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Europawahlkampf
"Das trotzige 'Wir für Europa' reicht nicht"

Drei Monate vor den Wahlen zum EU-Parlament sei "eine wirklich scharfe Inhaltsdebatte" nötig, sagte der Politologe Josef Janning im Dlf. Dass sich pro-europäische Parteien auf der richtigen Seite wähnten, reiche nicht aus. EU-kritische Parteien könnten nach der Europawahl ein Drittel der Abgeordneten stellen.

Josef Janning im Gespräch mit Gerwald Herter | 27.02.2019
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht am 13.09.2017 im Europaparlament in Straßburg.
Zum ersten Mal könnten EVP und Sozialdemokraten im EU-Parlament nicht mehr die absolute Mehrheit bilden, sagte Politologe Janning im Dlf. Im Bild: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Europaparlament in Straßburg, 2017 (dpa-Bildfunk / AP / Jean Francois Badias)
Gerwald Herter: In etwa drei Monaten werden wahlberechtigte EU-Bürgerinnen und Bürger bestimmen, wer sie im nächsten Europaparlament vertreten wird, dabei geht es um enorme Macht. Wo aber bleibt der Wahlkampf? Ein überparteiliches Bündnis verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen in Deutschland hat gestern zu mehr Wahlkampf aufgerufen, wohl nicht ganz zu Unrecht. Die Auseinandersetzung zwischen EU-Gegnern und -Befürwortern findet ohnehin ständig statt, und das Drama des Brexit schluckt sehr viel Aufmerksamkeit. Ist womöglich gar nichts anderes zu erwarten?
Josef Janning kann das solide einschätzen und bewerten. Er leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations, ist Politikwissenschaftler, hat schon viele Europawahlen genau verfolgt und mit ihm bin ich nun verbunden. Herr Janning, wissen Sie denn derzeit, wen oder wenigstens welche Partei Sie wählen sollten, wenn Sie für eine Reform der Europäischen Union wären?
Josef Janning: Ja, Herr Herter, das ist nicht ganz leicht zu sagen. Ich wüsste das schon, aber ich würde wahrscheinlich, wie so viele andere Wähler auch, eher so aus meiner Grundsympathie für eine bestimmte politische Partei diese Entscheidung treffen, als aus dem klaren Verständnis einer sozusagen Inhaltsdebatte, die sehr deutlich gemacht hat, wo wer steht, denn die haben wir im Moment nicht.
"Schwarzweißdenken Macron versus Orban"
Herter: Wir haben eine Auseinandersetzung zwischen EU-Gegnern und EU-Anhängern. Wir das aus Ihrer Sicht in den nächsten Wochen den Wahlkampf bestimmen?
Janning: Ich fürchte ja, und damit macht es sich das breite Lager der Pro-EU-Parteien vielleicht ein bisschen zu leicht, denn eigentlich müsste man in einer neuen und interessanten Sprache über die Inhalte sprechen, müsste also das machen, was man in einem guten Wahlkampf wirklich macht, nämlich seine Konzepte, seine Angebote, seine Lösungen für die aktuelle politische Agenda auf europäischer Ebene präsentieren. Stattdessen erliegt man leicht der Versuchung Macron versus Orban. Also dieses Schwarzweißdenken, hier ist nun ein nationalistisches Lager, das am liebsten die EU zurückrollen möchte, und gegen das müssen wir uns stemmen, und da stehen wir alle zusammen. Das entbehrt natürlich dann auch der Notwendigkeit, eine wirklich scharfe Inhaltsdebatte zu führen, weil man sich im rechten Bekenntnis einig weiß.
Herter: Aber wird es denn nicht doch ums Ganze gehen, oder ist die große Sorge vor dem Erfolg populistischer EU-skeptischer Parteien unberechtigt?
Janning: Ja, natürlich geht es ums Ganze. Die Sorge ist nicht unberechtigt. Die eher EU-kritischen bis EU-feindlichen Parteien werden wahrscheinlich ein Drittel, vielleicht sogar ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger an Sitzen in diesem Parlament haben und damit so viele wie noch nie zuvor, aber gleichzeitig muss man nicht glauben, dass dann das trotzige Bekenntnis "Wir für Europa" allein schon genügen würde, diesem entgegenzutreten. Ich glaube, dass der Aufstieg dieser Parteien gerade damit zu tun hat, dass die Europadebatte im Mainstream, wenn ich das mal so ausdrücken darf, häufig ritualisiert, verkrustet und doch ziemlich langweilig geworden ist.
"EU-Parlament zum Schauplatz einer lebendigen Debatte machen"
Herter: Braucht man denn überhaupt viele Sitze im Europaparlament, um wirken zu können? Ich denke da an Nigel Farage, den Briten, der hatte ja den Brexit vorangetrieben aus dem Europaparlament. Obwohl er völlig isoliert war, ist er damit ja sehr weit gekommen.
Janning: Das stimmt. Die europakritischen und europafeindlichen Parteien werden die Plattform des Parlamentes nutzen, um vor allen Dingen in den Debatten in ihren Ländern, vielleicht weniger auf europäischer Ebene, aber in ihren Ländern Punkte zu machen. Und das ist ein gewisses Risiko, aber gleichzeitig auch eine Herausforderung an die Parlamentarier und an die sozusagen demokratische Kultur, dieses deutlich pluralere europäische Parlament nicht zum Schauplatz der Ausgrenzung, sondern zum Schauplatz einer lebendigen und in der Sache interessanten Debatte zu machen.
"Parteienfamilien erleben den Herbst ihrer Existenz"
Herter: Ausgrenzung ist ein gutes Stichwort: Es ruckelt in den europäischen Parteienfamilien, die EVP, zu der auch CDU und CSU gehören, ringen, diskutieren zumindest über einen möglichen Ausschluss der Fidesz und damit des ungarischen Regierungschefs Orban. Andererseits treten aber auch Bewegungen wie Volt Europa oder En Marche an. Ganz kurz zum Abschluss, Herr Janning, wird solchen Bewegungen die Zukunft gehören, und sind die Parteienfamilien vielleicht von gestern?
Janning: Das kann gut sein, denn die Parteienfamilien erleben zumindest so etwas wie den Herbst ihrer Existenz. Zum ersten Mal werden wahrscheinlich EVP und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament nicht mehr die absolute Mehrheit bilden, und damit wird eine jahrzehntealte informelle Großkoalition ans Ende gehen. Das wird eine Reihe weiterer Veränderungen nach sich ziehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.