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Podemos bietet Spaniern verführerische Wahrheit

Das Phänomen Syriza ist kein Einzelfall – die Absage an Haushaltsdisziplin und Sparpolitik, an Finanzkontrolle und Brüsseler Reformvorgaben hat sich im Zeichen einer linken Erneuerung auch die spanische Podemos-Partei auf die Fahnen geschrieben. Mit der politischen Programmatik von Podemos hat sich auch der spanische Politologe José Ignazio Torreblanca in seinem Buch "Asaltar Los Cielos" auseinandergesetzt.

Von Hans-Günter Kellner | 21.09.2015
    Pablo Iglesias von der spanischen Podemos-Partei.
    Pablo Iglesias von der spanischen Podemos-Partei. (dpa / picture alliance / Alberto Martin)
    Bücher über Podemos gibt es in Spanien viele. Manche sehen die neue Partei mit den hervorragenden Umfragewerten als Heilsbringer, andere werfen ihr vor, eine linke Diktatur errichten zu wollen. Wenn etwas "Den Himmel im Sturm erobern – Podemos oder die Politik nach der Krise" auszeichnet, dann, dass der spanische Politikwissenschaftler José Ignacio Torreblanca hier eine tiefgründige Untersuchung über die neue Partei vorgelegt hat – und kein Buch zugunsten oder gegen die neue Formation. Es ist eine gründlich recherchierte Betrachtung aus einer kritischen Distanz. Im Prolog erklärt Torreblanca den Buchtitel - "Den Himmel im Sturm erobern":
    "Der Titel stammt aus einem Satz, den Pablo Iglesias auf der Bürgerversammlung in der Vista-Alegre-Halle im Oktober 2014 aussprach. Er rechtfertigte dabei seine Entscheidung, keinen Vorstand der Integration und des Konsens zu akzeptieren, dem auch der kritische Sektor angehört hätte. 'Den Himmel erobert man nicht im Konsens', sagte Iglesias, 'sondern im Sturm'. Der Satz stammt von Karl Marx, er beschrieb damit den Mut der Kommune von Paris. Marx hatte die französischen Arbeiter im September 1870 gewarnt, der Aufstand sei ein Wahnsinn. Aber sie seien 'bereit, den Himmel im Sturm zu erobern'."
    Torreblanca ist Politologe an der spanischen UNED-Universität in Madrid und Vorsitzender des Madrider Büros des European Council on Foreign Relations. Sogar Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias bescheinigt dem Autor bei allen inhaltlichen Differenzen, ein ausgezeichneter Analytiker zu sein. Torreblanca kennt die Doktorarbeiten der Podemos-Gründer, ihre Schriften, Reden, Fernsehauftritte. Er schildert die ideologische Entwicklung der Spitzenfunktionäre als Antiglobalisierungsgegner mit einem diffusen Verhältnis zur Gewalt hin zu den heutigen Parteistrategen, die alles dem Erfolg unterordnen. Dabei verwebt Torreblanca allerdings Zitate mit Interpretationen aus seiner eigenen Perspektive. So schreibt er etwa über die Haltung des Podemos-Mitbegründers Iñigo Errejón:
    "Wenn sich die liberale Demokratie kulturell in einer dermaßen hegemonialen Situation befindet, dass die Leute sich keine Alternativen zu ihr vorstellen können, dann muss die Linke intellektuell aufständisch sein. Podemos ist folglich nichts weiter als ein Aufstand des Denkens angesichts eines in erster Linie ideologischen Kriegs. Darum widmet Iñigo Errejón seine Doktorarbeit seinem 'Vater, der mich denken und kämpfen lehrte'. Von Gramsci zu Negri ist die Lehre offensichtlich: Denken ist Kämpfen und Kämpfen ist Denken. Bevor sie an die Macht kommt, muss die Linke das Gewissen der Menschen durchqueren. Genau das ist die Strategie von Podemos."

    Und der Weg in das Gewissen der Menschen hinein führe über die Sprache und Kommunikation, zitiert Torreblanca Errejón weiter. Schon vor der Parteigründung experimentierten die führenden Politiker von Podemos mit TV-Formaten. Seit Jahren strahlen sie über das Internet ihre Debattensendungen aus. Sie sind auch in allen Talkshows präsent. "Das Fernsehen ist das große Medium unserer Zeit, das wichtigste Medium um festzusetzen und zu bestimmen, was die Menschen denken, wichtiger als die Erziehung, die Familie oder die Kirche", zitiert der Autor Podemos-Gründer Iglesias. Über dieses Medium konnte Podemos ihren Diskurs von der sogenannte "Kaste" etablieren, von einer korrupten Clique aus Parteipolitikern und Wirtschaftsbossen. - Demnach fußt der Podemos-Populismus.
    Teilnehmer des "Marsches für Veränderung" am 31.1.2015 in der spanischen Hauptstadt Madrid, zu der die neue Partei Podemos aufgerufen hatte. 
    Teilnehmer des "Marsches für Veränderung" am 31.1.2015 in der spanischen Hauptstadt Madrid, zu der die neue Partei Podemos aufgerufen hatte. (picture-alliance / dpa / Elena Shestenina)
    "Auf dem Volk als Opfer eines Feindes – eines Antivolks, meist einer politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Elite, ohne die das Volk seine Probleme nicht verstehen kann. Auf die gleiche Weise fußt der Nationalismus auf dem 'anderen', einem Feind von außen, der auch hier das Vaterland unterdrückt und demütigt. Dieses Element der Opposition ist der 'Finanztotalitarismus', der in Allianz mit den politischen Mächten Europas (Merkel, die Troika etc.) und gestützt auf 'feige Regierungen' (Rajoy in Spanien, Samaras in Griechenland), 'dem Volk die Souveränität entreißt'."
    Podemos bietet den Spaniern damit eine verführerische Wahrheit an. Die tiefgreifende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Krise ist kein Ergebnis gesamtgesellschaftlichen Versagens, sondern eines Verbrechens der "Kaste" an der Nation.
    Trotzdem wurden die Ergebnisse bei den jüngsten landesweiten Regionalwahlen dem Führungsanspruch von Podemos in Spanien nicht gerecht. Die Allmacht der beiden großen Volksparteien wurde zwar zurückgedrängt. Aber Podemos kam im Landesdurchschnitt nicht über 15 Prozent hinaus. Torreblanca hat sein Buch schon vor dem Urnengang beendet. Aber auch sein Ausblick gibt Anlass zur Hoffnung:
    "Das abschließende Paradoxon ist vielleicht, dass die Gesellschaft sich endlich für eine effektive Trennung der Mächte im Staat entschieden hat: Indem sie die Macht auf drei oder mehr Protagonisten verteilt, so dass niemand mehr seinen Willen den anderen aufzwingen kann.
    Einen großen Wehrmutstropfen gibt es bei Torreblancas Werk: Bei so vielen Verweisen ins Internet würde man sich eine echte e-book-Version mit eingearbeiteten Hyperlinks wünschen. Zum Beispiel, wenn der Autor eine Rede von Pablo Iglesias mit der des verstorbenen venezolanischen Staatschefs Hugo Chávez vergleicht. Stattdessen werden dem Leser im Anhang endlose URL-Adressen geliefert. Vielleicht wird das ja in der deutschen Fassung nachgeholt. Verhandlungen dafür gibt es bereits.
    José Ignacio Torreblanca: "Asaltar los cielos - Podemos o la política después de la crisis." (Den Himmel im Sturm erobern – Podemos oder die Politik nach der Krise.)
    Debate-Verlag Spanien, 218 Seiten, 15,90 Euro.