Unsichtbare Netze Beziehungen und Koalitionen zwischen EU-Staaten

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Zusammenfassung

  • Die Weiterentwicklung Europas hängt von der Fähigkeit der EU-Mitgliedstaaten ab, handlungsfähige Koalitionen zu bilden – sowohl rechtlich bindende als auch informelle.
  • Die europaweite Expertenumfrage EU28 Survey veranschaulicht das komplexe Beziehungsgeflecht der EU28. Besonders eng verflochten sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande und Schweden. Diese acht Staaten erhalten hohe Werte in Bezug auf „Einfluss auf EU-Politik“ und werden am häufigsten als „wichtige Partner“ genannt.
  • Die Koalitionsgeometrie variiert abhängig vom Politikbereich. Es gibt verschiedene politische Zentren etwa für die Außen- und Verteidigungspolitik, Finanzpolitik, oder Wirtschafts- und Sozialpolitik.
  • Von diesen verschiedenen Koalitionszentren können einzelne Koalitionsinitiativen ausgehen. Um mehrheitsfähige Koalitionen zu bilden, werden Staaten im jeweiligen Zentrum einzelner Initiativen andere Staaten einbeziehen, mit denen sie eng verbunden sind.

Introduction

Koalitionen im Fokus der Integrationsdebatten

Anfang März 2017, drei Wochen vor den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge, hatte der französische Staatspräsident François Hollande die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Minister­präsidenten Italiens Paolo Gentiloni und Spaniens Mariano Rajoy zu einem Gipfel nach Versailles geladen. Der Vierergipfel sollte vor allem eine Botschaft überbringen, die sich an alle EU-Staaten richtete: Europa benötigt verschiedene Geschwindigkeiten um voran zu kommen und die Erwartungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Damit bezogen sich die vier Staats- und Regierungschefs auf das Konzept differenzierter Integration und teilten mit, dass „einige EU-Staaten schneller voranschreiten als andere.“

Das Thema Koalitionen und Koalitionsbildung zwischen EU-Staaten rückte mit diesem Mini-Gipfel einmal mehr ins Zentrum der politischen Debatte über die Zukunft der EU. Nur eine Woche vor dem Gipfel in Versailles hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein Papier zur Zukunft der EU vorgelegt, das fünf Szenarien zur Weiterentwicklung der Union beschrieb. Eines dieser Szenarien sieht vor, dass einzelne Gruppen von Mitgliedstaaten enger auf tiefere Integration hinarbeiten. Bereits im Herbst 2016 hatte Bundeskanzlerin Merkel zahlreiche Regierungschefs kleinerer und größerer EU-Staaten konsultiert, um den Kurs der 27 Mitgliedstaaten nach dem Brexit-Referendum abzustecken und den EU-Gipfel in Bratislava vorzubereiten. Bei diesem informellen Ratsgipfel wollten die Staats- und Regierungschef einen Reflexionsprozess in Gang bringen, der den Zusammenhalt der EU nach dem britischen Austrittsreferendum gewährleisten sollte. Noch früher, im Februar 2016, hatte der italienische Außenminister seine Amtskollegen aus den anderen fünf Gründerstaaten zu gemeinsamen Beratungen nach Rom gebeten. Ein Folge­treffen der sechs EU-Gründerstaaten fand im Juni des­selben Jahres auf Einladung des deutschen Außenministers in Berlin statt.

Diese Ereignisse belegen eine neu entdeckte Bereitschaft, das Momentum eines politischen Zentrums in die Europapolitik zurückzubringen. Diese Koalitionsbildung würde aus einem Bündnis von Mitgliedstaaten bestehen, die in ihrem strategischen Verständnis über die Bedeutung vertiefter Integration übereinstimmen, ob nun auf der Ebene aller Mitgliedstaaten oder lediglich einer Kerngruppe von Ländern. Dies würde helfen, die Fliehkräfte einer großen und heterogenen Gemeinschaft von zukünftig 27 Staaten im Zaum zu halten.

Das nun Koalitionen wieder in den Fokus der Integrationsdebatten rücken markiert das Ende einer Etappe, in der die geläufigen Muster der Zusammenarbeit unter den EU-Staaten weniger deutlich hervortraten. Beispielsweise hielt sich Italien über Jahre aus dem früheren Verbund der Gründerstaaten fern. Die Niederlande zeigten sich weniger interessiert an der Zusammenarbeit mit ihren Benelux-Nach­barn, und auch die Visegrád-Gruppe schien für ihre Mitglieder Polen, Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei mit dem Beitritt zur EU an Bedeutung verloren zu haben. Sogar dem deutsch-französischen Tandem – die engste der traditionellen EU-Koalitionen – schien die Luft auszugehen. Mit dem Zerfall der traditionellen Bindung­en zwischen den EU-Staaten hat die EU zugleich ihre politische Mitte verloren. Die EU-Institutionen büßten den Rückhalt bei jenen Regierungen ein, die zuvor europäische Initiativen verlässlich unterstützten. Der europäische Politikprozess stand im Zeichen der Fragment­ierung. Gleichzeitig weitete der Vertrag von Lissabon die Rolle der Staaten in der EU aus und die Macht des Europäischen Rates wuchs erheblich.

Vor diesem Hintergrund, lassen sich drei Funktionen von Koalitionen in der EU unterscheiden: Erstens erhalten Koalitionen die Regierungsfähigkeit einer im Wesentlichen intergouvernemental geprägten EU. Schon das Agieren im Status quo erfordert in der heutigen EU ein hohes Maß an Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Vorfeld und in der Abstimmung formeller Entscheidungen. Mit der Zahl der Mitgliedstaaten ist auch der Bedarf an informeller Konsensbildung zwischen den Regierungen gewachsen. Neben dem hauptamtlichen Präsidenten des Euro­päischen Rats und der bestehenden rotierenden EU-Ratspräsidentschaft braucht es Gruppen und Koalitionen von Staaten, die Interessen und Themen bündeln, politische Initiativen stärken und zwischen abweichenden Interessen vermitteln.

Eine zweite Funktion von Koalitionen liegt in der Kontrolle ausufernder Vetomacht, die viele Regierungen besitzen. Der Beitritt zahlreicher kleinerer Staaten zur EU hat die Entwicklung gemeinsamer Positionen erschwert, weil es erheblich schwieriger geworden ist, einen Konsens zu finden und qualifizierte Mehrheiten zu erreichen. Koalitionen werden zum erforderlichen Mittel der Mehrheitsbildung, als Ausdruck politischer Gemeinsamkeit über Einzelinteressen und spezifische Fragen hinweg.

Zum dritten sind Koalitionen ein wesentlicher Baustein einer Flexibilisierung oder Differenzierung von Integration. Strategischer Konsens und operative Strategien werden in Koalitionen entwickelt und führen entweder zu verstärkter Zusammenarbeit im Rahmen der EU-Verträge oder zu zentralen Abmachungen außerhalb des rechtlichen Rahmens der EU. Ohne das Gestaltungspotenzial von Koalitionen würde größere Flexibilität zu einem Europa „à la carte“ führen, in dem Mitgliedstaaten nach Belieben an Teilbe­reichen der Integration mitmachten bzw. fernblieben. In der heutigen EU sind „Differenzierung“ oder „Flexibili­sierung“ deshalb zu Kennwörtern dafür geworden, einen Ausweg für die tief gespaltene Gemeinschaft der Mitgliedstaaten zu finden. 

Der klassische Ansatz für „mehr Europa“ scheint blockiert solange wesentliche Vertragsänderungen sehr wahrscheinlich in der Ratifikation scheitern. Stattdessen ermöglichen die EU-Verträge die Zusammenarbeit einzelner Gruppen von Mitgliedstaaten, die sich in bestimmten Bereichen stärker engagieren möchten. Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde erstmals der Mechanismus einer „verstärkten Zusammenarbeit“ verankert, der Vertrag von Lissabon erweitert den Anwendungsbereich durch eine entsprechende Klausel für eine „ständige strukturierte Zusammenarbeit“ in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Ein weiterer Ansatz der Differenzierung liegt im Modell des Schengener Abkommens. Die volle Öffnung der Binnengrenzen entstand zunächst auf der Basis eines Vertrags von nur fünf Mitgliedstaaten außerhalb der EU-Verträge, dem dann immer mehr Staaten beitraten, bevor das Abkommen in die EU-Verträge überführt wurde.

Mehr als je zuvor seit dem Fall der Berliner Mauer hängt die Zukunft der EU von der Bereitschaft und der Fähigkeit der Mitgliedstaaten ab, gemeinsam zu handeln. Entscheidende Faktoren für den europäischen Zusammenhalt sind hierbei in welcher Verbindung die Staaten zueinanderstehen und wie sich der Grad ihrer Gleichgesinntheit und ihre strategische Konsensfähigkeit ausdrückt. Diese Faktoren müssen besser erkannt und verstanden werden, wenn Koalitionsbildung erfolgreich sein soll. Denn die einfache Rückkehr zu den traditionellen Gruppierungen wird weder möglich noch hinreichend sein. Die erheblich größere EU unserer Tage erfordert, dass ihre Mitglieder neue Koali­tionen jenseits der geläufigen Muster bilden, die ihren Interessen, Fähigkeiten und Gestaltungspotenzial ent­sprechen.

