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Die Wut auf den PiS-Chef Kaczynski ist gewaltig. Zuletzt trieb das verschärfte Abtreibungsgesetz die Massen auf die Straßen.

© imago images/ZUMA Wire

EU einigt sich auf Rechtsstaatsmechanismus: Polens Veto-Drohung ist Theaterdonner

Kaczynski will den Haushalt blockieren. Dabei braucht er das EU-Geld besonders dringend - was auch mit den Abtreibungsprotesten zu tun hat. Ein Gastbeitrag.

- Piotr Buras leitet das Warschauer Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Jaroslaw Kaczynski führt gerade zwei Kämpfe, und wie die ausgehen, wird die Weichen der polnischen und europäischen Politik neu stellen.  In dem einen Kampf geht es um das Überleben seines Regimes. Im zweiten geht es um EU-Milliarden. Es naht somit nicht nur für die polnische Gesellschaft die Stunde der Wahrheit, sondern auch für die Europäische Union.

In Polen hat die Regierung, deren heimlicher Strippenzieher Kaczynski als Chef der Regierungspartei PiS ist, gerade eine Woche der Proteste hinter sich. Hundestausende polnische Bürgerinnen und Bürgern sind im ganzen Land auf die Straßen gegangen, um ihre Wut auf die Regierung loszuwerden. Auslöser war ein Urteil des Verfassungsgerichts, das am 22. Oktober entschied, dass Abtreibungen selbst im Falle von schlimmsten Missbildungen des Fötus verfassungswidrig seien.

Das damit einhergehende beinahe komplette Abtreibungsverbot sorgte für Empörung – ebenso wie die Umstände, unter denen es zustande gekommen ist: Nicht nur wurde die Entscheidung in dieser höchst kontroversen Frage mitten in der sich verschärfenden Corona-Pandemie getroffen. Der Regierung fehlte auch der Mut, die Reform des Abtreibungsgesetzes, die 80 Prozent der Polen inakzeptabel finden, im Parlament durchzusetzen und politische Verantwortung dafür zu übernehmen.

Stattdessen bediente sie sich des ihr gefügigen Gerichtshofs, den die PiS gleich nach ihrem Machtantritt 2015 mit verfassungswidrigen Tricks unter Kontrolle nahm und mit ihren Leuten besetzte.

Obwohl PiS über eine knappe absolute Mehrheit in Parlament verfügt und sich in den kommenden drei Jahren keinen Wahlen stellen muss, wackelt die einst unangefochtene Hegemonie des Parteivorsitzenden Kaczynski, der seit 2015 Jahren fast fünf Jahre lang als einfacher Abgeordneter ohne  Regierungsverantwortung (der Premierminister heißt Mateusz Morawiecki) über die Geschicke des Landes bestimmte.

Die Regierung versäumte aber, das Land für die zweite Welle der Corona-Pandemie vorzubereiten, und  Polen befindet sich nunmehr unter den unrühmlichen Spitzenreitern der aktuell am stärksten von Covid-19 betroffenen Länder. Im September stand das Regierungslager am Rande der Spaltung, und Kaczynski musste selbst die Aufgabe des stellvertretenden Ministerpräsidenten übernehmen, um die Konflikte zwischen den verfeindeten Ministern zu schlichten. Die Entscheidung, ausgerechnet jetzt den Konflikt um Abtreibungen entflammen zu lassen, war sein Verzweiflungsakt: Kaczynski wollte damit die eigenen Reihen schließen und den harten Kern der Anhängerschaft mobilisieren.

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Doch das ging nach hinten los. 54 Prozent der Polen unterstützen die Massenproteste, nur 34 Prozent sind dagegen. Kaczynskis Fernsehansprache am 28. Oktober, in der er seine Anhänger aufrief, auf die Straßen zu gehen, um die katholische Kirche und Tradition „um jeden Preis“ zu verteidigen (was einer Anstiftung zum Bürgerkrieg nah kam), wurde sogar von etlichen Politikern der Regierung mit Erschrecken vernommen. Sie zeigte einen realitätsfernen Politiker, der sein Rückzugsgefecht mit starken, aber matten Worten zu kaschieren versucht.

