«Die EU dürfte zu etwas völlig anderem mutieren»

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Geteiltes Europa«Die EU dürfte zu etwas völlig anderem mutieren»

Die Flüchtlingspolitik stürzt die EU in eine Existenzkrise. ­Experte Josef Janning über die Gründe und über mögliche Zukunftsszenarien.

K. Moser
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K. Moser
Die Suche nach einer europäischen Flüchtlingspolitik bringt die EU an ihre Grenzen.

Die Suche nach einer europäischen Flüchtlingspolitik bringt die EU an ihre Grenzen.

AFP/Ozan Kose

Am Donnerstag und Freitag treffen sich die EU-Staaten erneut, um eine Lösung in der Flüchtlingsfrage zu finden. Bisher scheiterten alle Versuche: Beschlüsse wurden nicht umgesetzt, der Graben zwischen der Koalition der Willigen, die auf Kontingente setzt, und den Visegrad-Staaten im Osten, die auf Abschottung pochen, wird immer tiefer.

Herr Janning, die EU findet keine Lösung. Was ist los mit ihr?

Angesichts der grossen Anzahl Flüchtlinge steckt die EU in einer tiefen Krise, welche die Mitgliedstaaten auseinandertreibt, anstatt sie einander näherzubringen. Zunehmende populistische Tendenzen und lauter werdende Rufe nach nationaler Souveränität verstärken diese Krise.

Ist der Wunsch nach nationaler Souveränität nicht legitim?

Doch durchaus. Das Problem ist nur, dass die Staaten Souveränität formal zurückholen, aber nicht faktisch wiedererlangen können. Dafür sind die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu gross. Diesen Aspekt verschweigen Populisten.

Manche Experten sehen die EU vor dem Zusammenbruch. Was wird auf dem EU-Gipfel herauskommen?

Es wird weder zu einem krachenden Scheitern noch zu einem Durchbruch kommen. Vielmehr erwarte ich ein Gewurstel: Man wird Griechenland etwas Unterstützung geben und der Türkei erneut ein Entgegenkommen signalisieren. Eine Lösung ist jedoch nicht zu erwarten.

Zum Türkei-Deal gehören Kontingente, doch die sogenannte Koalition der Willigen schwindet: Zuletzt erklärte Frankreich kurz vor dem Gipfel eine Obergrenze. Wären Obergrenzen nicht die bessere Lösung in der Flüchtlingskrise?

Mit Obergrenzen für Flüchtlinge gehen immer zwei Probleme einher. Erstens wird jede Obergrenze von gewissen Teilen der Bevölkerung als zu hoch angesehen. Und zweitens hat keine Regierung eine Lösung für den Fall, dass die Obergrenze erreicht ist. Dann kommt es zu einem Stau an den Grenzen, und was macht man dann?

Ist die EU überhaupt noch zu retten. Anders gefragt: Wie sieht sie Ihrer Meinung nach in fünf Jahren aus?

Ich sehe zwei Szenarien, ein positives und ein negatives. Im positiven Fall bleibt die EU zu einem grossen Teil erhalten. Sie verabschiedet sich allerdings vom Konzept der gleichen Integration aller Mitgliedstaaten. Rolle und Handeln von Staaten und Staatengruppen werden wichtiger als die gemeinsame europäische Politik. Bestehen bleiben die EU-Kommission, der Europäische Gerichtshof und, als Zuckerguss, das Europaparlament.

Und das negative Szenario?

Das negative Szenario tritt ein, wenn die EU den Anschein einer gemeinsamen Politik nicht mehr aufrechterhalten kann, die ja in Wirklichkeit nur von einem kleinen Teil der Mitgliedstaaten durchgesetzt wird. In diesem Fall dürfte die EU zu etwas völlig anderem mutieren: Weniger Staaten sind um ein Mini-Schengen vereint, in dem nur noch EU-Staaten Vorteile geniessen und das gemeinsame Finanzrahmen enthält, etwa für asymmetrische Lasten der Zuwanderung oder für die Grenzsicherung. In dieser EU sind die Anforderungen für den Eintritt und den Verbleib strenger und kompromissloser als heute, der ursprüngliche Solidaritätsgedanke wird aufgegeben. Ich halte dieses Szenario für wahrscheinlicher.

Was bedeutet das für die Schweiz?

Gegenüber einer neuen EU, die weniger kompromissbereit ist und strengere, ausschliessendere Regeln aufstellt, wird die Verhandlungsposition der Schweiz eindeutig komplizierter.

Josef Janning ist Experte für internationale Beziehungen mit Augenmerk auf Europa, EU-Aussen- und Innenpolitik sowie deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik. Er arbeitet für den European Council on Foreign Relations, einen paneuropäischen Think-Tank.

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