Fragmentierung Die neoliberale Elite in Europa weiß keinen Ausweg mehr aus der Krise. Das hat sowohl rechtsextreme als auch linke Parteien stark gemacht
Rechte und Linke wollen unseren Kontinent radikal verändern
Montage: der Freitag; Fotos: AFP/Getty Images, Wlad074/Fotalia
An einem Mittwochmorgen in Brüssel: Beppe Grillo bringt im Europaparlament seine Anti-Establishment-Show auf die Bühne. Der Saal ist brechend voll, ein Teil des Publikums muss stehen. Wenn er in Fahrt kommt, ist der ehemalige Stand-up-Comedian Grillo eine Naturgewalt. Er weigert sich, auf dem Podium zu sitzen. Stattdessen tigert er hin und her und stößt ein wildes Stakkato von Beleidigungen und Klagen aus – improvisiert und unaufhaltsam, ein Lacher jagt den anderen. „Ich bin ein bisschen überdreht“, räumt er nach einer halben Stunde ein und holt zum ersten Mal Luft. „Vielleicht sollte ich an dieser Stelle aufhören.“
Beppe Grillo ist der wütende Mann der italienischen Politik. Sein MoVimento 5 Stelle liegt in den Meinungsu
gt in den Meinungsumfragen in Italien konstant bei 20 Prozent und damit an zweiter Stelle hinter dem linksliberalen Partito Democratico von Ministerpräsident Matteo Renzi. Doch nicht nur Grillo rüttelt an den Türen des Establishments: Überall in Europa erstarken politische Emporkömmlinge, Populisten, Querköpfe, Bilderstürmer und Bürgerbewegungen. Sie geben der Politik ein radikal neues Gesicht. Die Zweiparteiensysteme des 20. Jahrhunderts sind damit Geschichte und stabile Regierungsmehrheiten so schwer zu bilden wie noch nie. Fragmentierung ist die neue Norm in den Parlamenten. Wählerwanderung und der Zerfall von Partei- und Klassenbindungen ergeben einen chaotischen Cocktail mit unvorhersehbaren Folgen. Erst recht mitten in der Wirtschaftskrise.Placeholder infobox-5Philippe Legrain war einmal Berater des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Er sagt: „Die Krise hat das Vertrauen der Wähler in die Befähigung und Aufrichtigkeit der etablierten Politiker zerstört. Sie konnten die Krise nicht abwenden und haben bisher auch keinen Ausweg aus ihr gefunden. Sie haben sich um die Rettung von Banken gekümmert und die normalen Leute ins Elend gestürzt.“Wenn morgen Wahlen wären, würden jüngsten Umfragen zufolge in einem halben Dutzend EU-Staaten nicht die traditionellen christ- oder sozialdemokratischen Parteien zur stärksten Kraft werden, sondern Neulinge ohne Regierungserfahrung: In Griechenland und Spanien führen linke Bewegungen die Umfragen an, die sich gegen die Austeritätspolitik der EU richten; in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Dänemark befinden sich gegen EU und Einwanderer wetternde Rechtsparteien auf dem Vormarsch. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte lange eine Sehnsucht nach Konsens und Stabilität den Kontinent geprägt, vielerorts hatte das Verhältniswahlrecht Koalitionen der Mitte garantiert und Extremisten von der Regierung ferngehalten. Doch dieses System bröckelt nun.Auslaufmodell: ZweiparteiendemokratieGroßbritannien stellte mit seinem Mehrheitswahlrecht, das für stabile Einparteienmehrheiten und eine starke Opposition sorgen sollte, stets eine Ausnahme zu diesem europäischen Modell dar. Aber auch das britische System scheint nicht mehr länger lebensfähig, wie die Nachwahlen in Rochester und Strood einmal mehr zeigen werden. Konservative und Sozialdemokraten ziehen gegenüber den frechen, unverbrauchten Gesichtern von Ukip den Kürzeren, schottische Nationalisten und Grüne verzeichnen ebenfalls Zugewinne. Das macht es für Labour und die Konservativen als die beiden alteingesessenen Parteien immer schwerer, sich eine Mehrheit zu sichern.„Man könnte sagen, dass sich Großbritannien der europäischen Normalität annähert“, meint ein führender EU-Funktionär. „Es wird ein klein wenig wie Belgien. Das System kommt mit den Auswirkungen nicht zurecht, die Dezentralisierung, schottischer Nationalismus und der Einfluss Europas auf die britische Politik ausüben. Aus Brüsseler Sicht braucht Großbritannien eine Große Koalition. Aber das ist natürlich undenkbar.