Donnerstag, 28. März 2024

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Europäisches Asylverfahren
"Die Gemeinsamkeiten müssen am Ende erzwungen werden"

Ein gemeinsames europäisches Verfahren würde die Bewältigung der Flüchtlingsströme erleichtern, sagte der Politikwissenschaftler Josef Janning im DLF. Der Weg hin zu einer gemeinsamen Asylpolitik werde aber durch unterschiedliche nationale Traditionen der EU-Mitgliedsstaaten erschwert. Deshalb sei es sinnvoll, dass Länder mit ausgeprägter Zuwanderung vorangingen.

Josef Janning im Gespräch mit Mario Dobovisek | 10.09.2015
    Josef Janning vom European Council on Foreign Relations auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2008.
    Josef Janning vom European Council on Foreign Relations auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2008. (Imago / Wolf P- Prange)
    Mario Dobovisek: Stopp für Flüchtlinge an der deutsch-dänischen Grenze. Viele Menschen harren in der Nacht auf dem Flensburger Bahnhof aus. Sie wollen weiter in den hohen Norden und müssen stundenlang warten, bis der Zugverkehr nach Dänemark wieder rollt, aber offenbar nicht für alle Flüchtlinge.

    Einige Flüchtlinge dürfen also weiterreisen in Richtung Schweden. Wir haben es gerade gehört. Kritik daran übt die Dänische Volkspartei. Das klinge, als habe die Regierung aufgegeben, die Situation zu steuern, sagen die Rechtspopulisten in Dänemark. Europa zwischen abgeriegelten Grenzen und offenen Armen.

