Europa unter Handlungsdruck

Artikel von Josef Janning: Wenn Europa scheitern sollte, dann nicht an der Flüchtlingskrise, sondern an der Unfähigkeit eine gemeinsame Lösung zu finden

Beitrag von Josef Janning bei deutschland.de

Die Migrationswelle stellt die EU vor große Herausforderungen. Europaexperte Josef Janning über die europapolitischen Bausteine für eine gemeinsame Antwort.

„Die große Fluchtbewegung nach Europa ist die dritte große Probe auf Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) im Jahr 2015. Im Januar des Jahres eskalierte der Krieg im Osten der Ukraine. Die Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident François Hollande zu einem zweiten Minsker Abkommen erreichte ein Ende der Kampfhandlungen und bewahrte die Einigkeit der Europäer im Umgang mit Russland. Im Sommer 2015 wurde Griechenland innerhalb der Regeln und Institutionen der Eurozone vor dem finanziellen Zusammenbruch bewahrt. Auch hier hat die ebenso beharrliche wie geduldige Position der Bundesregierung entscheidend zum Politikwechsel in Athen beigetragen.

Wie die beiden anderen Herausforderungen ist auch die Migrationswelle eine Krise mit Ansage. Schon 2014 kamen über 200 000 Asylbewerber nach Deutschland, 2015 waren es bis Jahresende knapp eine Million. Mit ihrer Entscheidung vom September, Flüchtlinge in Deutschland in größerer Zahl aufzunehmen, hat die Bundesregierung eine neue Lage für die EU geschaffen. Deutschlands große humanitäre Geste hätte eine wirksame ­Entlastung der Ankunftsstaaten Griechenland und Ungarn sowie der Transitstaaten erreichen können, wenn es gleichzeitig gelungen wäre, die Außengrenzen des Schengen-Raums, innerhalb dessen es keine stationären Grenzkontrollen gibt, zu schließen, die Türkei zu einer Änderung ihrer Flüchtlingspolitik zu bewegen und die Kampfhandlungen in Syrien zu beenden. Das überforderte Dublin-System, das die Asylverfahren auf die Einreisestaaten konzentriert, hätte überarbeitet und ein Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge eingerichtet werden können. Diese Begleitbedingungen eines Erfolgs wurden nicht erfüllt und die Dynamik der Zuwanderung hat einen Entscheidungsdruck erzeugt, der die EU-Staaten überforderte. So hat der Versuch, die Krisenlage zu entschärfen, zu einer Vertiefung der politischen Konflikte in der EU geführt. Zum ersten Mal rücken die EU-Staaten in einer Krise nicht zusammen.

Sichtbarstes Zeichen der neuen Lage 
ist, dass die per Mehrheitsentscheidung durchgesetzte Verteilung von nunmehr 160 000 Flüchtlingen aus Ankunftsstaaten der EU von den Mitgliedsstaaten selbst bestenfalls ansatzweise umgesetzt wird. Drei Lager kennzeichnen den Konflikt innerhalb der EU: zum einen am stärksten vom Flüchtlingsstrom betroffene Staaten auf der Linie von Kroatien bis Schweden, zum zweiten die Gruppe der ostmitteleuropäischen EU-Staaten, zumeist Länder ohne Einwanderungstradition und Integrationspolitik, zum dritten die übrigen Staaten in Westeuropa, die abseits stehen wie Großbritannien, das nicht Mitglied des Schengen-Raums ist, oder die sich eher passiv verhalten in der Hoffnung, größeren innenpolitischen Belastungen entgehen zu können.

Es klafft eine deutliche Lücke zwischen den Initiativen auf europäischer Ebene und der Bewältigung der großen Zahl von Flüchtlingen, die eine würdige, soziale und gerechte Aufnahme verdienen – das eine wirkt mittel- bis längerfristig, das andere muss sofort geschehen und erfolgreich sein, um den sozialen Frieden in Staaten wie Deutschland, Österreich oder Schweden zu bewahren, in denen heute zwei von drei aller weltweit gestellten Asylanträge eingereicht werden.