“Legrain weist darauf hin, dass Wahlbeteiligung und Mitgliederzahlen der Parteien seit Jahren zurückgehen. Die Zeiten, in denen zwei große Parteien 80 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten, sind überall schon lange vorbei.In Österreich kommen Mitte-Links und Mitte-Rechts heute zusammen auf 50 Prozent und befinden sich de facto in einer permanenten Großen Koalition, um die rechtsextreme FPÖ von der Regierung fernzuhalten. In Deutschland hat Angela Merkel bislang fünf ihrer bisherigen neun Amtsjahre in einer Großen Koalition mit der SPD verbracht, weil sie anders keine Mehrheit mehr zustande bringt. Die FDP ist nach den letzten Bundestagswahlen dabei, sich in Luft aufzulösen; sie wurde von der rechtspopulistischen AfD ersetzt.Seit dem Ende des Faschismus war auch Spanien eine stabile Zweiparteiendemokratie mit dem Partido Popular rechts und den Sozialisten links der Mitte. In den gegenwärtigen Umfragen kommen auch diese beiden zusammen nur noch auf 50 Prozent und werden von der neuen linken Bewegung Podemos unter Führung des 36-jährigen Politikprofessors Pablo Iglesias auf die Plätze verwiesen. Podemos liefert sich mit den Sozialisten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Allein im Zeitraum von Anfang Oktober bis Anfang November hat die neue Partei gut 14 Prozent hinzugewonnen und lag mit 27,7 Prozent zuletzt deutlich vor den Sozialisten (26,2).Indem sie Podemos ihre Stimme geben, reagieren die Spanierinnen und Spanier mit einem Linksruck auf den Zusammenbruch der Wirtschaft, die grassierende Korruption und die brutalen, von der EU als Gegenleistung für Finanzhilfen auferlegten Sparmaßnahmen. José Ignacio Torreblanca vom European Council on Foreign Relations in Madrid ist der Meinung, die Anziehungskraft, die Podemos ausübe, ergebe sich nicht nur aus den Inhalten, Zielen und der politischen Ausrichtung der Bewegung, sondern schlicht auch daraus, dass sie frischen Wind in den spanischen Parlamentarismus bringe.Placeholder infobox-4„Eine Stimme für Podemos ist eine Voodoo-Stimme. Bislang haben die Menschen gewählt, ohne dass das irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Nichts ist passiert. Wer wählte, konnte weder die Politik ändern noch die Politiker, denn nach Wahlen tritt hier niemand zurück“, sagt Torreblanca. „Jetzt haben viele zum ersten Mal das Gefühl, etwas verändern zu können, wenn sie Podemos wählen. Mit ein und derselben Stimme votieren sie gegen die etablierten Parteien, die ungerechte Verteilung von Vermögen und Einkommen, gegen Korruption, Angela Merkel und die Märkte.“Ähnliche Muster kann man in Irland beobachten, wo mit Fianna Fáil und Fine Gael ebenfalls jahrzehntelang zwei Parteien die politische Landschaft dominierten. Doch mit dieser Eintracht ist es nun vorbei. Während die beiden alten Platzhirsche starke Einbußen erleiden, legt die republikanisch-sozialistische Sinn Féin unter Führung von Gerry Adams in den Umfragen kräftig zu.Nach der Finanzkrise sei Irland langsam in Richtung eines „unregierbaren Landes“ abgerutscht, schreibt Fintan O’Toole in der Irish Times: „Mit dem politischen System Irlands passiert gerade etwas Entscheidendes: Es verliert die Fähigkeit, das einzige Versprechen zu halten, das es jemals wirklich ernst genommen hat: das Versprechen von Stabilität.“ Bei den jüngsten Europa- und Kommunalwahlen erhielten auch in Irland die beiden ehemals großen Parteien zusammen weniger als die Hälfte der abgegebenen Stimmen – das gleiche Muster wie im Rest Europas.Ratlose RegierungenDie Ausweitung der Anzahl der in den Parlamenten vertretenen Parteien von zwei oder drei hin zu fünf, sechs oder sieben hat lange Zeit gebraucht, um dann aber durch das Finanz- und Schuldendesaster der vergangenen vier Jahre einen gewaltigen Schub zu erhalten. Was als Finanz-, Schulden- und Währungskrise begann, hat sich zu einer grundsätzlichen Krise des herrschenden Wirtschafts- und Regierungssystems ausgewachsen. Europa steckt in Stagnation und Deflation fest. Es gibt weder Wachstum noch Arbeitsplätze und die Eliten wissen nicht mehr, wie sie der Situation begegnen sollen.Placeholder infobox-3„Viele Menschen halten es für an der Zeit, ihre Meinungen und Interessen anders auszudrücken. Zunächst in NGOs, in jüngerer Zeit dann in spontanen Kampagnen, die zumeist vom Internet ausgehen: Facebook-Gruppen, Twitter-Kampagnen, Petitionen und so weiter“, sagt Legrain. „Die Globalisierung hat dazu beigetragen, dass die Macht der nationalen Regierungen erodiert, sich auf die Märkte und die EU verlagert, Ohnmachtsgefühle verursacht und mancherorts zu einem Erstarken nationalistischer oder regionalistischer Tendenzen führt.“ Die Politiker tun sich schwer, die Kontrolle zu behalten. Als der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu Beginn des Monats November sein Amt antrat, stellte er sein Team als „die letzte Chance für Europa“ vor.