Über den EU28 Survey

Die vorliegende Analyse beruht auf den Ergebnissen des EU28 Survey, einer Befragung des ECFR unter europapolitischen Praktikern und Experten aus den 28 Mitgliedstaaten der EU. Für die Auswertung wurden 421 Stellungnahmen von Regierungsmitarbeitern, Politikwissenschaftlern, Think-Tankern und Journalisten herangezogen. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen ihre Ansichten zur Koalitionsbildung unter den EU28 – Informationen die anderweitig weder dem Fachpublikum noch der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind.

Der EU28 Survey wurde als anonymisierte Befragung durchgeführt. Der Befragungszeitraum begann Ende Juni nach dem britischen EU-Referendum und endete Mitte September 2016. Die Umfrage basiert auf einer Pilotstudie, die im Jahr 2015 durchgeführt wurde.

Der EU28 Survey ist Teil des Projekts Rethink: Europe, das in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mercator den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit Europas untersucht. Dieser Policy Brief wird ergänzt durch den interaktiven Datenatlas „EU Coalition Explorer“. Alle Einzelergebnisse, nähere Angaben zur Methodik und der vollständige Datensatz sind frei zugänglich unter:

es all survey results, the complete data set, and the methodology behind our analysis. To learn more please visit www.ecfr.eu/eucoalitionexplorer.

Die hier untersuchten Daten und Analysen zeigen, wie Koalitionen in der EU heute funktionieren. Wer sind die ersten Ansprechpartner, um erfolgreiche Koalitionen zu bilden? Sprechen Nachbarländer wirklich früher miteinander? Wie bewerten sich die größten Mitgliedstaaten gegenseitig? Und wie die Gründerstaaten? Die Studie stützt sich auf die Erfahrungen und Einschätzungen von Akteuren und Experten der Europapolitik aus allen 28 EU-Mitgliedstaaten. Ihr zugrunde liegt ein Datenatlas[1], der die Interessen, Prä­ferenzen und das Gewicht der Staaten in der Zusammenarbeit untereinander erfasst und strukturiert (siehe Infobox für mehr Informationen). Diese Datensammlung visualisiert, in welchen Politikfeldern welche Mitgliedstaaten wichtig für die Bildung von Koalitionen werden, welche führenden Staaten den Prozess gestalten und die europäische Integration vertiefen können.

Diese Informationen sind wichtig für die Entscheidungsfindung, gehören allerdings zu den „bekannten Unbekannten“ der politischen Entscheidungsfindung. Alle Beteiligten haben eigene Sichtweisen, wie das Zusammenspiel mit anderen Mitgliedstaaten funktioniert, wie wichtig oder unbedeutend andere Staaten für die eigene Regierung oder Politik sind, oder welche Fragen auf EU-Ebene mit allen gemeinsam geklärt werden sollten und wo eine kleinere Gruppe von Mitgliedern sinnvoll erscheint. Allerdings sind die Ansichten der anderen Beteiligten meist unbekannt und schwer zugänglich. Denn politische Kommunikation ist hochgradig vorsätzlich und bietet so gut wie keinen Raum für den offenen Meinungsaustausch. Das Beziehungsnetz, welches die Mitgliedstaaten durch ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erwartungen und Erfahrungen verbindet, ist unsichtbar. Diese Studie macht dieses verborgene Geflecht auf einzigartige Weise sichtbar, indem sie die gegenseitige Wahrnehmung der Mitgliedstaaten sammelt und die Wahrnehmungsmuster grafisch aufbereitet.

Die Kooperationsgemeinschaft: Muster und Vorlieben der Zusammen­arbeit zwischen EU-Staaten

Will man den Kreis möglicher Integrationstreiber ermitteln, die das Projekt in einem Umfeld von Europaskepsis und Renationalisierung voranbringen, muss man die Vorlieben und Erfahrungen in der Zusammenarbeit der EU-Regierungen identifizieren. Jede progressive Initiative, die das Integrationsniveau vertiefen möchte, setzt einen Kreis von Regierungen voraus, die in die gleiche Richtung denken, in engem Kontakt miteinander stehen und produktiv zusammenarbeiten. Die Leitfrage dieses Abschnitts lautet daher: Welche Mitgliedstaaten weisen die größte Übereinstimmung der Interessenlagen auf? Welche Staaten kooperieren am häufigsten und engsten? Und welche Regierungen werden von anderen als besonders responsiv wahrgenommen?

Deutschland, Frankreich und Großbritannien – die „Großen Drei“–  befinden sich im Schnittpunkt des Geflechts der Staatenbeziehungen in der EU. Dieses nahe­liegende Resultat wird im EU28 Survey aus allen Teilen der Europäischen Union bestätigt. Im Gesamtbild der EU28 – also der Befragten aus allen 28 Mitgliedstaaten, ragt Deutschland als das am meisten kontaktierte Land heraus. Die Befragten nennen Deutschland weit häufiger als jedes andere Land, auch bei den Fragen nach gemeinsamen Interessen und Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Auf dem zweiten bzw. dritten Platz folgen entweder Frankreich oder Großbritannien – letzteres trotz der Brexit-Entscheidung. 

Glossary of terms

Die Großen  Drei – Deutschland, Frankreich, Großbritannien

Die Großen Sechs – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, Spanien

Die Reichen Sieben – Belgien, Dänemark, Finnland, Luxemburg, Die Niederlande, Österreich, Schweden

Die Südlichen Sieben – Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Portugal, Spanien, Zypern

Die sechs Gründerstaaten – Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Die Niederlande

Die Visegrád-Vier – Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn

Die Kooperationsgemeinschaft – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Die Niederlande, Polen, Spanien, Schweden

In den drei Interaktionsindikatoren „am meisten kontakt­iert“, „gemeinsame Interessen“ und “Responsivität“ belegt die Berliner Regierung jeweils den ersten Rang, gefolgt von denen in Paris und London. Diese Einschätzung entspricht der Binnensicht der Großen Drei: Befragte aus diesen drei Staaten nennen die beiden anderen jeweils als diejenigen, mit denen sie in engem Kontakt stehen, Interessen teilen und produktiv zusammenarbeiten. Diese Einschätzungen der politischen Klasse in Frankreich, Deutschland und Großbritannien legen den Schluss nahe, dass im Grundsatz mehr gemeinsame politische Führung der drei größten Mitgliedstaaten in der EU möglich ist, und dass diese Rolle in anderen Hauptstädten durchaus auf Akzeptanz stößt. Dieses Ergebnis stellt die weniger beachteten Folgekosten des Brexits dar.

Jenseits der drei offensichtlichen Schwergewichte, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, gibt es eine Reihe weiterer EU-Staaten, die höhere Werte in den drei Interaktionsindikatoren aufweisen. Dies sind die übrigen drei großen EU-Staaten Italien, Spanien und Polen sowie zwei kleinere wohlhabende Staaten, die Niederlande und Schweden. Das Maß gemeinsamer Interessen mit diesen Staaten entspricht nahezu den Werten für Frankreich und Großbritannien. Nach den Großen Drei am häufigsten kontaktiert werden Polen, Italien, Schweden, die Niederlande und Spanien. Polen, Spanien und Italien werden als eher responsiv eingeschätzt; die Niederlande und Schweden erreichen in dieser Kategorie sogar die gleichen Werte wie Frankreich und Großbritannien.

Die Daten belegen enge Verflechtung zwischen den oben genannten acht EU-Staaten, dichter als die Verbin­dungen zu anderen oder zwischen anderen Mitgliedstaaten. In diesem Kreis lässt sich der Kern einer so genannten „Kooperationsgemeinschaft“ finden. Dies wird auch im Kreis der “Großen Sechs“ so gesehen: Die Befragten aus diesen Staaten nennen sich gegenseitig sowie die Niederlande und Schweden, wenn es um die Kategorien gemeinsame Interessen, häufiger Kontakt und Responsivität geht – die einzige Ausnahme ist Polen, das nicht von allen Staaten der Großen Sechs nomminiert wird. Den Haag und Stockholm kooperieren ihrerseits besonders eng mit Berlin, Paris und London sowie untereinander. Diese Interaktionsmuster innerhalb der „Kooperationsgemeinschaft“ belegen das Initiator- und Treiberpotenzial dieser Staaten in der europä­ischen Politik.