    Am Telefon begrüße ich Josef Janning, Politikwissenschaftler am European Council on Foreign Relations. Guten Tag, Herr Janning.
    Josef Janning: Guten Tag, Herr Dobovisek.
    Dobovisek: Fassen wir das mal zusammen. Wir beobachten europäische Nachbarn, die ihre Grenzen abriegeln und wieder öffnen, andere, die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen oder einfach weiterleiten, obwohl es Regeln gibt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker diagnostiziert, Europa sei in keinem guten Zustand. Was läuft schief am Gemeinschaftsprojekt Europa?
    Janning: Zunächst einmal: Es gibt zwar ein gemeinsames Rahmenregelwerk, aber nicht wirklich eine gemeinsame Politik. Das heißt, wir haben in diesem gemeinsamen Rahmen immer noch Politiken der Mitgliedsstaaten, die miteinander nicht unbedingt kompatibel sind, die miteinander nicht abgestimmt sind. Auch in dem Moment, in dem Deutschland entschied, nun auf eigene Faust gewissermaßen Ungarn, Griechenland und Italien zu entlasten, war dieses nicht unbedingt mit den anderen abgestimmt. Und wir haben vor allen Dingen auch eine größere Zahl von Flüchtlingen, die ihre eigene Vorstellung davon haben. Das sehen wir ja im Moment jetzt zwischen Deutschland und Dänemark. Ein Teil der Flüchtlinge möchte weiter nach Schweden und verfängt sich nun in dem Gestrüpp der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Regelungen.
    Flüchtlinge sind zu Fuß auf der E45 in Dänemark unterwegs.
    Hunderte Flüchtlinge versuchen, von Padborg aus auf der E45 zu Fuß weiter nach Schweden zu gehen. (picture alliance / dpa / Claus Fisker)
    Dobovisek: Nun diskutieren die Spitzenpolitiker Europas ja, sie streiten weiter über diese festen Verteilquoten. Was sollen die überhaupt bringen, wenn viele Flüchtlinge, wie Sie es sagen, bereits feste Ziele vor Augen haben, zum Beispiel Deutschland oder Schweden?
    Janning: Sie sollen die Lage insofern beruhigen, als dass Deutschland und Schweden, also wenige EU-Länder nicht alle Flüchtlinge werden aufnehmen können. Es ist klar, dass viele dorthin gehen werden, wo sie am Ende auch eine wirtschaftliche Zukunft finden können, nachdem sie anerkannt worden sind, aber das muss sich in einem breiteren Kontext der EU abspielen. Das heißt, die EU muss schon von den Menschen, die zu ihnen kommen, verlangen, dass sie sich an die von ihr gesetzten Regeln halten, und dazu wird eine Verteilung auf die EU-Staaten gehören. Es werden sich ja nicht alle Staaten in gleicher Weise beteiligen. Zum Glück gibt es dann die Möglichkeit und ich hoffe, dass da eine Übereinstimmung erreicht wird, finanziell solidarisch zu sein. Aber anerkannte Flüchtlinge, die eine Zeit lang in entsprechenden Mitgliedsstaaten leben, sich einbürgern lassen, werden dann als EU-Bürger Freizügigkeit genießen und dann doch dorthin gehen, wohin sie gehen wollen. Aber diese Übergangsphase, diese Eingewöhnungs-, Registrierungs- und Anerkennungsphase werden sie nach den Regeln der Europäer überstehen müssen.
    Dobovisek: Aber selbst wenn viele Flüchtlinge am Ende in Europa verteilt würden, wie sie sagen, und fernab ihrer eigentlichen Ziele landen, bevor sie freizügig werden, sei es in Ostpolen, Portugal oder der Slowakei. Wer will sie aufhalten, wenn sie denn sofort weiterreisen?
    Janning: Das ist richtig. Nur wenn es eine gemeinsame gesetzliche Regelung gibt, dann müssen sich die Mitgliedsstaaten ebenso wie die Bürger, ebenso wie die Menschen, die in diesen Mitgliedsstaaten leben, daran halten. Das bedeutet aber auch, dass die EU insgesamt dann auch ein Asylverfahren und Asyl-Sozialleistungen braucht, die nicht in krassem Unterschied zueinander stehen und damit natürlich Flüchtlingsbewegungen von einem in das andere Land geradezu provozieren.
    Dobovisek: Ein gemeinsames europäisches Asylverfahren?
    Janning: Ja. Ein gemeinsames europäisches Verfahren würde viele Dinge erleichtern, würde es auch erlauben, schneller voranzugehen, insbesondere dann, wenn es auch die Möglichkeit gäbe, auf einer klaren gesetzlichen Basis nach Europa einzuwandern und es damit diese Einwanderung über das Asylsystem für diejenigen, die eine wirtschaftliche Zukunft für sich und ihre Familien suchen, in dieser Weise nicht mehr gibt.
    "Deutschland hat auf eigene Faust gehandelt"
    Dobovisek: Was bedingt eine gemeinsame europäische Asylpolitik? Wird es die geben können?
    Janning: Ich glaube, dass der Weg dahin schwierig ist, weil einfach unterschiedliche nationale Traditionen und Besitzstände hier zusammenkommen müssen. Mein Eindruck ist, dass diese Gemeinsamkeit am Ende stückweise erzwungen werden wird über die am dichtesten verflochtenen Mitgliedsstaaten. Das sind vor allen Dingen Deutschland und seine Nachbarn, Deutschland und Frankreich, also der hochindustrialisierte, wohlhabende Kernraum der Europäischen Union, in dem sich das Gros dieser Bewegungen abspielt. Wenn diese Staaten zu einer gemeinsamen Regelung, zu einer gemeinsamen Politik finden, dann haben sie die Chance, dass auf den Raum der Europäischen Union insgesamt auszudehnen.
