgründer und Direktor des Europäischen Rats für Außenbeziehungen (ECFR).

Three reasons why migration doesn’t matter for the European elections

Latest poll shows that the most common threat perceived across Europe is Islamic radicalism and the fear of resurgent European nationalism.

The EU elections have been sold as a battleground over the heart of Europe. Viktor Orban, Matteo Salvini and Steve Bannon believe the election will be a referendum on migration. They think that the 2015 migration crisis upended European politics – putting mainstream parties on the defensive and going to the heart of European insecurity about identity. They want to use that issue to mobilise a sovereigntist coalition to dismantle the EU from the inside.

They won’t succeed. The findings from an ECFR opinion poll across Europe show that the political issues of 2019 are radically different than those of 2015. The campaign for a fortress Europe will not be a winning strategy this time round for three reasons.

Firstly our poll showed that Hungary is the only country where migration is still seen as the number one threat to the EU – little wonder given the endless stream of propaganda that Hungarian Prime Minister Victor Orban puts out through his state-controlled media. But in every other one of the 14 countries we polled we found at least five other themes that are equally if not more important to the population. Voters don’t see the European elections as a referendum on a single issue. Rather, they will make up their minds based on six distinct, thematic European elections – and the migration contest is not even the most important one.

Our poll shows that the most common threat perceived across Europe is Islamic radicalism – with large numbers of people from France, Germany and the Netherlands to Poland and Slovakia seeing this as the biggest threat to Europe. Another very important issue is the fear of nationalism returning to the EU, which is seen as more important – or at least equal – to migration in Austria, Finland, Denmark, Germany, Greece, the Netherlands, Poland and Spain. The effects of the economic crisis remain a huge issue in Italy, Romania, Greece and Slovakia. Another big surprise is around climate change. While only Denmark and Finland mentioned climate change as top threat, when asked as a standalone issue, we found spectacular majorities across our 14 polled countries. Finally, Russia has emerged as a big topic in Sweden, Denmark, the Czech Republic, Poland, Romania.

The second reason that migration is unlikely to mobilise voters is that even those who see it as a top issue mean radically different things when they talk about migration.

We found a divide between those who worry predominantly about immigration into their countries and those who worry about emigration leading to the disappearance of their countries from the map. While northern and western Europe still fears the inflow of outsiders, majorities in Italy, Spain, Hungary, Poland and Romania are much more worried about their own citizens leaving. Incredibly, double-digit majorities in all those countries would like their governments to make it illegal for their own citizens to leave for long periods of time. In a Europe that prides itself on tearing down borders and promoting free travel this move towards self-imprisonment is remarkable, but perhaps understandable. In Romania, one in five citizens have left their country over the last decade. These left behind feel so desperate that they seem ready to re-erect a migration wall for themselves – just three decades after the Berlin Wall fell.

Even amongst those more concerned about immigration, there was a big divide between those who worry about migration per se and those who see the problem as being about Islamic radicalism. The demographics for these two groups were very different, with pure migration- phoebes supporting far-right parties such the AFD, Le Pen’s Rassemblement National or the Austrian Freedom Party. By contrast, those who worry more specifically about Islamic radicalism tend to support mainstream centre-right parties such as the German CDU/CSU, the French Republicains, or Sebastian Kurz’s Austrian People’s Party.

Thirdly and perhaps most importantly, migration is not likely to inspire Europeans to go the polls. Our surveys show that a fear of resurgent European nationalism is much more likely to get people to go vote than concerns about migration.

This may reflect some of the big changes to politics since 2015. The most obvious one is the collapse in the numbers of arrivals – our TV screens are now more likely to be occupied by the chaos of Brexit than uncontrolled borders. It is also a reflection of the fact that mainstream parties are now all advocating stronger border controls – and there is not a single mainstream party advocating open borders.

Parties should not be silent on migration of course

However, in spite of the rosy picture there is a danger that the mainstream parties will fall into Orban’s trap and fight the elections on his terms. So what does our poll show non- nationalist political parties should do? The first lesson is to fight the campaign across the different areas that people are interested in – and to find emotionally compelling responses to the range of people’s concerns about nationalism, the economy, climate change and security.

The parties should not be silent on migration of course. It remains an important issue and articulating a sound policy on migration will be part of earning the right to be listened to on other issues. But the parties need to go beyond talking about border controls to engage with the fears of Islamic radicalism and the brain drain affecting many European countries. This means developing an agenda around the integration of migrants and security that addresses cultural anxiety, policing and intelligence as well as questions of citizenship and language. Perhaps the most striking finding of our study is the need to address fears of emigration – and show how citizens can be encouraged to make their futures in their own countries.

Formulating such a program is a huge challenge – but tackling it will help normalise politics in the countries of emigration and immigration alike. That would be the ultimate blow to Orban and Salvini – and might even convince Steve Bannon to pack his bags and return to the United States.

Mark Leonard is Director of the European Council on Foreign Relations.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2019)

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