Es fällt auf, dass die wohlhabenden kleineren EU-Staaten – nämlich die skandinavischen Mitgliedstaaten, die Benelux-Länder und Österreich (in der Gruppensystematik als die „Reichen Sieben“ bezeichnet) – weniger enge und verflochtene Beziehungen untereinander aufweisen als ihre wirtschaftliche und finanzielle Interessenlage oder ihre politischen Präferenzen nahelegen würden. Stattdessen gliedern sich die sieben Staaten in zwei regionale Dreiergruppen mit jeweils deutlich erkennbarer Binnenorien­tierung sowie Österreich, welches die vergleichsweise ge­ringsten Verbindungen zu den anderen sechs Staaten dieser Gruppe aufweist. Die Niederlande und Schweden sind die am stärksten bewerteten Länder der Reichen Sieben. Sie weisen zudem dichtere Verbindungen zu Staaten außerhalb ihrer regionalen Teilgruppe auf. So wird die Interaktion der Niederlande mit Schweden enger eingeschätzt als die mit Belgien. Dasselbe Muster zeigt sich für die Verbindung Schwedens zu den Niederlanden, die höher eingeschätzt wird als die zu Dänemark.

Daneben weisen die Befragungsergebnisse auf zwei weitere, regional geprägte Kooperationsgemeinschaften hin. Sowohl die Mittelmeergruppe (Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Portugal, Spanien und Zypern) als auch die vier Visegrád-Staaten (Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn) teilen mehr Interessen untereinander als die EU28. Zugleich sind beide Gruppen unauflöslich mit der zentralen Kooperationsgemeinschaft verbunden: Die großen Mitgliedstaaten im Süden (Frankreich, Italien und Spanien), und Polen im Osten sind nicht nur im Fokus ihrer regionalen Gruppe, sondern auch Teil von Europas zentraler Kooperationsgemeinschaft. Schließlich fällt auf, dass die Mittelmeerstaaten neben ihrer Kooperation mit den Nachbarländern auch häufig und produktiv mit Deutschland und Großbritannien zusammenarbeiten.

Preferences EU28

Übungen in Schwerkraft: Die Rangordnung der EU-Staaten nach Einfluss

Im Herbst 2016, nach dem Brexit-Referendum und dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, bewerteten die befragten europapolitischen Akteure und Experten die folgenden EU-Staaten als „enttäuschende“ Partnerregierungen: An der Spitze standen Großbritannien, Ungarn und Polen, gefolgt von Frankreich, Deutschland, Griechenland, Österreich, Italien und den Niederlanden. Ein Jahr zuvor hatte Deutschland in der Hitliste der Enttäuschungen noch keinen Platz erhalten; 2015 führte Griechenland die Liste an, gefolgt von Großbritannien und Ungarn. Offensichtlich schlagen sich aktuelle Entwicklungen wie die Flüchtlingsdebatte in der Bewertung nieder, dies jedoch nicht stark genug, um etwa Deutschland in die Spitzengruppe der Negativ­bewertungen zu heben. Die Unzufriedenheit mit diesen Staaten hängt mit deren Rolle in europapolitischen Krisen in jüngerer Zeit zusammen. Die Bewertungen scheinen daher volatiler zu sein als die Einschätzungen zum Einflusspotenzial von Mitgliedstaaten.

Die Bewertungen zum Einfluss einzelner Mitgliedstaaten erweisen sich im Vergleich zur Pilotstudie 2015 deutlich beständiger. Die Befragten sollten die sechs großen Mitgliedstaaten gemäß ihrem Einfluss über die zurück­liegenden fünf Jahre auf die gesamte EU-Politik, sowie auf spezifische Politikfelder, nämlich Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Fiskalpolitik, einstufen. Die Frage nach dem generellen Einfluss auf die EU-Politik wurde jeweils auch für die Reichen Sieben sowie die restli    chen Mitgliedstaaten gestellt.

Wie einflussreich werden die Großen Sechs wahrgenommen?

Das Ranking der sechs großen EU-Staaten in Bezug auf ihren generellen Einfluss auf die EU-Politik ergibt ein eindeutiges Resultat: Deutschland wird von einer großen Mehrheit der Experten aus ganz Europa als das einflussreichste EU-Mitglied eingestuft. Der Konsens unter den Befragten über den zweiten Rang für Frankreich ist demgegenüber schwächer aber noch recht hoch, obgleich ein kleinerer Teil der befragten Praktiker und Experten das Land eher auf Rang 3 einordnet. Die Einschätzung des Einflusses der übrigen vier großen Staaten ist deutlich weniger eindeutig; häufig werden zwei bis drei Rangplätze für ein Land bevorzugt genannt, ohne eine klare Präferenz (was die Farbverteilung der Grafik unten deutlich zeigt). Großbritannien wird zumeist, aber nicht eindeutig, auf Rang 3 eingestuft, gefolgt von Italien, Polen und Spanien auf den Plätzen 4, 5 und 6. Das Ranking nach Einfluss folgt nicht notwendigerweise den Größenrelationen oder dem wirtschaftlichen Gewicht der Staaten. Die Einstufung Polens zeigt dies deutlich: Die meisten Befragten ordnen Polen auf den Plätzen 4 bis 6 ein, dabei sieht die größte Gruppe Polen auf Rang 5. Auch Spanien ist vor allem auf den Rängen 4 bis 6 vertreten, doch es führt nur in Rang 6 – und dies obwohl Spanien eine größere Bevölkerung als Polen und eine längere EU-Mitgliedschaft aufweist, Teil der Eurogruppe ist und ein etwa zweieinhalbmal größeres Sozialprodukt besitzt als Polen. Offensichtlich haben die disruptiven Wirkungen der Finanzkrise den wahr­genommenen Einfluss Spaniens und seine zuvor aktive Rolle in der europäischen Politik geschmälert.

Markante Unterschiede in der Einschätzung ergeben sich bei den Rankingergebnissen aus der Sicht einzelner Gruppen. So stufen die Visegrád-Staaten Frankreich nicht wie allgemein auf Rang 2 ein, sondern auf dem Dritten. Auch die Mittelmeeranrainer schätzen Frankreichs Einfluss geringer ein. Außerdem platzieren sie nicht Polen auf Rang 5, sondern Spanien.

Wie bewerten die sechs großen Mitgliedstaaten gegenseitig ihren Einfluss in den letzten fünf Jahren? Ein erster Blick auf die Binnenperspektive[1] der Großen Sechs zeigt das gleiche Bild wie das Resultat für die EU28: Berlin an der Spitze, Madrid bildet den Schluss.
Im genauen Vergleich zeigen sich jedoch aufschluss­reiche Abweichungen vom Gesamtranking der EU28, etwa im Konsensniveau über die einflussreichsten Staaten. So stimmt das Selbstbild der deutschen Befragten in hohem Maße mit der Summe der Einschätzungen aus allen Staaten überein; 95 Prozent der deutschen Akteure und Experten sehen ihr Land auf Rang 1. Dies wird auch unter französischen und spanischen Befragten so gesehen, allerdings weniger eindeutig. Ein kleiner Teil der Studienteilnehmer setzt Frankreich auf dem ersten Rang. Im Allgemeinen wird Großbritannien klar auf Rang 3 gesehen – nicht jedoch unter den britischen Befragten. Hier ordnet eine signifikante Minderheit das Land auf Rang 6 ein und spricht der eigenen Regierung damit geringen– im Licht des Brexit­Referendums zu geringen – Einfluss zu.

 

Daneben fallen Unterschiede im Konsensniveau der Großen Sechs über die Rangordnung in den unteren Rängen ins Auge. Deutsche und französische Umfrageteilnehmer schätzen beispielsweise den Einfluss Italiens und Spaniens deutlich geringer ein als der Durchschnitt aller Befragten. Demgegenüber bewerten die italienischen und spanischen Teilnehmer den Einfluss ihrer Länder höher als der Durchschnitt. Die polnischen Akteure und Experten wiederum schätzen ihr Land als eindeutig schwächsten Teil des Weimarer Dreiecks ein. Unter ihnen ist der Konsens über die Ränge 1 und 2 für Deutschland und Frankreich höher als im Schnitt aller Befragten, jedoch schwächer was den eigenen Rang angeht.  Die polnischen Befragten platzieren ihr eigenes Land auf Rang 5, genau wie die Befragten in den Großen Sechs, allerdings weniger eindeutig.

Ranking der Großen Sechs in spezifischen Politikfeldern

Einschätzungen zum Einfluss der sechs großen EU-Staaten unterscheiden sich deutlich, wenn nach spezifischen Politikfeldern gefragt wird, etwa nach Fiskalpolitik sowie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Im Einflussranking für den Bereich Fiskalpolitik ist die oben konsta­tierte komplementäre Einschätzung der drei größten EU-Staaten nicht wiederzufinden. Akteure und Experten aus Deutschland und Frankreich schätzen den Einfluss Großbritanniens hier deutlich niedriger ein. Allerdings schätzen die französischen Teilnehmer den Einfluss ihres Landes ebenfalls deutlich niedriger ein als ihre deutschen und britischen Kollegen diesen bewerten, und sie er­messen Großbritanniens Einfluss positiver als die Deutschen dies tun. In der deutschen Bewertung spiegelt sich klar die Bedeutung der Mitgliedschaft in der Eurozone wider, da Italien und Spanien mehr Einfluss in der Fiskalpolitik zugesprochen wird als Großbritannien.