    Dobovisek: Das Diktat der Großen also, könnte man vielleicht zugespitzt formulieren. Ist das der richtige Weg, um ein gemeinsames solidarisches Europa zu bauen?
    Asylbewerber je eine Million Einwohner in den EU-Ländern im 1. Quartal 2015.
    Asylbewerber je eine Million Einwohner in den EU-Ländern im 1. Quartal 2015. (picture-alliance/ dpa-Grafik)
    Janning: Das ist weniger ein Diktat der Großen, weil ja eine ganze Menge Kleiner dabei sind, wenn Sie an die Niederländer, die Österreicher, die Belgier, die Schweden, die Dänen und so weiter denken. Sondern es ist sozusagen das Momentum der Mitte. Es sind diejenigen Teile der Europäischen Union, in denen diese demographische Bewegung am stärksten ausgeprägt ist, in denen Zuwanderung stattfindet, in denen die industrielle Kapazität zur Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt in hohem Maße vorhanden ist. Das sind am Ende die Elemente, die andere dann mitziehen und mitnehmen müssen.
    Dobovisek: Deutschland pocht auf Regeln und lässt gleichzeitig Flüchtlinge unregistriert nach Dänemark weiterreisen. Bricht Deutschland damit die Dublin-III-Regeln ebenso wie es Ungarn getan hat?
    Janning: Das könnte man so sehen. Im Moment geht es allerdings darum, das Dublin-System davor zu bewahren, dass es an der Überforderung der Ankunftsstaaten kollabiert. So sehe ich auch die Haltung Berlins. Nämlich in einem Moment, in dem Italien, Griechenland und Ungarn völlig überfordert waren mit den steigenden Zahlen, Druck aus den Regionen zu nehmen, Flüchtlinge unbürokratisch aufzunehmen. Das erlaubt das Dubliner System ja auch. Dass man sie nun auch nach Schweden weiterziehen lässt, ist nicht Gehalt der Regelung, aber ich würde es noch unter diesem Entlastungsversuch registrieren. Eine dauerhafte Lösung kann das nicht sein.
    Dobovisek: War es vielleicht auch ein Fehler Deutschlands, der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin, die Arme so weit auseinanderzureißen und die Flüchtlinge willkommen zu heißen, was sich ja - das beobachten wir in den vergangenen Tagen und Wochen - über soziale Medien und die Handys, die die Flüchtlinge mithaben auf ihrem langen beschwerlichen Weg, soweit verbreitet, dass nun alle plötzlich genau Deutschland als Ziel haben?
    "Debatte in der EU hat sich fundamental verändert"
    Janning: Ja, damit muss man leben. Aber die Situation war in der Tat dramatisch und sie ist noch immer dramatisch in Griechenland, in Ungarn, aber auch in Italien. Das heißt, hier musste etwas geschehen. Insofern war die Veränderung der deutschen Position, nun Flüchtlinge aufzufordern, nach Deutschland zu kommen, was sich ja im Wesentlichen auf die bezieht, die da sind, nicht auf diejenigen, die dann nachziehen - aber das ist die nicht intendierte Konsequenz solcher Handlungen -, gedacht, diese Drucksituation zu entlasten, damit das EU-Dublin-System vor dem Zusammenbruch zu bewahren. In einem nächsten Schritt müsste Deutschland dann darauf hinwirken, dass über die Verteilung von Flüchtlingen damit auch der Asylprozess dieser größeren Zahl von Menschen auf eine größere Zahl von Mitgliedsstaaten verteilt wird, damit die Entlastung nicht nur punktuell und momentan wirkt, sondern dass es eine strukturierte und damit dauerhaftere Entlastung gibt. In dem Moment, wo Deutschland sich so geöffnet hat, hat sich damit auch die Debatte in der EU fundamental verändert, weil nun einer der größten und gewichtigen EU-Staaten selbst ebenso betroffen ist und entsprechende Forderungen formuliert wie vorher Italien oder Griechenland.
    In der Kaserne in Manching hat Bayern die neue Einrichtung für Asylbewerber ohne Bleibeperspektive eingerichtet.
    In der Kaserne in Manching hat Bayern die neue Einrichtung für Asylbewerber ohne Bleibeperspektive eingerichtet. (picture-alliance / dpa / Sven Hoppe)
    Dobovisek: Kommende Woche beraten die Innen- und Justizminister der Europäischen Union ja ein weiteres Mal über den Umgang mit den Flüchtlingen. Was ist die erste Maßnahme, die die Innenminister und Justizminister nächste Woche beschließen sollten?
    Janning: Zunächst einmal müssen sie das Sofortpaket beschließen und dann das, was Kommissionspräsident Juncker ja vorgestellt hat. Im Wesentlichen sind das diese 120.000 zusätzlichen Flüchtlinge. Und wenn sie dies beschließen, beschließen sie damit den Einstieg in einen Verteilungsschlüssel, selbst wenn man ihn nicht Quote nennt. Zum zweiten müssen sie sich mit der Frage der sicheren Herkunftsländer befassen, um eine europäische Möglichkeit zu haben, die Asylverfahren in den Mitgliedsstaaten zu beschleunigen. Der dritte Punkt wird dann sein, wie kommt man von dieser Notmaßnahme hin zu einem dauerhaften Mechanismus. Die Kommission hat dazu ja ebenfalls Vorschläge unterbreitet. Ich sehe nicht, dass das schon am kommenden Montag alles entscheidungsreif ist, aber man muss die Erstentscheidungen so anlegen, dass sie dann später in einen strukturierten Prozess überführt werden können.
    Dobovisek: Der Politikwissenschaftler Josef Janning über den Umgang mit den Flüchtlingen, die nach Europa kommen. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Janning: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.