Die Elemente einer europäischen Regelung der Flüchtlingskrise sind in den Hauptstädten der EU erkannt, doch ihre Umsetzung ist bislang Stückwerk. Fünf Bausteine müssten dazu ineinandergreifen. Erstens: Europa braucht Solidarität nach innen. Dazu gehört die konsequente Anwendung der bestehenden Regeln wie eine verlässliche Entlastung besonders betroffener Staaten. Viele Experten hat überrascht, dass die EU-Staaten vor Jahren die Zusammenarbeit im Bereich der Justiz und des Inneren vertieften. Dabei wandten sie Elemente der Gemeinschaftsmethode an. Bei diesem Beschlussfassungsverfahren stehen die supranationalen Institutionen im Vordergrund, obwohl gerade der Bereich Justiz und Inneres stark intergouvernemental – das heißt von hoher nationalstaatlicher Entscheidungskompetenz – geprägt blieb. Nun zeigt sich die Schwäche des Misch­systems in mangelnder Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse. Zweitens: Die EU, zumindest jedoch der Schengen-Raum, bräuchte eine gemeinsame Grenzsicherung nach außen, die von allen Beteilig­ten getragen wird. An den Grenzen benötigte die EU entsprechend ausgerüstete Aufnahmezentren, in denen Flüchtlinge versorgt und registriert werden. Dort würde ihr Asylbegehren geprüft, von dort gelangten sie nach einer Entscheidung weiter in die EU oder zurück in das Herkunftsland.

Drittens: Auf Krisen und Kriege in ihrer Nachbarschaft müssten die Europäer früher und konsequenter reagieren. Die EU braucht eine humanitäre Einsatztruppe zur sichtbaren Ergänzung der Hilfe der Vereinten Nationen, um Flüchtlinge in der Region gut zu versorgen. Über­fordert die Lage die Nachbarstaaten, könnten die EU-Staaten Kontingente vereinbaren, zum Beispiel mit der Türkei, in deren Rahmen Flüchtlinge geregelt direkt aus den Partnerstaaten in die EU gelangten. Im Gegenzug müssten die so entlasteten Nachbarn ihre Außengrenze wirksam kontrollieren und Schleusern das Handwerk legen. Viertens: Eine ­vorausschauende Krisenreaktionspolitik bietet den besten Ansatz zur Beeinflussung der Fluchtursachen. Dazu benötig­ten die Europäer gemeinsame wirt­schaftliche, finanzielle, diplomatische und militärische Mittel sowie den Willen, Konflikte in ihrer weiteren Nachbarschaft zu lösen, Kriege politisch zu verhindern oder zu beenden, und andere Staaten oder externe Mächte zu konstruktivem Engagement zu bewegen. Fünftens: Die EU benötigt eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik, in deren Rahmen sie auch den Lastenausgleich unter den Mitgliedsstaaten regeln kann. Zu oft wird das Asylverfahren zum Ersatz fehlender Möglichkeiten der geregelten Einwanderung.

Gemeinsames Handeln entlang dieser fünf Linien fällt schwer unter dem Druck der großen Zahl von Flüchtlingen in wenigen Staaten, angesichts von Angst und Ablehnung in Teilen der europäischen Gesellschaften und unter den Attacken populistischer Parteien in vielen Staaten, die den Bürgern das Heil durch die Rückgewinnung nationaler Souveränität zulasten der EU versprechen. Kommt nicht mindestens ein Paket mit wichtigen Teilen dieser Bausteine zustande, geht die EU einer ungewissen Zukunft entgegen. Zerfällt Schengen, leiden auch der Binnenmarkt und die Währungsunion. Wenn Europa scheitert, dann nicht an der Zahl der Flüchtlinge, sondern an der Unfähigkeit der Politik eine gemeinsame Antwort zu finden.“


Der Artikel von Josef Janning erschien am 30. Januar 2015 bei deutschland.de und kann in neun Sprachen online gelesen werden.

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