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Flüchtlingskrise: "Nicht die gleichen Werte in Ost und West"

Alexander Andreev13. März 2016

Während in Westeuropa intensiv um Lösungen der Flüchtlingsfrage gerungen wird, bleiben die meisten Osteuropäer unbeeindruckt. Eine neue Kluft hat sich aufgetan, sagt der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev.

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Grenze Ungarn - Serbien - Flüchtlinge (Foto: picture-alliance/dpa/Z. Gergely Kelemen)
"Festung Europa" - die Grenze zwischen Ungarn und Serbien ist für Flüchtlinge gesperrtBild: picture-alliance/dpa/Z. Gergely Kelemen

DW: Herr Krastev, zurzeit scheinen West- und Osteuropa unterschiedliche Sprachen zu sprechen. Wie erklären Sie das?

Ivan Krastev: Die Finanzkrise hat die EU in Gläubiger und Schuldner gespaltet und eine Kluft zwischen Norden und Süden aufgerissen. Nun erzeugt die Flüchtlingskrise eine neue Ost-West-Spaltung. Heute erleben wir nicht einfach einen Mangel an Solidarität, wie in der EU oft zu hören ist, sondern einen Zusammenstoß zwischen verschiedenen Solidaritäten: zwischen nationaler, ethnischer und religiöser Solidarität auf der einen und unserer Plicht als Menschen auf der anderen Seite.

Die Osteuropäer sind nicht der Ansicht, dass sie die Solidarität, die sie ihren Landsleuten schulden, auch jenen anderen Menschen schulden, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Die Flüchtlingskrise hat deutlich gemacht, dass der Osten Europas gerade jene Grundwerte als Bedrohung empfindet, auf denen die Europäische Union basiert, während für viele in Westeuropa eben diese universellen Werte den Kern der neuen europäischen Identität ausmachen. Aus der Sicht des Westens ist diese Einstellung unsittlich, ja skandalös. Während in Deutschland nahezu zehn Prozent der Bevölkerung sich an privaten Hilfsaktionen für Asylsuchende beteiligen, bleibt die Öffentlichkeit in Osteuropa unbeeindruckt von der Flüchtlingstragödie, viele Politiker geißeln sogar die Brüsseler Flüchtlingsquoten.

Also, eine asymmetrische Reaktion auf die Flüchtlingskrise?

In den meisten westeuropäischen Ländern führte die Flüchtlingskrise zu einer Polarisierung der Gesellschaft, zu einer Konfrontation zwischen Befürwortern und Gegnern einer Politik der offenen Tür, zwischen denen, die ihre Häuser für Flüchtlinge öffnen und solchen, die Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzen. Und in den mittel- und osteuropäischen Ländern einten sie die ansonsten gespaltenen Gesellschaften in ihrer nahezu einmütigen Ablehnung der Flüchtlinge. Die osteuropäischen Ressentiments gegen Flüchtlinge erscheinen aber besonders abwegig, wenn man zwei Tatsachen in Betracht ziehen würde. Erstens, dass die Osteuropäer im größten Teil des 20. Jahrhundert massenhaft damit beschäftigt waren, selbst auszuwandern oder sich um Einwanderer zu kümmern. Und zweitens, dass es heute in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern gar keine syrischen Flüchtlinge gibt.

Unbeantwortet bleibt aber die Frage: warum sind die Osteuropäer so unbeeindruckt von der Flüchtlingstragödie?

Die Rückkehr der Ost-West-Spaltung in Europa ist kein unglücklicher Zufall. Sie hat ihre Wurzeln in der Geschichte, in der Demographie und in den Turbulenzen der postkommunistischen Übergangszeit. Gleichzeitig aber ist sie ein mitteleuropäischer "Volksaufstand" gegen die Globalisierung. Die Geschichte hat in Mittel- und Osteuropa großes Gewicht. Sehr oft aber widersprechen die geschichtlichen Erfahrungen dort den heutigen Versprechungen der Globalisierung. In Mitteleuropa kennt man besser als anderswo in Europa die Vorzüge, aber auch die dunklen Seiten multikultureller Gesellschaften.

Ivan Krastev (Foto: BGNES)
Ivan Krastev gilt als einer der wichtigsten politischen Denker OsteuropasBild: BGNES

Die osteuropäischen Staaten und Nationen entstanden erst spät im 19. Jahrhundert, und zwar auf einen Schlag. Während in der westlichen Hälfte Europas das Vermächtnis der Kolonialreiche die Begegnung mit der außereuropäischen Welt prägte, gingen die mitteleuropäischen Staaten aus dem Zerfall von Reichen und den nachfolgenden ethnischen Säuberungen hervor. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Polen beispielweise eine multikulturelle Gesellschaft, in der mehr als ein Drittel der Bevölkerung aus Deutschen, Ukrainern oder Juden bestand. Heute aber ist Polen mit seinen 97 Prozent ethnischen Polen eine der ethnisch homogensten Gesellschaften der Welt. Die Rückkehr zu ethnischer Vielfalt erscheint vielen daher als ein Rückfall in die schwierigen Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen.

Sind die Mittel- und Osteuropäer in ihrer Einstellung zu Nation und Staatlichkeit zurückgeblieben im Vergleich zu Westeuropa?

Nicht genau. Ihre Einstellung ist einfach eine andere. Die EU basiert auf der französischen Idee der Nation, also Zugehörigkeit als Loyalität gegenüber den Institutionen, und auf der deutschen Staatsvorstellung - mächtige Länder und ein relativ schwaches föderales Zentrum. Die mittel- und osteuropäischen Länder haben aber die deutsche Idee der Nation und die französische Staatsvorstellung übernommen. Diese Länder kombinieren die Bewunderung für den allmächtigen Zentralstaat der Franzosen mit der von den Deutschen getragenen Vorstellung, die Staatsangehörigkeit gründe in einer gemeinsamen Abstammung und Kultur. Für viele Osteuropäer sind Parolen wie "Polen – den Polen" oder "Deutschland – den Deutschen" nachvollziehbar, nicht aber die Idee eines Europas der Europäer. Denn Europa hat keine politische Schwerkraft und keine ethnische Identität, wir haben keine gemeinsame Sprache und unsere gemeinsame Geschichte ist eher dazu da, um uns zu teilen als zu vereinen. Indem es sich gegen die Flüchtlinge stellt, kann Osteuropa eine radikale Krise der Solidarität in der EU anstoßen und paradoxerweise selbst von Westeuropa abgestoßen werden.

Das Gespräch führte Alexander Andreev

Ivan Krastev ist Politikwissenschaftler, Präsident des Center for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.