Noch deutlichere Abweichungen zeigt das Einflussranking für die Großen Sechs im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Insgesamt fällt der Konsens unter allen Befragten hier geringer aus als in allen anderen Ranking-Fragen. Auch die Abweichungen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sind stärker ausgeprägt. Die Einschätzungen des Einflusses von Italien, Spanien und Polen durch alle Befragten liegen relativ nah an der jeweiligen Selbsteinschätzung der Italiener, Spanier und Polen. In allen drei Staaten fällt das Selbstbildnis jedoch positiver aus als im Durchschnitt aller Befragten.

Für Deutschland, Frankreich und Großbritannien ergibt sich ein anderer Trend: Im Ranking wird Deutschland nicht als führender Einflussnehmer gewertet – im Unterschied zu den anderen Rankingfeldern und abweichend vom Durchschnitt. Die Befragten aus den großen drei Staaten platzieren Frankreich im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik an erster Stelle; dabei sehen die französischen Teilnehmer Frankreich klar vorne, weniger deutlich ist das Urteil der Deutschen und Briten. Deutschlands Einfluss schätzen die Franzosen deutlich niedriger ein, die Briten dagegen höher als der Durchschnitt der Befragten. Interessanterweise halten die Briten Deutschland für deutlich einflussreicher als sich selbst, obwohl der verteidigungs- und sicherheitspolitische Bereich in der allgemeinen Wahrnehmung als besondere Stärke Großbritanniens bewertet wird. Dies entspricht der Wahrnehmung in Deutschland, wo man sich selbst hinter Frankreich auf Rang 2 einordnet. Die französische Sicht weicht wieder ab – in Frankreich wird Großbritannien als deutlich einflussreicher eingeschätzt als Deutschland und rangiert entsprechend auf Rang 2 hinter Frankreich.

Der Einfluss der Reichen Sieben

Wie groß ist der europapolitische Einfluss der kleineren Staaten aus der „Kooperationsgemeinschaft“, Schweden und den Niederlanden, im Vergleich zu den Ländern ihrer Stammgruppe, den Reichen Sieben? Sie erhalten Be­wertungen, die deutlich über denen der übrigen Staaten in ihrer Gruppe der Reichen Sieben liegen. Eine deut­liche Mehrheit (64 %) der Akteure und Experten in allen EU-Staaten sehen die Niederlande als das einflussreichste Land unter den sieben reichen kleineren EU-Staaten. Der Einfluss der übrigen Staaten einschließlich Schweden wird weniger einheitlich eingeschätzt (wie die Verteilung der Farben in der Grafik unten zeigt).

Die Großen Sechs und die Visegrád-Gruppe heben ebenfalls die Niederlande hervor, doch weniger stark als der Durchschnitt der Befragten. Dafür schneidet Schweden aus der Sicht dieser beiden Gruppen besser ab und belegt hier häufiger den ersten Rang als im Schnitt der EU28. Auffällig ist, dass die Visegrád-Staaten den Einfluss Dänemarks überdurchschnittlich hoch und Finnland überdurch­schnittlich niedrig einschätzen. Ein Blick auf die Mittelmeeranrainer zeigt eine leicht bessere Bewertung Dänemarks und Österreichs gegenüber einer geringeren Einschätzung Schwedens.

Die Ergebnisse der Befragten aus den sieben reichen kleineren Staaten entsprechen recht genau der Selbsteinschätzung der einzelnen Staaten zu ihrem Einfluss in der EU. Die Niederlande ragen mit 71 Prozent deutlich heraus, sogar mehr als im Urteil aller Befragten. Der Wert entspricht exakt der Selbsteinschätzung der niederländischen Akteure und Experten. Eindeutiger als in der Gesamtschau aller Befragten setzen die Reichen Sieben Schweden auf Rang 2 und Österreich auf Rang 4 der einflussreichsten Staaten dieser Gruppe. Während die finnischen Akteure und Experten ihr eigenes Land für einflussschwächer halten als die übrigen Befragten dieser Gruppe, ordnen sich die Dänen überdurchschnittlich stark direkt hinter den Niederlanden und Schweden ein. Dass Luxemburg von allen sieben Staaten der Gruppe der geringste Einfluss zugesprochen wird, kommt in den Wertungen der Reichen Sieben deutlicher zum Ausdruck als in der Gesamtschau der 28 Mitgliedstaaten.

Ein Blick auf die übrigen EU-Mitgliedstaaten jenseits der Großen Sechs und Reichen Sieben zeigt ein anderes Bewertungsmuster. Hier ragen im Einflussranking aller Befragten die Staaten heraus, die als „Spielverderber“ be­zeichnet werden könnten. Angeführt wird das Ranking mit deutlichem Abstand von Griechenland und Ungarn, gefolgt von Irland, der Tschechischen Republik und Portugal – zwei „Programmländer“ der Eurozone und ein traditionell EU-skeptisches Mitglied.

Wichtige Partner: Der innere Zirkel der EU-Staaten

Das Verständnis der Beziehungen zwischen den EU-Staaten vertieft auch die Frage, für wie relevant einzelne Staaten in verschiedenen Politikfeldern gehalten werden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass EU-Regierungen solche Mitgliedstaaten als wichtige Partner einstufen, mit denen sie gemeinsame Interessen teilen, eine gute Arbeitsbe­ziehung aufgebaut haben und die sie für das jeweilige Thema relevant halten. Die Antworten der befragten Akteure und Experten bestätigt diese Erwartung. Die Befragten sollten die aus der Sicht ihres Landes wichtigsten Partner für die Politikgestaltung benennen. Die Frage wurde für die vier Felder Außen- und Entwicklungspolitik, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik und schließlich der Fiskalpolitik eingegrenzt.

Das Gesamtbild ergibt einen Kreis von 16 Staaten, die am häufigsten als „wichtige Partner“ genannt werden. Darunter befinden sich: die sechs großen EU-Staaten, die Niederlande und Schweden. Das ist der gleiche Kreis von EU-Staaten der auch in der Auswertung der Interaktions­indikatoren herausragt und im europapolitischen Einfluss-Ranking im Mittelpunkt steht.

Die grafische Darstellung[1]  (siehe Abbildung unten) für die vier Politikfelder zeigt, welche Staaten von den Befragten am häufigsten als „entscheidend“ für den jeweiligen Be­reich genannt wurden; die Staaten sind in der Grafik nach dem Maß der Übereinstimmung aller Befragten angeordnet, die wiederum durch die Einschätzung der Genannten selbst kontrolliert wurde.

Die Großen Sechs treten in der Auswertung in allen Be­reichen als entscheidende Partner für die anderen EU-Staaten auf, je nach Politikfeld allerdings in unterschiedlicher Intensität. Deutschland und Frankreich werden als wichtigste Staaten bewertet und befinden sich damit im innersten Kreis aller vier Politikfelder. Die Auswertung der französischen und der deutschen Einschätzungen bestätigt diesen Befund. Beide Seiten nennen den jeweils anderen auch häufiger als jedes andere EU-Mitglied; die Übereinstimmung unter den Befragten liegt noch über den hohen Werten für alle Befragten. Keine anderen EU-Staaten erzielen annähernd so hohe Nominierungen wie Deutschland und Frankreich, mit Ausnahme von Großbritannien im Bereich der Sicherheits- und Vertei­digungspolitik. Hohe Werte erzielt auch Italien, das in allen vier Bereichen im mittleren Ring entsprechend einem mitt­leren Konsensniveau angesiedelt ist. Polen befindet sich ebenfalls im mittleren Ring, allerdings nur in Bezug auf die beiden außenpolitischen Politikfelder. Die Nennungen Spaniens reichen für einen Platz im äußeren der drei Ringe, für alle vier Politikfelder. Niederlande und Schweden gelten wie Italien als wichtige Partner im mittleren Ring, jedoch nicht im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Unter den übrigen Staaten fällt die Slowakei ins Auge. Abgesehen von der Außen- und Entwicklungspolitik liegt sie den anderen drei Politikfeldern im äußeren Ring. Ebenso Österreich, das ebenfalls in drei von vier Feldern im äußeren Ring platziert ist, mit Ausnahme der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zu den Werten aus dem Einflussranking. Dort erschien Österreich als der am wenigsten verflochtene Staat in der Gruppe der Reichen Sieben, und auch die Slowakei wurde vergleichsweise niedrig bewertet – sogar von ihren Nachbarn in der Visegrád-Gruppe.

