«Der nächste Gazakrieg steht vor der Tür»

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Israel«Der nächste Gazakrieg steht vor der Tür»

Die Messerangriffe auf Israelis häufen sich, die Opferzahlen steigen, die Gewalt eskaliert. Zwei Nahost-Experten erklären die Hintergründe.

Caroline Freigang
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Caroline Freigang

Israel erlebt heute Dienstag den opferreichsten Tag seit Beginn der Gewalteskalation Anfang Monat: Zwei Israelis wurden in Jerusalem getötet, als zwei Palästinenser in einem Bus auf die Passagiere einstachen und schossen. Fast gleichzeitig fuhr in einem anderen Teil der Stadt ein Angreifer mit einem Auto in eine Bushaltestelle und stach auf Wartende ein.

Messerattacken werden zum Merkmal der aktuellen Revolte von palästinensischen Jugendlichen. Die Anschlagsserie begann am 3. Oktober mit dem 19-jährigen Mohammad Halabi aus Hebron, der auf Facebook ankündigte, er werde im Namen einer neuen Intifada sterben. Anschliessend erstach er in der Jerusalemer Altstadt zwei jüdische Männer, bevor er von Sicherheitskräften erschossen wurde. Seither starben mindestens acht Israelis und 27 Palästinenser – in zehn Tagen.

Wieso eskaliert die Gewalt? Droht wirklich eine neue Intifada? 20 Minuten fragte nach und gibt einen Überblick.

Was war der Auslöser für die «Messer-Intifada»?

Ausgangspunkt war der Konflikt um den Tempelberg in Jerusalem, der sowohl Juden als auch Muslimen heilig ist. Zu Beginn des jüdischen Neujahrsfests im September kam es an der Al-Aksa-Moschee auf der Anhöhe zu Krawallen zwischen Palästinensern und Sicherheitskräften. Hintergrund waren Gerüchte, Israel wolle die Kontrolle über den heiligen Ort übernehmen. Dazu kamen Brandanschläge jüdischer Extremisten auf das palästinensische Dorf Duma, bei der eine ganze Familie getötet wurde. «Diese beiden Zwischenfälle haben eine Spirale der Gewalt ausgelöst», wie der Nahost-Experte Mattia Toaldo 20 Minuten erklärt.

Dass die Anschläge primär in Jerusalem stattfänden, habe damit zu tun, dass Israelis und Palästinenser hier sehr nah beieinander lebten, so Toaldo. «Palästinenser werden hier ausgegrenzt und haben nicht dieselben Rechte wie die Israelis.»

Steckt eine grössere Strategie hinter den Angriffen?

Nein, die Angriffe seien ein Ausdruck von Wut, ist Toaldo überzeugt. Dem pflichtet Nahostanalyst Kristian Brakel bei. Die Angriffe würden vor allem von jungen Palästinensern durchgeführt, sagt Brakel zu 20 Minuten. «Viele von ihnen radikalisieren sich. Dies, gepaart mit grosser Wut durch die täglichen Demütigungen durch den israelischen Staat, führt zu diesen spontanen Racheangriffen.» Oft würden Jugendliche nachziehen, wenn sie von Messerangriffen hörten. «Sie sehen, dass sie nur mit einem Küchenmesser bewaffnet etwas tun können», so Brakel. Gruppen wie die radikalislamische Hamas versuchten zudem, Jugendliche zu Angriffen anzustacheln, fügt Toaldo hinzu.

Wie reagiert Israel?

«Panisch», so Brakel. «Plötzlich sind das keine organisierten Terrorgruppen mehr, die der Staat mittlerweile relativ gut im Griff hat, sondern Einzelpersonen.» Politiker ermuntern Israelis mit Waffenschein inzwischen, ihre Waffen bei sich zu tragen, und der israelische Präsident Benjamin Netanjahu hat die Regeln zum Einsatz von Schusswaffen gelockert. Das steigert die Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten. Mittlerweile wird in Israel diskutiert, arabischen Quartiere im ganzen Land abzuriegeln. «Das wäre etwas so, wie wenn man in Europa sagen würde, man schliesst alle Quartiere mit Migranten ab. Das könnte alles eskalieren», so Toaldo.

Droht eine neue Intifada?

Einige Kommentatoren in Israel sprechen bereits von einem Volksaufstand. Brakel rechnet indes nicht mit einer Intifada. Dazu sei die Gewalt zu unorganisiert und es fehle die Steuerung auf politischer Ebene. Der nächste Gazakrieg stehe aber vor der Tür, sagt er: «Nächstes oder übernächstes Jahr. Die Kriege finden im Zweijahresrythmus statt, meist vor den israelischen Wahlen.» Zudem sei die Situation ähnlich wie vor dem letzten Gazakrieg 2014: «Nur ist die Zerstörung und die Verzweiflung der Menschen im Gazastreifen noch grösser», so Brakel.

Haben die Palästinenser Interesse an einer neuen Intifada?

Vor allem ältere Palästinenser haben kein Interesse an einer Eskalation der Gewalt, sagt Brakel. Sie erlebten die letzten zwei Intifadas und haben eher Angst vor einer Wiederholung. Auch die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas habe kein Interesse daran, das Ganze in einen Krieg mit Raketen eskalieren zu lassen, meint Toaldo.

Was kann die Politik tun?

«Im Moment gibt es keinen Akteur, auch nicht die Hamas, der die Gewalt auf der Strasse stoppen könnt», sagt Nahostexperte Toaldo. Palästinenserpräsident Abbas und der israelische Ministerpräsident Netanjahu könnten dennoch Schlüsselrollen bei der Lösung des Konflikts spielen – auch wenn sie unter enormem Druck stehen. Netanjahu wird von den Hardlinern seiner Koalition gedrängt, härter durchzugreifen. Palästinenserführer Abbas wäre ebenfalls an einer Schlichtung interessiert, allerdings fehlt ihm nach den im vergangenen Jahr gescheiterten Friedensverhandlungen der Rückhalt in den eigenen Reihen und von der Strasse. Sein Bemühen, die Gewalt einzudämmen und weiter mit Israel in Sicherheitsfragen zusammenzuarbeiten, wird ihm als Schwäche ausgelegt. Auch ist unklar, wie viel Abbas wirklich ausrichten kann, wenn wütende Jugendliche auf eigene Faust zur Gewalt greifen.

«Lösbar ist der Konflikt im Prinzip nur, wenn man den Palästinensern erlaubt, ein normales Leben zu führen», so Brakel. «Wiederaufbau, eine Öffnung der Grenzen, Landwirtschaft, Fischfang. Menschen brauchen Perspektiven, sonst greifen sie zu Gewalt.»

Kristian Brakel ist Nahostanalyst bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Bild: DGAP).

Mattia Toaldo ist Nahostexperte am European Council on Foreign Relations (Bild: ECFR)

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