Erdogan öffnet Grenzen zur EU ++ Zusammenstöße mit Sicherheitskräften: Wie viele Flüchtlinge wollen jetzt zu uns?

Griechenland beantragt EU-Sondersitzung

Quelle: Reuters
Von: LIANA SPYROPOULOU, Julian Röpcke u. Mohammad Rabie

Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel an der griechisch-türkischen Grenze: Die Türkei hat ihre Übergänge in Richtung Europa geöffnet, griechische Sicherheitskräfte schützen die EU-Außengrenze mit Tränengas. Zahlreiche Flüchtlinge versuchen trotzdem, nach Europa zu kommen.

An der süd-östlichen EU-Außengrenze spielen sich unübersichtliche Szenen ab. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Samstag, bereits 18 000 Geflüchtete hätten sein Land in Richtung Europa und der griechischen Grenze verlassen.

Im Laufe des Tages könne die Zahl noch auf 25 000 bis 30 000 steigen, ergänzte er. Belege für seine Angaben präsentierte er nicht. Griechenland scheint derweil fest entschlossen, seine Grenzen zu schützen.

In der griechischen Grenzstadt Kastanies ging die Bereitschaftspolizei mit Tränengas gegen Migranten vor. Migranten schleuderten Steine in Richtung der Polizisten. In einer Pufferzone zwischen den Grenzposten befanden sich nach Worten eines Augenzeugen etwa 500 Menschen.

Chaos nach EskalationGriechenland macht Grenzen für Flüchtlinge dicht

Quelle: BILD (Giorgos Moutafis), Reuters, privat

▶︎ „Die Regierung wird alles tun, um ihre Grenze zu schützen“, sagte ein griechischer Sprecher. Griechenland habe mit dem Krieg in Syrien nichts zu tun und werde nicht den Preis dafür bezahlen, hatte Regierungschef Mitsotakis am Vortag erklärt.

Die Regierung sendet jetzt deshalb auch einen Notruf in Richtung Brüssel. Der griechische Außenminister Nikos Dendias beantragte am Mittag eine Sondersitzung der EU-Außenminister.

Migranten an der Grenze zwischen Pazarkule (Provinz Edirne, Türkei) und Kastanies (Provinz Evros, Griechenland)

Migranten an der Grenze zwischen Pazarkule (Provinz Edirne, Türkei) und Kastanies (Provinz Evros, Griechenland)

Foto: Emrah Gurel / AP Photo / dpa

Ein griechischer Bereitschaftspolizist sichert die Grenze zur Türkei

Ein griechischer Bereitschaftspolizist sichert die Grenze zur Türkei

Foto: Giannis Papanikos / dpa

Griechische Sicherheitskräfte gehen anscheinend mitunter hart gegen die Flüchtenden vor. „Wir haben es geschafft, griechischen Boden zu betreten, aber nach fünf Kilometer hat uns die griechische Grenzpolizei aufgehalten, geschlagen und zurück an die Grenze zur Türkei gebracht“, erzählt ein syrischer Migrant BILD.

Griechenlands Regierungssprecher Stelios Petsas spricht von Tausenden, die an der Grenze abgewehrt wurden. „Es wurden mehr als 4000 illegale Grenzüberschreitungen abgewendet“, sagte er am Mittag nach einer Krisensitzung unter Vorsitz von Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. An den Grenzen von Evros seien außerdem 66 Migranten festgenommen worden.

Petsas weiter: „Wir befassen uns mit einem massiven und organisierten Versuch, der dazu führen soll, unsere Grenzen zu brechen ... Wir werden alles Notwendige tun, um unsere Grenzen zu schützen.“

Wie viele Migranten sind unterwegs?

Viele in Europa dürften sich nun fragen, wie viele Menschen aktuell in die EU wollen. Auf dem Höhepunkt der sogenannten Migrationskrise 2015 waren es fast eine Million Migranten, die von der Türkei aus auf die griechischen Inseln gelangten. Damals schloss die EU mit der Türkei ein Abkommen, wonach die Türkei Migranten vom Weg in die EU abhält. Im Gegenzug erhält Ankara unter anderem finanzielle Unterstützung.

Doch das, so behauptet zumindest Erdogan, würde nicht funktionieren. Inzwischen hat die Türkei bereits mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen.

Auch über die Seegrenze versuchen Migranten nach Europa zu gelangen

Auch über die Seegrenze versuchen Migranten, nach Europa zu gelangen

Foto: Emrah Gurel / dpa

Gustav Gressel (40), Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen beim European Council on Foreign Relations, sagt zu BILD: „Die Türkei ist schon voll mit Flüchtlingen und es regt sich dort massiver Unmut über die Flüchtlinge, die ankommen.“

Sie seien arm, sprächen kein Türkisch und seien traditionell anders geprägt. Wenn jetzt zu den 3,6 Millionen noch mal ein bis drei Millionen dazukämen, „ist das auch eine Frage der Kapazität des Landes“.

