Übernimmt Putin die Macht in Weißrussland? : Wahlkrimi um die letzte Diktatur Europas

Aussichtsreichster Gegenkandidat des Diktators Lukaschenko arbeitete bis vor Kurzem für Russlands Staatskonzern Gazprom

Sie lächeln gemeinsam in die Kameras, doch hinter den Kulissen herrscht ein Machtkampf zwischen den autokratischen Präsidenten Wladimir Putin (l.) und Alexander Lukaschenko (r.)

Sie lächeln gemeinsam in die Kameras, doch hinter den Kulissen herrscht ein Machtkampf zwischen den autokratischen Präsidenten Wladimir Putin (l.) und Alexander Lukaschenko (r.)

Foto: SPUTNIK / Reuters
Von: Julian Röpcke

Diese Wahl wird ein wahrer Krimi und entscheidet darüber, ob die letzte Diktatur Europas eine bleibt, sich gen Westen bewegt oder vielleicht sogar zum Spielball Moskaus wird.

Am 9. August sind etwa sieben Millionen Weißrussen aufgerufen, einen „neuen“ Präsidenten zu wählen. Geht es nach dem Regime, wird dabei der „neue“ auch der alte sein, nämlich Alexander Lukaschenko, der das Land seit 1994 mit eiserner Hand regiert. Doch geht dieser Wunsch des belarussischen Regimes auch in Erfüllung?

Andrew Wilson ist Professor für Ukrainische Studien an der Londoner Universität UCL und Autor des Buches „Belarus – Die letzte europäische Diktatur“. Mit BILD sprach der Weißrussland-Experte über Scheinlockerungen Lukaschenkos, einen Oppositionskandidaten, dem das Regime Kreml-Nähe vorwirft, und die Frage, ob Belarus einen „zweiten Maidan“ erleben kann, der wie Anfang 2014 in der Ukraine zum Sturz des herrschenden Regimes führen könnte.

BILD: Sie beschreiben Belarus in Ihrem bekannten Buch als Diktatur. Würden Sie diese Einschätzung heute wiederholen?

Andrew Wilson: „Das Buch wurde 2011 veröffentlicht, und der Titel ist ein Zitat der damaligen Nationalen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Alles in Osteuropa hat sich 2014 verändert, als Russland die Krim annektiert und hat den Krieg in der Ostukraine lostrat. Vorher hat Russland Belarus wirtschaftlich unterstützt. Dafür bekam es eine Allianz in der gemeinsamen Außenpolitik. Nach 2014 hat es für Belarus nicht mehr viel Sinn ergeben, so eng mit Russland verbündet zu sein, während Russland sich in einen Konflikt mit dem Westen hineinmanövrierte. Belarus hat darum seinen Kurs geändert. Nicht, weil es besonders mutig war, sondern, um seine Souveränität zu bewahren. Darum wurde man ein kleines bisschen freundlicher zum Westen, aber auch zu China. Um bessere Beziehungen mit dem Westen zu entwickeln, wurden zu Hause einige Änderungen vorgenommen. Ein bisschen mehr Freiheit, ein bisschen weniger Unterdrückung. Das war für die EU schon genug, um 2016 viele Sanktionen gegen Belarus aufzuheben. Nichts hat sich fundamental verändert, aber Belarus ist heute eine mildere Diktatur, als es das Land früher war.“

Weißrussland-Experte Andrew Wilson lehrt seit 1999 an der Londoner Universität „UCL“. BILD interviewte ihn per Skype

Weißrussland-Experte Andrew Wilson lehrt seit 1999 an der Londoner Universität UCL. BILD interviewte ihn per Skype

Werden die Wahlen im August also „frei und fair“ sein oder nicht?

Wilson: „Lukaschenko ist seit 1994 Präsident. Er hat vier Wiederwahlen gewonnen. Dazu muss man drei Dinge wissen. Erstens: Die Stimmauszählung ist völlig intransparent, und niemand darf sie dokumentieren. Zweitens: Etwa ein Drittel der Wähler geben ihre Stimme vor der Wahl öffentlich ab. Diese Stimmen können vom Regime kontrolliert werden. Drittens: Das Regime entscheidet, wer gegen Lukaschenko antreten darf. Auch bei der Wahl am 9. August wird die Auszählung wieder unfair, und wir haben das Problem mit den frühen Wählern. Aber dieses Mal hat es die Regierung nicht geschafft, die Kandidaten ordentlich ‚zu filtern‘, und jetzt hat man interessante Kandidaten gegen Lukaschenko und ein massives Problem mit der eignen Popularität.“

Der aussichtsreichste Gegenkandidat heißt Viktor Babariko und arbeitete bis Mai 2020 für einen russischen Staatskonzern. Ist er ein echter Oppositionskandidat oder der Mann des Kreml gegen Lukaschenko?