„Alles wäre anders, wenn es wirtschaftlichen Optimismus gäbe. Aber stattdessen herrscht ein intensives Gefühl, dass in unserer Gesellschaft große Ungerechtigkeit herrscht“, sagt der hochrangige EU-Funktionär. „Wenn die Wirtschaft noch weitere ein oder zwei Jahre nicht wächst, dürften die Mächtigen nervös werden. Ein Aufstand ist nicht so weit weg, wie man meinen könnte. Die Regierungen haben offenbar keine Ahnung, was sie machen sollen.“Placeholder infobox-2Da stabile Mehrheiten immer schwieriger werden, versuchen die Eliten, den Laden mit Minderheitsregierungen wie in Schweden oder Dänemark oder Großen Koalitionen wie in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden weiter am Laufen zu halten. Aber Große Koalitionen ersticken die parlamentarische Demokratie, politische Entscheidungen werden zunehmend hinter verschlossenen Türen getroffen; die Parlamente verkommen zu Erfüllungsgehilfen der Regierungen und Populisten erhalten Zulauf.Junckers DebakelAnfang November wurde das Problem im Europäischen Parlament in seiner ganzen Breite deutlich: Auch hier hat nun eine Große Koalition aus Christ-, Sozial- und Liberaldemokraten das Sagen. Sie versucht, die Europa-Kritiker von rechts und links, die bei den vergangenen Wahlen im Mai europaweit sehr gut abgeschnitten haben, zu marginalisieren.Für viele der neuen Parteien stehen Brüssel und die Institutionen der EU stellvertretend für alles, was schiefläuft – Spardiktat für die Armen auf der einen Seite, während die Reichen auf der anderen in keiner Weise zur Verantwortung gezogen werden. Brüssel ist zum Inbegriff der Politik einer entrückten Elite geworden, die den Kontakt zu den Bürgern verloren hat. Niemand verkörpert diese Elite besser als der Präsident der Europäischen Kommission, der gleich in seinen ersten Tagen im neuen Amt die schlimmsten Befürchtungen seiner Kritiker bestätigt hat: Gerade einmal drei Tage im Amt, versprach Jean-Claude Juncker ein neues System der Transparenz, Fairness und Solidarität. Er wolle versuchen, die tiefen Wunden zu heilen, die der jahrelange Sparkurs den Mitgliedsländern geschlagen habe.Placeholder infobox-124 Stunden später war Juncker plötzlich spurlos verschwunden: Die Zeitungen in praktisch allen 28 EU-Mitgliedsländern berichteten nämlich über jenes labyrinthische System der Steuervermeidung, das in seiner Zeit als Premierminister in Luxemburg ausgeklügelt worden war. Die weltgrößten Banken und multinationalen Konzerne wurden quasi wie durch ein magnetisches Feld von dem winzigen Großherzogtum angezogen. Über zehn Jahre lang hat Luxemburg Unternehmen rechtlich dazu ermuntert, ihre Steuerausgaben zu reduzieren, die eigentlich in anderen EU-Ländern hätten entrichtet werden müssen.Der EU-Bürger als WutbürgerJunckers Debüt war ein Desaster. „Der Kommissionspräsident sagt uns, was zu tun ist, während er sein Geld in einem Steuerparadies bunkert“, bemerkte Grillo dazu spöttisch. Nachdem er sieben seiner zehn ersten Tage im Amt praktisch verschwunden war, wurde er aufgefordert, das Parlament über den Steuerskandal zu informieren. Doch weit davon entfernt, sich unangenehme Fragen anhören zu müssen, wurde er von wichtigen Vertretern des Parlaments herzlich empfangen. Die Große Koalition der Zentristen aus Europäischer Volkspartei (EVP) und der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) nahm Juncker nicht ins Kreuzverhör, sondern beschützte ihn sogar – ein Verhalten, das kaum dazu geeignet scheint, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu besänftigen und für einen Politikwechsel zu sorgen. „Das hier hieß einmal Europäische Gemeinschaft, aber eine Gemeinschaft gibt es nicht mehr“, schrie Beppe Grillo. Und wer wollte ihm da ernsthaft widersprechen. Immerhin wurde mit Jean-Claude Juncker als dem Spitzenkandidaten der Christdemokraten das Versprechen gegeben: Durch ihn werde es auch eine moralische Erneuerung geben. Die EU-Institutionen wollten sich wieder dem Bürger zuwenden, der das vereinte Europa längst als Zumutung des neoliberalen Ausverkaufs empfindet.„Die Empörung der Menschen ist vollauf gerechtfertigt“, sagt auch Philippe Legrain. „Leider richten sie ihre Wut aber oft auf Sündenböcke, besonders Einwanderer, anstatt auf Banker, Wirtschaftsbosse und Politiker, die Europa in den Graben gefahren haben.“Placeholder authorbio-1
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