Und auch in Berlin wachsen die Sorgen, dass die EU sich selbst immer mehr lähmt. Mehrfach mahnte auch die Kanzlerin in den vergangenen Wochen öffentlich die Notwendigkeit schnellerer Entscheidungen an.

Das Ceta-Abkommen, bei dem mehr als 500 Millionen EU-Bürger nun von 3,5 Millionen Wallonen blockiert werden, ist der Höhepunkt dieser Entwicklung, aber keineswegs die einzige Baustelle. "Das tiefer liegende Problem ist, dass an allen Ecken und Ende europäische Entscheidungen politisiert werden", sagt Almut Möller, Europa-Expertin des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. "In den 90-er Jahren haben die Regierungen versucht, die EU mit der Abschaffung vieler Veto-Entscheidungen handlungsfähiger zu machen. Jetzt erleben wir die entgegengesetzte Entwicklung - das macht mir Sorgen." Die EU-Mitglieder Polen, Ungarn und die Slowakei verweigern nun sogar, Mehrheitsentscheidung etwa über die Verteilung von Flüchtlingen überhaupt umzusetzen. "All die Propagandisten, die sagen, der Nationalstaat ist wichtiger als die Gemeinschaftsidee, produzieren genau die Lage, in der wir jetzt sind", moniert EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Für die Lösung der großen Probleme brauche die EU unbedingt mehr Gemeinschaftgeist.

DEN SCHADEN HABEN DRITTSTAATEN WIE DIE UKRAINE



Den Schaden tragen in vielen Fällen die Drittstaaten und Partner der EU. Am Montag etwa beklagte die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iwanna Klimpusch-Zinzadse im Reuters-Interview, dass auch ihr Land "als Geisel für den Streit zwischen EU-Institutionen gehalten" werde. Die Ukraine hat zwar alle 144 EU-Vorgaben für die Visafreiheit ihrer Bürger erfüllt, die EU setzt die Visaliberalisierung dennoch nicht um, weil sie noch intern über einen Notfall-Mechanismus streitet, mit dem die Freiheit wieder eingeschränkt werden könnte. Und das EU-Ukraine-Assoziierungabkommen ereilt dasselbe Schicksal wie Ceta: Alle 28 EU-Regierungen sind für das längst ausverhandelte Abkommen, das der Ukraine einen besseren Zugang zum EU-Binnenmarkt gewähren soll. Doch ein Referendum in den Niederlanden hat das Inkrafttreten gestoppt.

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Nun wird in Brüssel überlegt, ob man bei der Ukraine und Kanada zumindest einen Teil der Abkommen vorläufig in Kraft treten lassen kann. Dies könnte sich etwa auf Handelsregelungen beziehen, für die ohnehin ausschließlich die EU-Ebene zuständig ist. "Die Politik der vorläufigen Anwendung von Abkommen kann aber nicht dauerhafte Praxis werden", warnt der Vorsitzende des Bundestags-Europa-Ausschusses, Gunther Krichbaum. Er rät dazu, bei Handelsabkommen künftig von Beginn an sauberer zu trennen zwischen Themen, die nur der EU-Zuständigkeit unterliegen, und denen, bei denen Nationalstaaten mitreden dürfen.

Für Möller reicht dies aber nicht. Die ECFR-Expertin fordert eine neue Balance, bei der sich Mitgliedstaaten neu verständigen sollen, wer welche Zuständigkeit hat. Krichbaum warnt zudem vor der negativen Wirkung direkter Demokratie: Denn es seien auch nationale Referenden wie in den Niederlanden oder Großbritannien, die die EU zu zerstören oder zu lähmen drohten. "Wir müssen die repräsentative Demokratie verteidigen", fordert Krichbaum. Alle Volksabstimmungen in EU-Staaten seien von völlig sachfremden Themen überlagert worden.

DIE NÄCHSTEN BLOCKADEN DROHEN SCHON



Noch bevor eine Einigung über Ceta und das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine gefunden ist, drohen bereits die nächsten Blockaden: Bis Jahresende wollen die EU und Japan ein Freihandelsabkommen abschließen. Weil Deutschland und Frankreich eine nationale Zustimmung bei Ceta durchgedrückt haben, gilt als unvorstellbar, dass die EU-Staaten darauf bei weiteren Freihandelsabkommen wieder verzichten könnten. "Also warten wir auf das nächste Regionalparlament, das sich querstellt", orakelt man in der EU-Kommission.

Und eine richtige Schockwelle hat der Ceta-Streit nach Angaben von Diplomaten in London ausgelöst. Denn auch der Vertrag über das künftige Verhältnis der EU-27 mit dem dann ausgetretenen Königreich muss von 27 Nationalstaaten ratifiziert werden. "Es kann also sein, dass Großbritannien nach zwei Jahren Verhandlungen zwar ein Ergebnis erzielt, aber dennoch mit leeren Händen dasteht, weil die Ratifizierung scheitert", warnt Krichbaum.

rtr