Auch wenn sich Partnerschaftsmuster über den Raum der ganzen EU hinweg finden, weisen sie deutliche Varianzen auf, die sich am Politikfeld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gut veranschaulichen lassen (siehe Abbildung oben). In vielen Fällen nennen sich benachbarte Staaten gegenseitig als wichtige Partner. So geben sich die Mitglieder der Visegrád-Gruppe sehr häufig untereinander als wichtige Partner in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Eine Besonderheit sind die polnischen Befragten, die Ungarn wesentlich häufiger als die Tschechische Republik und die Slowakei nennen. Drei der vier Visegrád-Staaten nennen jedoch am häufigsten Staaten außerhalb ihrer Gruppe, zumeist Deutschland gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Eine Ausnahme hier ist Ungarn, wo alle Visegrád-Partner häufiger genannt werden als einer der drei größten EU-Staaten. Andere untersuchte Gruppen wie etwa die Mittelmeeranrainer weisen keine auffälligen Abweichungen vom Gesamtbild auf.

Deutliche Unterschiede bestehen in den Relevanzbewertungen einzelner Staaten, sogar dann wenn die bilateralen Beziehungen als besonders eng gelten. Dies zeigt sich exemplarisch am Vergleich der deutschen und französischen Bewertungen im Bereich der Sicherheits- und Vertei­digungspolitik. Die Grafik führt nur diejenigen Staaten auf, die die deutschen, französischen und niederländischen Befragten häufig als „wichtige Partner“ benannt haben.

Übereinstimmend nennen Deutsche und Franzosen sich gegenseitig an erster Stelle, und beide benennen Groß­britannien, Italien und Polen als wichtige Partner. Allerdings zeigt die Auswertung auch deutliche Unterschiede. Drei der insgesamt sieben Staaten, die Deutsche und Franzosen häufig nennen, werden nur von einer Seite benannt: Nur die deutschen Befragten nennen die Niederlande, nur die Franzosen nennen Belgien und Spanien. Er­weitert man den Blick um die niederländische Perspektive, so zeigen sich zusätzliche Differenzierungen. Die Akteure und Experten aus den Niederlanden nennen Deutschland und Frankreich am häufigsten als wichtige Partner, doch nur die Deutschen erwidern diese Einschätzung. Allerdings zeigt die Liste der niederländischen Befragten insgesamt mehr Übereinstimmungen mit der Einschätzung der französischen Teilnehmer.

Themen und Konstellationen für Koalitionen

Die vorhergehenden Abschnitte haben die Einschätzungen der befragten Akteure und Experten zur Verbundenheit der Staaten untereinander sowie zu deren wahrgenommenen Einfluss auf die EU-Politik beschrieben. Dabei zeichnet sich die Schlüsselrolle Deutschlands und Frankreichs ebenso deutlich ab wie der Stellenwert der sechs großen EU-Staaten. Daneben wurde die Bedeutung kleinerer Staaten wie Niederlande und Schweden sichtbar, die im Kreis aller EU-Staaten durch die enge Verflechtung mit anderen auffallen und hohe Wertschätzung erfahren. Die Interaktionsanalyse wie auch das Einflussranking zeigen, dass Koalitionsbildung nicht ohne Mitwirkung großer Staaten erfolgen kann. Um eine kritische Masse zu erzeugen, müssen aber auch kleinere Staaten mit Einfluss einbezogen werden. Im folgenden Abschnitt sollen die bisherigen Befunde vertieft werden, indem die acht oben erwähnten Staaten anhand unterschiedlicher Partnerkonstellationen und Politikfelder untersucht werden.

Dabei steht die Bedeutung von Koalitionen für die professionelle Klasse der europapolitischen Akteure und Experten außer Frage. Mit 97 Prozent Zustimmung halten nahezu alle Befragten Koalitionsbildung innerhalb der EU für ziemlich wichtig oder sehr wichtig. Dieses eindeutige Ergebnis erklärt sich, wenn man die Rolle von Koalitionen im Politikprozess einer derart großen und heterogenen Struktur wie der heutigen EU reflektiert. Sie haben drei verschiedene Funktionen: Koalitionen können als Interessengruppe Druck auf den Konsens zwischen EU-Staaten erzeugen; sie könnten aber auch zur Blockade von Ent­scheidungen genutzt werden und sie können als Avantgarde-Gruppe weitergehende Integrationsschritte umsetzen.

Das klassische Fallbeispiel zu den Wirkungsmöglichkeiten von Koalitionen bildet die Gruppe der sechs Gründerstaaten. Die sogenannten Gründerväter der Integration ragen im heutigen Beziehungsgeflecht der EU-Staaten nicht mehr deutlich heraus. In den verschiedenen Analyseperspektiven des EU28 Survey erscheinen sie nicht als besonders eng verbundene Gruppierung. Im Gegensatz dazu bringen die Befragten keine andere Gruppe so eng mit den Perspektiven von „mehr Europa“ und tieferer EU-Integration in Zusammenhang wie mit Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern (siehe Abbildung oben). Im Gesamtranking der EU28 führen diese sechs Staaten die Rangliste der Bewertung zur Integrationsfreundlichkeit eindeutig an. Die Niederlande werden als der am wenigsten integrationsfreundliche Gründerstaat eingestuft. Der im Blick auf Vernetzung, Reputation und Einfluss bedeutendste Staat in der Gruppe der Reichen Sieben gilt also zugleich als derjenige Gründerstaat mit den geringsten Integrationsambitionen. Studienteilnehmer aus Italien sehen ihr Land als etwas integrationsfreundlicher und ihre französischen Kollegen Frankreich als etwas integrations­skeptischer als der Schnitt aller Befragten.

Die bevorzugten Handlungsebenen aus Sicht der EU-Profis

In der gegenwärtigen EU scheint der traditionelle Weg zur Vertiefung der Integration verstellt: Eine Einigung unter den Staaten auf ein Mandat für einen Konvent, der Vorschläge zu Vertragsänderungen ausarbeitet, ist durchaus möglich. Doch dürfte schon die darauffolgende Regierungskonferenz an Positionsdifferenzen scheitern, da einige Staaten „mehr Europa“ grundsätzlich ablehnen und andere ihre Zustimmung nur gegen weitreichende Zuge­ständnisse in anderen Bereichen gewähren würden. Selbst wenn eine Einigung im Kreis der Regierungen zustande käme, würde recht wahrscheinlich ihre Ratifikation in einem oder mehreren EU-Staaten durch Referenden oder Parlamentsvorbehalten verhindert.

Derartige Gedankenspiele treiben die Debatte über eine Differenzierung der Integration, so auch bei dem Sondergipfel von Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien im März 2017 in Versailles um die Erklärung von Rom vorzubereiten. Anstelle der Vertiefung für alle Mitgliedstaaten können die Integrationsentwicklung grundsätzlich drei verschiedene Wege einschlagen:

  • eine Gruppe von Mitgliedstaaten geht als Kerngruppe voran. Diese Gruppe würde unter sich die entsprechenden Regelungen rechtlich verbindlich innerhalb der geltenden Verträge (über die Klauseln zur verstärkten Zusammenarbeit) oder außerhalb auf einer eigenen Vertragsbasis treffen.
  • eine „Koalition der Willigen“ könnte informell enger kooperieren.
  • Zuständigkeiten werden auf der nationalen Ebene beibehalten oder auf diese zurückverlagert.

Die Ergebnisse des EU28 Survey bestätigen, dass die professionelle Klasse in der EU eine Differenzierung der Integration tatsächlich in den skizzierten drei Alternativen denkt. Die Studienteilnehmer wurden gebeten, in 16 verschiedenen Politikfeldern die von ihren Regierungen präferierte Handlungsebene zuzuordnen (siehe nächsten Abschnitt für Ergebnisse zu spezifischen Themen der euro­päischen Politik). Die professionelle Klasse und Experten wurden gefragt, auf welcher Akteursebene verschiedene Politikthemen bearbeitet werden sollen. Zur Auswahl standen: auf Ebene aller EU-Mitgliedstaaten gemeinsam; über eine rechtlich gebundene Kerngruppe; über eine informelle Koalition von Mitgliedstaaten; oder auf nationaler Ebene.

Das Gesamtergebnis (siehe Abbildung unten) zeigt eine ausgeprägte Bereitschaft in der professionellen Klasse zur differenzierten Integration. Immerhin 52 Prozent aller Antworten zu allen Politikthemen entfielen auf die Option eines gemeinsamen Vorangehens aller Mitgliedstaaten. Das alte Ideal der Gemeinschaft hat nach wie vor zahl­reiche Anhänger. Dies belegen für eine Reihe von Staaten die deutlich höheren Werte für die Option, im Kreis aller Staaten voranzugehen, etwa in Fragen des Binnenmarktes, der Klimapolitik oder der Außen- und Sicherheitspolitik. Zugleich zeigt dieser Wert jedoch eine deutliche Abkehr vom bisherigen Grundprinzip der Integrationsentwicklung und reflektiert die Einsicht die geringen Erfolgsaussichten des klassischen Ansatzes.