Die Zweifel, dass Kaczynski noch das politische Zugpferd ist, auf das es sich zu setzen lohnt, sind in seinem Lager so groß geworden wie nie zuvor. Die Aura der Stärke und Unfehlbarkeit eines Großstrategen löst sich auf.  Die Protestierenden schleudern ihm nicht nur das vulgäre „PiS off!“, „Verpiss dich!“ entgegen, sondern machen sich auf eine schonungslose Art über ihn lustig. Und das Lachen ist für Autokraten viel gefährlicher als ein Hass, der sich gegen sie richtet. 

Der Corona-Fonds ist auch für Polen wichtig

Die polnische Politik ist am Scheideweg und der Ausgang der jüngsten Proteste offen. Ob Kaczynski noch einmal die Kurve kriegt, wird womöglich davon abhängen, ob er in seiner anderen großen Partie reüssiert: im Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit mit der EU. Dieser Streit, den er seit Jahren führt, ist am Donnerstag entscheidend voran gekommen: Die meisten EU-Mitgliedstaaten und das Europaparlament haben sich darauf geeinigt, die Ausgaben aus dem EU-Haushalt 2021-2027 an den Respekt für die EU-Werte, allen voran Rechtsstaatsprinzipien wie Unabhängigkeit der Justiz, geknüpft werden. Sprich: Wer mit seiner Politik die Fundamente der EU untergräbt, soll kein EU-Geld mehr erhalten.

Derzeit wird heftig über einen entsprechenden Mechanismus gestritten. Kaczynski und mit ihm der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sind vehement dagegen. Sollte ein Mechanismus angenommen werden (dafür braucht es eines qualifizierten Mehrheit im EU-Rat), drohen sie mit einem Veto gegen den gesamten EU-Haushalt, inklusive des neuen Corona-Aufbaufonds, der mit 750 Milliarden die angeschlagene europäische Wirtschaft unterstützen soll. Viele Länder in der EU, inklusive der deutschen EU-Präsidentschaft, die das Konzept des Rechtsstaatsmechanismus angesichts dieser Drohung verwässern ließ, wirkten lange wie erstarrt. Zu Unrecht.

Ist Kaczynski ideologisch so verblendet?

Kaczynski pokert sehr hoch. Ein Veto gegen den EU-Haushalt würde die gesamte EU in eine tiefe politische und ökonomische Krise stürzen.  Der Corona-Fonds, auf den viele Länder ungeduldig warten, würde auf Eis gelegt. Da aber Polen zu den größten Nutznießern sowohl des EU-Haushalts, als auch des Corona-Fonds gehört, würde Polen einen politökonomischen Selbstmord begehen, sollte Kaczynski seinen Worten Taten folgen lassen. Polen weist auch wegen der generösen Sozialpolitik der aktuellen Regierung ein hohes Staatsdefizit auf und blickt einer wirtschaftlichen Krise entgegen. Es kann ohne das EU-Geld nicht auskommen. 

Möglich, dass Kaczynski dies nicht begreift, oder dass er in seiner ideologischen Verblendung bereit ist, Polens Interessen auf Spiel zu setzen. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass sein Versuch, mit dem Veto zu hantieren, ein Schritt zu weit wäre. Das würde noch mehr Leute auf die Straßen bringen und, wichtiger noch, für seine politischen Verbündeten ein Signal sein, dass es an der Zeit ist, sich neu zu sortieren. 

Kaczynskis planloser und verzweifelter Kampf gegen Frauen, Corona und die EU könnte ihn letzten Endes seine Macht kosten. Die EU soll sich darum von Kaczynskis Veto-Drohung nicht beeindrucken lassen. Es wäre ein schlechter Witz, sollte die EU dem strauchelnden Autokraten unter die Arme greifen, indem sie aus Angst vor seiner Drohung, Selbstmord zu begehen, von der Verteidigung der fundamentalen Prinzipien der EU absieht. Und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, in dem ihm die junge und proeuropäische Generation der Polen zum ersten Mal so unmissverständlich den Mittelfinger zeigt.

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