Wilson: „Echt gegen falsch ist eine interessante Unterscheidung bei weißrussischen Wahlen. Denn es gibt falsche Oppositionskandidaten, die das Regime ins Rennen geschickt hat, um es nach echten Wahlen aussehen zu lassen, aber Babariko ist niemand von ihnen. Lukaschenko sagt jetzt, dieser Kerl wird von Russland unterstützt. Vorher hat er immer gesagt, dass die Opposition vom Westen unterstützt wird. Gibt es dafür Beweise? Nun ja, Babariko war der Chef der russischen Staatsbank Belgazprombank, darum sagt Lukaschenko, dass er von russischen Oligarchen mit Verbindungen zum Kreml unterstützt wird. Doch gibt es dafür echte Beweise? Die Polizei hat die Zentrale von Belgazprombank in Minsk durchsucht. Sie haben dort Depotboxen aufgebrochen. Und sie haben seitdem keine Belege einer russischen Unterstützung für Babariko geliefert. Babariko ist ein reicher Kerl, ja. Aber er hat sich offen für belarussische Kunst, Kultur und die belarussische Sprache ausgesprochen. Eine Sprache, die Lukaschenko als ‚primitiv‘ bezeichnet. Was man sagen muss: Russland hat in den vergangenen zwei Jahren viel in soziale Netzwerke in Belarus investiert und ein prorussisches Narrativ verteilt. Einige dieser sozialen Netzwerke unterstützen jetzt vielleicht Babariko, aber um ehrlich zu sein, hat Babariko im ganzen Land hohe Unterstützung.“

Also ist Babariko keine Marionette des Kreml?

Wilson: „Er spricht jedenfalls nicht wie eine Marionette des Kreml. Er wiederholt nicht einfach Putins Punkte. Außerdem ist er ein wirtschaftlicher Pragmatist, der sich eher an jenen orientiert, die das Land weiter öffnen wollen. Er will nach eigener Aussage ökonomische Reformen und eine ausgeglichene Außenpolitik in Richtung Russland und Europa. Er hört sich einfach nicht wie eine russische Marionette an. Mehr kann man derzeit noch nicht sagen. Sollte er vor der Wahl aus dem Gefängnis herauskommen und zur Abstimmung zugelassen werden, hätten wir erstmals eine spannende Präsidentschaftswahl in Belarus.“

Viktor Babaryko wollte gegen Lukaschenko antreten. Seit einigen Tagen sitzt er in einem Gefängnis in Minsk

Viktor Babariko wollte gegen Lukaschenko antreten. Seit einigen Tagen sitzt er in einem Gefängnis in Minsk

Foto: SERGEI GAPON / AFP

Was sind jenseits des Kandidaten Babariko Russlands Erwartungen an sein kleines westliches Nachbarland?

Wilson: „Russland will, dass Belarus akzeptiert, dass es der kleinere Partner ist und bleibt. Es will einen loyalen Alliierten, der die Dinge nicht hinterfragt. Mit einer gewissen Souveränität, aber faktisch unterstützend in allen außenpolitischen Belangen. Das sind große Bitten an jedes Land auf der Welt – Diktatur oder nicht. Der Preis der Freundschaft mit Russland ist definitiv größer geworden seit 2014. Lukaschenko glaubt, dass an der Macht zu bleiben auch bedeutet, Weißrusslands Souveränität zu bewahren. Das Problem für ihn ist, dass die Belarussen diesen Zusammenhang nicht mehr als gegeben sehen.“

Sehen Sie also die Chance, dass Europas letzte „milde Diktatur“ dieses Jahr endet?

Wilson: „Ich sehe drei mögliche Szenarien, wie sich die Wahl entwickelt. Szenario eins: ein bedeutungsloser Sieg Lukaschenkos. Das Regime macht weiter mit den Repressionen, nur wenige Leute wählen, das Ergebnis ist manipuliert, die Proteste werden unterdrückt und der Präsident überlebt, aber ist noch viel schwächer als davor. Dieses Szenario ist, man muss es leider sagen, am wahrscheinlichsten, denn daran arbeitet die Regierung. Szenario zwei: Das Regime verliert die Kontrolle über die Straße. Es gibt weiter große Demonstrationen, die Stimmung radikalisiert sich, die Regierung verrechnet sich, attackiert die Demonstranten und bricht damit mit dem Westen, was ihn verletzlicher gegenüber Russland macht.“

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Quelle: Omnisport

Sprechen wir hier von einem zweiten Maidan, wie wir ihn 2013/14 in der Ukraine erlebt haben?

Wilson: „Aktuell sehen wir spontane Proteste mit Social Distancing (lacht). Lange Schlangen in den Straßen von Minsk oder so. Danach lösen sich die Demonstrationen wieder auf. In Kiew vor sechs Jahren haben Demonstranten das Zentrum der Hauptstadt für drei Monate besetzt. Das ist natürlich etwas anderes, aber eine kleine Version davon könnte auch in Minsk geschehen. Die Sicherheitskräfte würden solche Proteste mit Sicherheit versuchen zu zerschlagen. Ein versuchter Maidan könnte also das Szenario sein. Sollte dieser außer Kontrolle geraten, würde dies echte Probleme für das Regime bedeuten.“

Und das dritte Szenario?

Wilson: „Das dritte Szenario ist, dass das Regime die Kontrolle über den Wahlprozess verliert. Es bleibt ein Schlagabtausch bis zum Schluss, einer oder mehrere der Oppositionskandidaten treten tatsächlich gegen Lukaschenko an, und da es keinerlei glaubwürdige Vorwahlbefragungen gibt, wüssten wir am Wahltag nicht, ob Lukaschenko knapp gewinnt oder krachend verliert. Ich würde sagen, dies ist das unwahrscheinlichste Szenario, da sich die Regierung mit allen Kräften dagegenstemmt.“

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