Fast ein Drittel der Befragten aus allen EU-Staaten be­vor­zugt entweder das Voranschreiten in Kerngruppen mit eigener Rechtsgrundlage (19 %) oder eine informelle Koalition der Willigen (15 %) – bemerkenswert hohe Werte für Optionen, die mit der bisherigen Integrationspolitik brechen. Die höchste Zustimmung finden die Optionen eines Vorangehens eines Teils der Mitgliedstaaten in der Frage der weiteren Ausgestaltung der Eurozone, obgleich dieses Politikfeld vertraglichen gesehen nur das temporäre Zurückbleiben einzelner Staaten vorsieht (abgesehen von der explizit vereinbarten Ausnahmeregelungen zur Nichtteilnahme für Großbritannien und Dänemark).

Auf die nationale Option bzw. auf eine Renationalisierung von Politikfeldern entfielen acht Prozent der Antworten über alle Felder hinweg. Auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Staaten und den Themen. Die höchsten Werte dazu finden sich zur Frage einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik, die besonders stark in Ungarn oder den Reichen Sieben als nationale Zuständigkeit eingestuft wird – wohingegen die Option gemeinsamen Handelns unter den Befragten aus den Gründerstaaten immerhin auf 40 Prozent kommt und im Kreis der Mittel­meeranrainer noch höhere Zustimmung erfährt.  

Die Gesamtschau auf Länder und Politikfelder zeigt unterschiedliche Typen von Staaten. Da sind zum einen die „Integrationisten“. Diese Staaten bevorzugen das gemeinsame Handeln im Kreis aller EU-Staaten. Die Studienteilnehmer aus Luxemburg geben die meisten auf Integration abzielende Antworten, aber auch die deutschen oder niederländischen Befragten bevorzugen diese Akteursebene für eine Reihe von Politikfeldern. Daneben fallen solche Staaten ins Auge, die weitergehende Integrationsschritte überdurchschnittlich häufig über eine feste Koalition mit eigener Rechtsbasis anstreben – die „Kerneuropäer“. Für Frankreich und Italien lässt sich dieses Muster erkennen. Ein dritter Typ ist der „Gelegenheitskoalitionär“, der für Länder steht, in denen informelle ad-hoc Koalitionen als Akteursebene über verschiedene Politikfelder hinweg bevorzugt werden. Großbritannien ist das beste Beispiel für diesen Typ, obgleich das Land auch höhere Werte für Kerngruppen oder die nationale Ebene aufweist als etwa Deutschland und Frankreich. In Großbritannien weichen die Antworten generell stark ab von anderen Mitgliedstaaten; nirgends ist die Akteursebene aller EU-Staaten so schwach ausgeprägt wie hier. Ein vierter Typ schließlich wären die „Isolationisten“, Länder in denen die nationale Akteursebene in zahlreichen Politikfeldern besonders stark ausfällt. Unter den 28 EU-Staaten trifft diese Charakter­isierung besonders auf Ungarn zu.

Die Präferenzen der Großen Sechs und der Reichen Sieben weisen eine hohe Übereinstimmung in Bezug auf die Akteursebenen auf. Dagegen fällt auf, dass die Mittel­meeranrainer sich offener gegenüber dem Handeln in Koalitionen zeigen und die nationale Ebene weniger häufig angeben, als der Durchschnitt der 28 EU-Staaten. Die Visegrád-Staaten gelten zwar als integrationsskeptisch, doch zeigen die Daten des EU28 Survey hier, dass dieser Eindruck im Wesentlichen durch die Haltung Ungarns beeinflusst wird.

Ein Vergleich der Präferenzen für verschiedene Akteurs­ebenen unter den acht am dichtesten vernetzten Staaten – den Großen Sechs, den Niederlanden und Schweden –
er­gibt, dass Deutschland und die Niederlande am klarsten auf die Zusammenarbeit aller EU-Staaten setzen, gefolgt von Frankreich, Spanien und Schweden (siehe Grafik rechts). Das traditionell integrationistische Italien zeigt im EU28 Survey eine eher „koalitionistische“ Haltung mit selektiver Zusammenarbeit. Es spricht einiges dafür, dass Staaten mit einer grundsätzlichen Präferenz für gemeinsames Handeln im Kreis der 28 Mitgliedstaaten und einer Zweitpräferenz für feste Koalitionen in letzterem ein Druckpotenzial in der Differenzierung von Integration sehen, dass für die Konsensbildung im Kreis der EU-Regierungen eingesetzt werden kann. Das unterscheidet sie von anderen Staaten wie etwa Großbritannien, wo Koalitionen eher ad-hoc und als „Koalition der Willigen“ gedacht werden.

Bevorzugte Akteursebene in spezifischen Politikfeldern

Es hängt stark vom Politikbereich ab, ob die befragten politischen Akteure und Experten ein gemeinsames Handeln der 28 Mitgliedstaaten, ein Voranschreiten in Kerngruppen mit eigener Rechtsgrundlage bzw. einer informellen Koalition der Willigen, oder ein politisches Agieren auf der nationalen Ebene bevorzugen. So ist die Bereitschaft zur Kernbildung mit verbindlicher Rechtsbasis und auch die Bearbeitung auf nationaler Ebene bei nach innen gerich­teten Politikbereichen größer als in der Außenpolitik. Die im Rahmen dieser Studie besonders intensiv ausgewerteten acht Staaten des „Kooperationszentrums“ folgen ebenfalls diesem Muster – mit einer Ausnahme: Die spanischen Befragten zeigen in den nach innen gerichteten Politikbereichen eine deutlich stärkere Präferenz für die Akteursebene aller EU-Staaten als die übrigen sieben.

EU-Innenpolitik

Eine im Vergleich zu allen Politikfeldern (19 %, siehe Abbildung auf Seite 11) deutlich höhere Präferenz für eine verbindliche Kerngruppe zeigen die Befragten in den Politikfeldern Justiz- und Innenpolitik (30 %) sowie bessere Governance für die Eurozone (51 %). Der höchste Wert für die Zusammenarbeit in einer Kerngruppe für den Bereich Justiz- und Innenpolitik findet sich in Österreich (57 %), gefolgt von Frankreich, Portugal, Slowenien, Lettland, Estland und Großbritannien. Weniger bereit zur rechtsverbindlichen Kernbildung sind hier die Visegrád-Staaten, Bulgarien und Litauen; erstere weil sie in diesem Bereich die nationale Ebene bevorzugen, und letztere weil sie das gemeinsame Vorangehen aller Mitgliedstaaten präferieren. Eine Vertiefung der Eurozone sollte vorrangig als Initiative eines Kerns erfolgen – dies meinen mit mehr als 60 Prozent überdurchschnittlich stark die befragten Experten und Praktiker in Frankreich, Österreich, Belgien, Luxemburg, Deutschland und Finnland.

Sozialpolitik

In Bezug auf eine gemeinsame Sozialpolitik sprechen sich 28 Prozent der Experten und Praktiker für die nationale Ebene aus. Die nationale Präferenz ist in diesem Bereich deutlich ausgeprägter als bei anderen Politikfeldern, wo der allgemeine Durchschnitt für die nationale Handlungsebene bei 8 Prozent liegt. Die höchste nationale Präferenz weisen die Visegrád-Staaten (58 %) auf, gefolgt von Dänemark und Großbritannien. Ganz anders fallen die Ergebnisse für Italien aus, wo keiner der Befragten die nationale Option in der Sozialpolitik vertritt. Klar unterdurchschnittlich fallen auch die Werte in Spanien, Frankreich, Österreich, Portugal und den Niederlanden (mit 17 % am höchsten) aus, die wesentlich gemeinschaftlicher im Bereich Sozialpolitik orientiert sind.

Für die EU-Außenpolitik zeigt sich ein anderes Präferenzmuster. Hier schwanken die Tendenz der befragten Praktiker und Experten eher zwischen dem gemeinsamen Handeln aller EU-Staaten und der Bildung von ad-hoc Koalitionen. Auch hier folgen die acht Staaten des „Ko­operationszentrums“ der Großen Sechs, Schweden und die Niederlande dem generellen Trend.

Außenpolitik

Bei den außenpolitischen Themen des EU28 Survey er­zielen drei Felder besonders hohe Werte für die ­O­ption gemeinsamen Handelns aller Staaten: Russland und Ukraine (61 bzw. 62 %), gemeinsamer Grenzschutz und Küstenwache (61 %) sowie Klimapolitik mit 71 % Zustimmung. Die Zustimmungswerte für Klimapolitik als ein gemeinschaftliches Handelsfeld aller EU-Staaten ist besonders hoch in den Niederlanden (92 %), gefolgt von Finnland, Frankreich, Deutschland und Portugal. Dies gilt dagegen in Großbritannien, Polen und Ungarn für weniger als die Hälfte der Befragten.

Eine substanzielle Minderheit von 27 Prozent aller befragten Praktiker und Experten sieht eine gemeinsame Verteidigungsstruktur als ein Handlungsfeld einer Koalition der Willigen – ein umstrittenes Thema in der aktuellen sicherheitspolitischen Debatte. Insbesondere die britischen Studienteilnehmer bevorzugen mit 80 Prozent eine informelle Koalition der Europäer neben dem Engagement in der NATO. In Finnland teilen nur 10 Prozent der Praktiker und Experten diese Auffassung; ähnlich niedrige Werte finden sich für Spanien, Polen und Italien. Eine gemeinsame Verteidigungsstruktur als Aufgabe aller EU-Staaten trifft andererseits auf erheblich größere Zustimmung in ansonsten recht unterschiedlichen Staaten wie Deutschland, den Niederlanden, Polen und Rumänien.