Nachdem die Migranten beim illegalen Grenzübertritt erwischt wurden, werden sie zurück zur türkischen Grenze gebracht

Nachdem die Migranten beim illegalen Grenzübertritt erwischt wurden, werden sie zurück zur türkischen Grenze gebracht

Foto: Giannis Papanikos / dpa

Röttgen warnt vor Abschottung

Von den europäischen Spitzenpolitikern äußerten sich am Samstag wenige zu der turbulenten Lage.

Österreich will angesichts der neuen Entwicklungen in der Migrationskrise im Bedarfsfall den Grenzschutz verstärken. „Wenn der Schutz der EU-Außengrenze nicht gelingen sollte, dann wird Österreich seine Grenzen schützen. Eine Situation wie 2015 darf sich keinesfalls wiederholen“, sagte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Österreich sei bereit, die Länder an der EU-Außengrenze mit zusätzlichen Polizisten zu unterstützen. Ziel müsse es sein, die Migranten bereits an der EU-Außengrenze zu stoppen.

Bilder wie dieses erinnern an die Hochzeit der Migrationskrise im Jahr 2015

Bilder wie dieses erinnern an den Höhepunkt der Migrationskrise im Jahr 2015

Foto: Ergin Yildiz / dpa

Mit Blick auf die wieder zunehmenden Migrationsversuche von der Türkei aus warnte auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen, vor nationalen Lösungen.

„In Abschottung zurückzufallen, wäre rückwärtsgewandt“, schrieb er am Samstag im Kurznachrichtendienst Twitter. „Die Lösung kann nur europäisch, nicht national sein. Wollen wir Sicherheit und Stabilität innerhalb unserer Grenzen haben, muss Europa zu einem Akteur jenseits der europäischen Grenzen werden – dort, wo die Ursachen für die Probleme liegen.“

Türkische Gegenangriffe in Syrien

Grund für die Eskalation war der Tod von 36 türkischen Soldaten in der nordsyrischen Provinz Idlib. Die Türkei drohte danach mit Vergeltungsmaßnahmen und startete nach eigenen Angaben umfassende Angriffe in Syrien.

Dabei seien Anlagen zum Bau von Chemiewaffen sowie Luftabwehrsysteme und Landebahnen zerstört worden, sagte Erdogan am Samstag in Istanbul. Mehrere Ziele, darunter auch Waffendepots und Flugzeughangars seien „unter schweren Beschuss genommen und zerstört“ worden, sagte er. Mehr als 300 Militärfahrzeuge seien zerstört worden, darunter mehr als 90 Panzer.

Mit den Migranten aus Syrien versuchen auch Menschen aus dem Kongo oder Gambia nach Europa zu gelangen

Mit den Migranten aus Syrien versuchen auch Menschen aus dem Kongo oder Gambia nach Europa zu gelangen

Foto: ARIS MESSINIS / AFP

Mustafa Al-Haj (46), Leiter der Weißhelme in Idlib, sagte zu BILD: „Obwohl die Situation an der Grenze zur Türkei zu einer Katastrophe geworden ist, fliehen viele Menschen dorthin.“ Die Bombardements hätten immer noch nicht aufgehört, so Al-Haj weiter.

BILD auf Lesbos„Es ist wie Warten auf einen Krieg“

Quelle: BILD

„Assad und Putins Kampfjets nehmen viele Städte ins Visier und feuern auf alles was sich bewegt. Es sind momentan viele Menschen unter den Trümmern und wir versuchen sie lebendig raus zu holen“, so Al-Haj.

Lage in Idlib ist katastrophal

Die humanitäre Lage in Idlib ist katastrophal. Nach UN-Angaben sind inzwischen 950 000 der drei Millionen Einwohner der Region auf der Flucht. Hilfsorganisationen sind kaum noch in der Lage, die große Zahl an Vertriebenen zu versorgen.

Humanitäre Hilfslieferungen werden dadurch erschwert, dass sie nur über zwei Grenzübergänge von der Türkei aus möglich sind. Mit den türkischen Angriffen dürfte sich die Lage weiter verschärfen.

Karte/Map: Lage in Idlib – Infografik (Stand 24.2.2020 )

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) kündigte am Samstag an, ihre ärztliche Hilfe zu verstärken und mehr Hilfsmittel zu verteilen. In Flüchtlingslagern gebe es zu wenig Zelte, weshalb Neuankömmlinge im Freien oder in Behelfsunterkünften schlafen müssten.

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