Was denkt die europäische Öffentlichkeit?

Viele aktuelle Europadebatten beklagen eine wachsende Distanz zwischen Eliten und Öffentlichkeit. Auf der einen Seite wird die These der Kluft zwischen international und proeuropäisch ausgerichteten Eliten und einer eher national und EU-kritisch eingestellten Öffentlichkeit vertreten. Auf der anderen Seite werden regelmäßig Ergebnisse der Eurobarometer-Umfragen[2] herangezogen, die hohe Zustimmungswerte für mehr Europa etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik dokumentieren. Es wird damit argumentiert, die Bürger seien in manchen Bereichen deutlich integrationsfreundlicher als die politische Elite. Zum Abgleich der im EU28 Survey ermittelten Sicht der professionellen Klasse mit der öffentlichen Meinung haben die Autoren dieser Studie in Zusammenarbeit mit Dalia Research die Gestaltungspräferenzen und Politikfelder auch repräsentativ unter den Bürgerinnen und Bürgern der EU erfragt. Die Liste der Themen entsprach weitgehend der des EU28 Survey. Der Zeitpunkt der Erhebung lag nur zwei Monate nach Ende der Survey-Befragung im Dezember 2016.


Der Vergleich zeigt insgesamt eine deutlich stärkere Präferenz der Bürgerinnen und Bürger für die nationale Handlungsebene. In ihrer Abwägung zwischen euro­päischer Politikgestaltung im Kreis aller Mitgliedstaaten einerseits oder dem Handeln von Gruppen im klein­eren Kreis andererseits zeigt sich die öffentliche Meinung koalitionsskeptisch. Verschiedene Geschwindigkeiten oder lockere Koalitionen finden insgesamt weniger Zustimmung als das Handeln im Kreis aller EU-Mitglieder. Die Grafik auf Seite 12 zeigt dies für die Kernbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik, die in den Eurobarometer-Erhebungen stets hohe Zustimmungswerte erzielen. Hier liegen die Werte für die nationale Ebene in der professionellen Klasse deutlich niedriger; und ihre Zustimmung zu Koalitions­optionen ist größer, wenn auch nicht durchgängig, wie im Vergleich zwischen Außenpolitik und Verteidigungspolitik zu erkennen ist.

Die in diesem Policy Brief gezeigten unterschiedlichen Einschätzungen der Praktiker und Experten verschiedener EU-Staaten finden sich in der europäischen öffentlichen Meinung oft nicht wieder. In den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik etwa weisen die Präferenzen der deutschen und der britischen Praktiker und Experten in nahezu entgegen gesetzte Richtung (siehe Abbildung). Die öffentliche Meinung in beiden Ländern dagegen unterscheidet sich weniger stark.

Koalitionsstrategien: Die Zukunft der europäischen Integration

Koalitionen werden die Zukunft der europäischen Integration auf verschiedene Art und Weise beeinflussen. Angesichts der Größe der EU und der wachsenden Bedeutung intergouvernementaler Strukturen und Prozesse erscheint die Bildung von Koalitionen unvermeidlich, um die Regierbarkeit des europäischen Integrationsgefüges zu bewahren. Einerseits wird die traditionelle Funktion von Avantgarde-Gruppen als Konsenstreiber bestehen bleiben und eine aufrüttelnde Wirkung auf integrationsskeptische Regierungen ausüben. Andererseits dürfte die Heterogenität der Staaten und die Diversität ihrer Interessen inzwischen so stark gewachsen sein, dass Koalitionsbildung als Druckmittel nicht mehr ausreicht, die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken. Koalitionen werden also nicht allein ankündigen, sondern auch umsetzen müssen, was sie an höherem Konsens und gemeinsamem Vorangehen zu leisten ver­sprechen. Stärker als jemals zuvor werden die Leistungen der EU weniger durch alle Mitgliedstaaten gemeinsam erbracht werden müssen, und mehr durch verfasste Kerngruppen oder informelle Koalitionen der Handlungswilligen.

Dabei dürften sich formelle Initiativen für „mehr Europa“ eher auf eine eigene Rechtsbasis außerhalb der Verträge bzw. einen nur von den Teilnehmern formulierten politischen Konsens stützen, auch wenn dies den Präferenzen der europäischen Institutionen zuwiderläuft. Der Grund dafür liegt in den Voraussetzungen und formalen Erfordernissen der in den Verträgen definierten Koalitionsoptionen der „verstärkten Zusammenarbeit“ oder der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“. Beide Klauseln könnten sich als zu eng oder zu restriktiv erweisen um auf größere Integrationsprojekte Anwendung zu finden. Der Anwendung dieser Instrumente steht außerdem die Vetomöglichkeit nicht-teilnehmender Staaten entgegen. ­Stattdessen würden Avantgarde-Gruppen die Legitimation für ihr Vorangehen aus den in den Verträgen niedergelegten Integrationszielen ableiten und reklamieren, dass diese erst einmal nur in einer Kerngruppe erreichbar sind solange der politische Konsens für ein gemeinsames Handeln mit allen EU-Mitgliedstaaten fehlt.

Der Fokus derartiger Avantgarde-Initiativen müsste auf jenen Politikfeldern liegen, in denen die Handlungsfähigkeit der EU hinter den Erwartungen vieler Bürgerinnen und Bürger Europas zurückbleibt. Das ist die Botschaft in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates seit dem Brexit-Referendum. Wenn dies nicht gelingt glauben viele politischen Entscheider, dass eine kleinere Gruppe von EU-Staaten die Initiative ergreifen sollte. In dieser Hinsicht fallen drei politische Aufgaben besonders ins Auge:

Die wirksame Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen der EU – ein Kern­anliegen für alle Schengen-Staaten
Eine Kerngruppe könnte in diesem Bereich eine gemeinsame Grenzpolizei und Küstenwache aufbauen, das Einwanderungs- und Asylrecht vereinheitlichen und einen Ausgleichsfonds schaffen, aus dem teilnehmende Staaten finanzielle Unterstützung für die Kosten der Aufnahme von Menschen erhalten. Finanziert würde all dies aus einem gemeinsamen Haushalt der teilnehmenden Staaten und auch nur diesen zugutekommen. Eine vergleichbare Initiative könnte auch für den Bereich der Strafverfolgung, der Nachrichtengewinnung und Kriminalitätsbekämpfung unternommen werden.

Die Zusammenführung der Verteidigungs­kapazitäten in Europa mit dem Ziel ­einer überzeugenden gemeinsamen Verteidigung
Koalitionen oder Kerngruppen könnten Schlüsselbereiche der Verteidigung zusammenzuführen, wie etwa Forschung und Entwicklung, Beschaffung, Kommando, Kontrolle und Aufklärung, Logistik und Versorgung (vom Lufttransport bis zu Sanitätsdienst). Geneigte Staaten könnten auch ihre Streitkräfte einem gemeinsamen Verteidigungskommando unterstellen. Wie im Bereich des Grenzschutzes oder der Inneren Sicherheit käme der unmittelbare Nutzen gemeinsamen Handelns nur den beteiligten Staaten zugute, doch würden im weiteren Sinne die EU und damit auch nicht beteiligte Staaten vom Vorangehen einer Gruppe profitieren.

Wirtschaftswachstum, soziale Gerechtigkeit und fiskalische Nachhaltigkeit als wechselseitig abhängige Variablen einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung
Eine derartige Initiative spräche vor allem die Mitglieder der Eurozone an. Denkbar wäre eine Kerngruppe innerhalb der Währungsunion, die nationale Budgetrechte einer weitergehenden gemeinsamen Kontrolle unterwerfen würde und sich damit etwa die Möglichkeit gemeinsamer Anleihen zur Finan­zierung von Investitionen eröffnen könnte. Sinnvoll und denkbar wäre in diesem Rahmen eine weitere Steuerharmonisierung oder die Schaffung eines gemeinsamen Haushalts, der mittels einer Transferfunktion Asymmetrien in der wirtschaftlichen Entwicklung der teilnehmenden Staaten puffert.

Neben Großprojekten wie oben beschrieben könnten unterschiedliche Koalitionen kürzerfristige oder spezifischere Anliegen umsetzen und dazu die Instrumente der verstärkten Zusammenarbeit nutzen, wie dies beispielsweise beim Europäischen Patent oder jüngst der Europäischen Staatsanwaltschaft geschehen ist. Auf diese Weise könnten praktische Integrationserfordernisse relativ zeitnah umgesetzt werden, auch dann wenn eine gemeinsame Haltung im Kreis aller EU-Mitgliedstaaten nicht erreichbar ist.

Großprojekte der oben umrissenen Art können kaum durch eine Koalition der Willigen geschultert werden. Fast immer wären rechtliche Anpassungsschritte oder sogar Ver­fassungsänderungen auf Seiten der teilnehmenden Staaten nötig, was wiederum die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für das Handeln der Kerngruppe erforderlich macht – diese Voraussetzung erfüllen Koalitionen der ­Willigen in der Regel nicht. Die an einer Vertiefungsinitiative beteiligten Mitgliedstaaten müssten materielle, rechtliche und prozedurale Voraussetzungen erfüllen, die sich aus den Anforderungen und Bedingungen des jeweiligen Politikfelds ergeben. Daraus folgt auch, dass der Teilnehmerkreis verschiedener Vertiefungsinitiativen nicht notwendigerweise identisch wäre. Wahrscheinlich ergäbe sich jedoch eine substanzielle Schnittmenge. Die in allen Bereichen engagierten Mitgliedstaaten müssten entsprechend dafür sorgen, den Zusammenhalt einer so differenzierten Integration und der Europäischen Union insgesamt zu bewahren.

Informelle Koalitionen reichen nicht aus, um die oben genannten Initiativen umzusetzen, da sie keine verbind­lichen Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten herstellen. Jedoch helfen Ad-hoc-Gruppen in außenpolitisch sensiblen Bereichen wie beispielsweise dem Umgang in der Ukraine-Krise, bei dem Deutschland und Frankreich eine herausragende Rolle spielen, oder dem regelmäßigen Engagement mit Iran von Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Hier erscheint das Gewicht der einzelnen Mitgliedstaaten und die informelle Zusammenarbeit sinnvoll. Allgemein könnte die informelle Koalitionsbildung zu einem hilfreichen Instrument zum Agenda-Setting und der politischen Steuerung in einer ungleichen und anderweitig fragmentierten EU werden.

Zentren vertiefter Zusammenarbeit

Die Ergebnisse des EU28 Survey verdeutlichen das komplexe Geflecht, in dem Koalitionsbildung in der EU statt­findet. Einerseits lässt die Analyse durchaus Muster und Gruppen erkennen, andererseits belegt die Auswertung auch, dass Übereinstimmung oder gemeinsames Handeln stark vom jeweiligen Politikfeld oder Thema abhängt. Zwar heben die Daten die besondere Verflechtung und Rolle von acht Staaten hervor – Deutschland, Frankreich, Groß­britannien, Italien, Spanien Polen, die Niederlande und Schweden – doch bilden diese Staaten selbst noch keine Kerngruppe. Sicherlich gehören diese acht zum Zentrum der EU, wenn sie sich für ein Anliegen engagieren, doch sie bilden nicht selbst schon „das politische Zentrum“. Für die heutige EU weist die Auswertung des EU28 Survey kein einzelnes Zentrum über alle Politikfelder hinweg nach, sondern lässt verschiedene Konstellationen von Mitgliedstaaten erkennen, aus denen heraus jeweils Initiativen zur Koalitionsbildung entstehen könnten.

Die Untersuchung der Präferenzen und Erfahrungen der politischen Klasse der Praktiker und Experten der EU zeigt deutlich, dass jede erfolgreiche Koalitionsinitiative die Mitwirkung von großen EU-Staaten voraussetzt. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU könnten die Chancen der Koalitionsbildung steigen, da derjenige Staat unter den Großen Sechs ausscheidet, welcher am entschiedensten gegen eine weitere Vertiefung der Integration war, zugleich aber von zahlreichen anderen EU-Staaten als wichtiger Partner angesehen wurde und selbst eine starke Präferenz zugunsten informeller Koalitionsbildung aufwies.

Gemessen an den Partnerschaftsbeziehungen und den Interaktionsmustern könnte die Zusammenführung einer Initiativgruppe so geschehen: Als unverzichtbarer Mittelpunkt von Initiativen zeigen die Partnerschaftspräferenzen das deutsch-französische Tandem. Die beiden Staaten sind nicht nur untereinander eng verflochten und schätzen einander, es sind auch die beiden Staaten die von anderen EU-Mitgliedern am häufigsten als wichtige Partner genannt werden. Ohne Frankreich und Deutschland besitzen Koalitionen kaum Chancen ihre Position durchzusetzen. Frankreich würde in die Koalitionsbildung wahrscheinlich die eng verbundenen Staaten im Südwesten, vor allem Italien einbringen. Deutschland würde seinerseits versuchen, Polen für Initiativen zu gewinnen, aber auch den Kreis auf Staaten wie die Niederlande und Schweden ausweiten. Letztere könnten ihrerseits weitere Partner unter den kleineren EU-Staaten gewinnen, vor allem aus dem Kreis der Reichen Sieben oder den ostmitteleuropäischen Staaten. Aus Berliner Perspektive wäre zudem sinnvoll, einen weiteren Partner aus der Visegrád-Gruppe zu gewinnen, um die Reichweite der Koalition nach Osten zu sichern – dies könnte die Tschechische Republik oder die Slowakei sein.

Aus der Einsicht in derart verfasste Koalitionen resultiert der Bedarf nach politischen Räumen oder einem Umfeld, in dem Koalitionen der unterschiedlichsten Art zueinander finden, wo Positionen und Partnerschaften sondiert, Initiativen entwickelt und vermittelt werden. Ein solcher Raum ist kein physischer Ort, da etwa der Europäische Rat der Staats- und Re­gierungschefs, weder die nötige Zeit noch die Atmosphäre bietet. Formell einberufene Treffen im kleineren Kreis treffen stets auf Kritik und Ablehnung der unbeteiligten Staaten, wie die Reaktionen auf das Treffen Frankreichs, Deutschland, Italiens und Spaniens im März 2017 in Versailles belegen. Dies gilt umso mehr, wenn solche Treffen wiederholt oder regelmäßig stattfinden sollten.

Koalitionsbildung in der EU – ob rechtlich verbindlich verfasst oder informell angelegt – brauchen zu ihrer Entfaltung ein Koalitionsmilieu. Europa fehlt eine politische Mitte, in der Initiativen entstehen und gehegt werden können, in der potentiell Gleichgesinnte zueinanderfinden und ihre Positionen abstimmen. Das Koalitions-Milieu wäre eine virtuelle Koalition, eine Verabredung darüber, im Grundsatz einig zu werden und gemeinsame Antworten auf die politischen Herausforderungen Europas umzu­setzen, politische Initiativen zu entwickeln und umzusetzen, eine Quelle politischer Legitimation und des Rückhalts der EU-Institutionen zu sein, und nicht zuletzt ein Rahmen, der die politische Führung in der Steuerung einer EU im XXL-Format ermöglicht.

 


[1] Um eine „Hierarchie der essentiellen Partner“ zu erstellen, wurden die Daten auf dreifach gefiltert: Für jedes nationale Sample wurde die Nennung aus anderen Staaten in Prozent ausgegeben, z.B. 11 % der französischen Befragten nannten Belgien (14 % nannten Italien). Nennungen unterhalb der 5 Prozent-Grenze wurden verworfen. Nennwerte über 5 % wurden in vier Abschnitte aufgeteilt (5-9, 10-14, 15-19, 20 und höher). Die Werte für jedes Land wurden errechnet indem die Nennungen des jeweiligen Abschnitts multipliziert wurden (Abschnitt 5-9 % = 1; Abschnitt 10-14 % = 2 usw.) Länder mit einem Wert über 20 wurden dann im inneren Ring platziert, die im Bereich 10-19 wurden im mittleren Ring platziert und diejenigen mit einem Wert von 5-9 im äußeren. Um im inneren oder mittleren Ring platziert zu werden, mussten die Staaten von anderen Staaten im inneren Ring nominiert worden sein.

[2] Siehe Tabelle ie Befragten haben die Großen Sechs gemäß ihrem wahrgenommenen Einfluss auf die EU-Politik bewertet. Das Gesamtergebnis eines jeden Landes wurde auf eine Skala von 1 bis 6 übertragen, wobei ein hoher Wert eine Platzierung auf den vorderen Rängen anzeigt während ein geringer Wert auf eine hintere Platzierung deutet. Beispielsweise zeigt ein Wert von 6 an, dass alle Befragten das betreffende Land als am einflussreichsten bewertet haben. Das Land auf der vertikalen Achse bewertet das Land auf der horizontalen Achse, hohe Werte = „als Einfluss bewertet“. Rote und grüne Werte zeigen eine +/- 0,15 Punkte Abweichung vom Durchschnittswert der Beurteilung aller Befragten.

[3] siehe z.B. “#Eurobarometer: Europeans reveal what they want the EU to do more on”, EU Reporter, 5 Mai 2017, abgerufen auf https://www.eureporter.co/frontpage/2017/05/05/survey-europeans-reveal-what-they-want-the-eu-to-do-more-on/.

 

Die Expertenumfrage EU28 Survey und die Forschungsarbeit zu dieser Publikation werden über das Projekt Rethink: Europe von Stiftung Mercator gefördert.

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.